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Kapitel 2

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Montag, 13. Dezember 2010, 07:08

Kommissar Gian Meyer stand in seinem Badezimmer vor dem Spiegel und rasierte sich seinen graumelierten Dreitagebart ab. Das dunkle Haar hatte bereits vor dem Alter kapituliert und hatte den Rückzug in einen schmalen Haarkranz am Hinterkopf angetreten, einen Haarkranz, den Meyer jeweils rigoros abrasieren lässt. Hinter vorgehaltener Hand wird Meyer oftmals als Zürcher Version von Bruce Willis bezeichnet, obwohl Meyer niemals auf die Idee kommen könnte, wie John McClane in „Stirb langsam“ im weissen Unterhemd herumzurennen. Manche Kollegen liessen es sich unter Alkoholeinfluss nicht verkneifen, diesen Vergleich am Stammtisch zu ziehen – selbstverständlich bei Anwesenheit Meyers. Doch Meyer ist dies egal, es erfüllte ihn gar mit Stolz, mit Bruce Willis verglichen zu werden, denn seiner Meinung nach stimme der Vergleich überhaupt nicht. Es hätte auch schlechter kommen können: Der Chefpathologe des Forensischen Dienstes, Dr. Furrer, war laut den Stammtischkollegen angeblich Osama Bin Laden wie aus dem Gesicht geschnitten. Ob wahr oder nicht, darüber liesse sich streiten und Meyer hielt sich am liebsten aus solchen seiner Ansicht nach unter der Gürtellinie befindenden Diskussionen heraus.

Meyers Badezimmerfenster bot einen fantastischen Blick über den Zürichsee. In den rechten Augenwinkeln konnte man die Glarner Alpen ausmachen, und auch, dass sich der Himmel über den Bergwipfeln leuchtend feuerrotorange über den ziemlich genau im Osten von Meyer ausgesehenen gelegenen Gipfeln aufgehenden Sonne gefärbt hat. Meyer hatte sich vor knapp vier Jahren nach seiner Scheidung von Gertrud mit dem Ersparten von knapp 20 Dienstjahren bei der Zürcher Kripo und Interpol diese Wohnung in Hanglage ob dem Zürichsee in Horgen gekauft. Früher hatte er eine Mansardenwohnung in Gertruds Elternhaus mitten in Oerlikon bewohnt. Hier in Horgen schätzte er vor allem eins: Ruhe und Abgeschiedenheit, und trotzdem lebte er nicht am Ende der Welt.

Das Badezimmer selbst war für Schweizer Verhältnisse normal eingerichtet. Hinter einer milchigen Plexiglaswand befand sich eine Dusche mit – wie Meyer immer stolz erzählte, einer Chromstahlbrause, zudem eine perfekt in die Plättchenwand eingelassene Badewanne, eine Toilette und zwei Spülbecken. Meyer nutzte generell nur eines. Auch zwei der drei Badezimmerschränke, die allesamt mit einem Spiegel versehen wurden, waren leer. Das einzige, was den Kommissar störte, war dass die sanitären Einrichtungen wie die WC-Schüssel oder die Badewanne in feurigem Rot gehalten wurden, während der Rest des Zimmers weiss war.

Meyer sah sich im Spiegel an, dann pustete er die kurzen Härchen in den Ausguss und liess den Wasserhahn laufen. Durch das Rauschen hindurch überhörte er beinahe das Klingeln seines Telefons.

Barfuss tappte er über die Fliesen zur Tür und dann auf dem Parkettboden zum Wohnzimmer, wo das schnurlose Telefon auf einem hohen, kreisrunden Tisch lag. Die Station war sonst irgendwo im Haus, verborgen unter einem gigantischen Haufen Altpapier, aber solange das Signal noch funktionierte, war kein Aufräumen angesagt. Auf der mittleren Ebene des Tischchens, unter der Platte, leuchtete das hellgrüne Lämpchen des WLAN-Routers, welcher Meyers Wohnung samt Wintergarten gänzlich mit Internet versorgte. Dadurch musste der Kommissar nicht immer aufpassen, dass er nicht gerade die Telefonbuchsen mit Möbeln zusperrte. In der alten Wohnung in Oerlikon war genau das immer zum Problem geworden, zumal Gertrud gegen die Einrichtung eines drahtlosen Netzwerks war, da sie allfällige Schäden durch die Strahlungen befürchtete.

Meyer nahm das Telefon in die linke Hand und hielt es ans Ohr.

„Ja? Meyer am Apparat?“

„Hey Gian!“, Meyer erkannte die Stimme sofort. Es war Steiner, der die Ermittlungsarbeiten in Winterthur besser zu verdauen schien als der alte Hase Meyer, „du hast was zu tun. Eine Leiche am Sihlquai. Estermann hat den Fall uns gegeben!“

„Eine Nutte?“, erkundigte sich Meyer.

„Erraten! An der Kasernenstrasse kannste die Unterlagen abholen. Estermann hat uns die Ermittlungen übertragen und der Hausdrache leitet die Voruntersuchung!“ Mit ‚Hausdrache’ war Staatsanwältin Dr. Elisabeth Göhner gemeint.

„Ich komme sofort!“, rief Meyer und beendete den Anruf.

Meyer hatte im Zuge seines Umzugs nach Horgen mit seinem Büro vereinbart, dass er per sofort den Weg zum Polizeipräsidium nur noch im Ermittlungsfalle per Wagen antreten wird. Dieses ewige und lästige Im-Stau-stehen schlug an seine Substanz, so dass er bereits gestresst bei der Arbeit eintraf. Mit zunehmendem Alter genoss er es vielmehr, das Generalabonnement zu erstehen und damit per S-Bahn nach Zürich zu ruckeln und sich mit den Schlagzeilen der Pendlerzeitung vertraut zu machen, ohne auch nur einen Schweisstropfen zu verlieren. Wenn es unbedingt notwendig – laut Meyer „unausweichlich“ – war, dass er per Auto kam, so wurde er am frühen Morgen jeweils per Telefon informiert.

Er nahm wohl den Mantel etwas zu eilig vom Haken, denn der hölzerne Hutständer schwankte bedrohlich, verlor schliesslich das Gleichgewicht und landete genau auf einer alten chinesischen Ming-Vase, die ein Antiquar vor drei Wochen unten in Oberrieden abgelehnt hatte. Blau/Weiss, die Farben von GC, dem FC Zürich und dem FC Luzern, gehörten bei ihm als leidenschaftlicher FC Basel-Fan nicht in den Laden. Meyer, der seit seinem Kreuzbandriss und dem Karrierenende bei der U15-Juniorenmannschaft des Churer Fussballvereins nicht gerade gut auf Fussball zu sprechen war und seit dem Auftreten des Basler Goldhühnchens Gigi Oeri dem Schweizer Klubfussball nicht einen feuchten Kehricht mehr abgewinnen konnte, war wieder abgerauscht.

Nun lag diese Vase in unzähligen Einzelsplittern auf dem Teppichboden. Meyer fluchte, drehte um und zerrte den Staubsauger aus dem Besenschrank. Als er den Stecker eingestöpselt hatte und den Sauger laufen lassen wollte, merkte er, dass die Steckdose Wackelkontakt hatte.

„Wie viel geht heute denn noch schief?“, knurrte er und steckte den Strecker um. Endlich!

Knirschend flogen die Porzellansplitter die metallene Röhre des Staubsauger-Ansatzes hoch.

Als Meyer merkte, dass er schon genug Zeit verloren hatte, liess er den Staubsauger Staubsauger sein und verliess die Wohnung.

Meyer stieg in seinen Audi RS6 – ebenfalls ein Zeugnis seines guten Einkommens und nebst der Wohnung der einzige geleistete Luxus – und startete den Motor.

Dreissig Minuten später – davon mindestens 18 im Stau – verliess Meyer in Wiedikon den Autobahnzubringer A3W und rollte an der Sihl entlang zum Kantonalen Polizeigebäude an der Kasernenstrasse. Er parkte den Wagen unmittelbar vor dem Eingang und trat ein. An der Kreuzung Manessestrasse/Schimmelstrasse, als Meyer vor einem Rotlicht warten musste, ging eine Gruppe von sechs Jugendlichen, kaum älter als 16, vom Trottoir auf die Strasse, um Meyers Wagen zu bestaunen.

Einer der Jugendlichen klopfte auf der Beifahrerseite an die Scheibe. Als Meyer den Kopf umdrehte, vollführte der Junge mit der rechten Hand eine Kurbelbewegung.

Meyer verstand, lehnte über den Beifahrersitz und liess per Knopfdruck die Scheibe herunter.

„Starke Karre, Mann!“, sagte der Junge und lächelte. „Oh Mann, sogar Ledersitze!“

„Danke!“, erwiderte Meyer, liess die Scheibe wieder hochfahren, blickte nach vorne und als er gesehen hatte, dass das Lichtsignal auf Grün gesprungen war, gab er Gas. Langsam bremste er und hielt er direkt vor dem Eingang des Polizeipräsidiums an der Kasernenstrasse 29, unweit vom Hauptbahnhof gelegen. Die Fassade war vergangene Freitagnacht von FCZ-Anhängern bei ihrem Streifzug durchs Langstrassenquartier mit blauen Schriftzügen versprayt worden.

Fräulein Roggenmoser, die ledig gebliebene, aber in die Jahre gekommene Empfangsfrau der Kapo Zürich winkte ihm von weitem entgegen.

„Kommissar Meyer, Kommissar Meyer! Kommen Sie! Kommen Sie“, keifte sie mit so lauter Stimme, dass alle im Foyer aufhaltenden Personen den Kopf in Richtung ihres Tresens drehten.

Als Meyer an den Empfangsschalter trat, übergab sie ihm feierlich ein mit Papier vollgestopftes Mäppchen.

„Alles klar, Herr Kommissar?“, fragte sie. Dieses Zitat des von ihr verehrten österreichischen Sängers Falco war ihr Markenzeichen. Eine im Präsidium kursierende Legende besagt, dass sich Fräulein Roggenmoser nach Falcos Unfalltod in der Dominikanischen Republik 1998 gleich für eine Woche krankschreiben liess.

Meyer lehnte sich lässig an den Tresen, packte das Mäppchen und blätterte rasch durch die Akten.

Läck Bobby“, entfuhr es ihm, „so einen Papierkram. Wann wurde die Leiche gefunden?“

„Laut Ramon vor einer dreiviertel Stunde. Sie sind spät dran heute! Der Forensische Dienst ist bereits vor Ort!“

„Bereits so viel Altpapier nach 45 Minuten?“

„Naja, Ramon sagt, die beiden Beamten der alarmierten Stadtpolizei hätten einen genauen Beschrieb des Tatortes abgegeben!“

Meyer blätterte durch die Unterlagen. „Einen sehr genauen“, berichtigte er.

„Kaffee?“

Meyer hatte keine Gelegenheit, abzulehnen, denn Roggenmoser hatte, während die die Frage gestellt hatte, eine Tasse der dampfenden Moccabrühe auf den Tresen gestellt. Dankend nahm er einen Schluck und verbrühte sich fast die Zunge.

„Verdammt!“, fluchte er.

Fräulein Roggenmoser lachte.

Schweigend stellte er die noch halbvolle Tasse zurück und nickte zum Abschied.

Meyer entschied, den kurzen Weg zum Tatort zu Fuss zu absolvieren. Mit dem Wagen hätte er den Hauptbahnhof umrunden müssen, als Fussgänger konnte er diesen queren.

Während dem Spaziergang blätterte er den Bericht vom Fundort durch. Opfer ist eine junge Prostituierte, zwischen 18 und 25 Jahre alt. Aufgefunden in einem Wohnwagen. Ohne Papiere. Tod durch Messerstich – jedoch keine Spur von der Tatwaffe. Der Satz „Die Leiche wurde vom Vorgesetzten der Toten entdeckt“, liess Meyer zu einem Grinsen hinreissen.

„Zu verklemmt, um „Zuhälter“ zu schreiben, oder was?“, murmelte er leise.

Weiters enthielt der Bericht, dass beim ersten Überblick des Fundortes keine Papiere und sonstige Hinweise auf die Identität des Opfers gefunden wurden. Die Leiche ist mindestens seit ein Uhr in der Früh tot, so eine erste Blutanalyse.

Der Kommissar trat auf den Bahnhof Sihlpost zu. Linkerhand ragten rund zehn rote und gelbe Baukräne in die Höhe, welche Tag für Tag die Grossüberbauung Europaallee in den Stadtzürcher Himmel hochzogen. Zur Stunde waren die Arbeiten wieder voll im Gange, hunderte Bauarbeiter in ihren orangefarbenen Leuchtwesten kletterten über die Gerüste.

Meyer liess sich per Rolltreppe zur Passage Sihlquai hinunterbefördern, der westlichen Hauptunterführung des HB’s. Gähnend liess er hastende Reisende links überholen. Inmitten der Hauptverkehrszeiten herrscht hier stets ein grosses Gedränge, so auch an diesem Tag. Der Kommissar verzichtete auf ein Weiterlesen und konzentrierte sich stattdessen darauf, der hastigen Meute auszuweichen. Gelegentlich spürte er den Zusammenprall mit ausgefahrenen Ellenbogen und wäre beinahe über einen Barbie-Minirollkoffer eines kleinen Mädchens gestolpert. Bei jedem Aufgang zu einem Bahnsteig zeigten zwei blaue Zugzielanzeiger die Destination an. Man merkte, dass Zürich nicht nur national, sondern auch international ein Verkehrsknoten war, denn zwischen den Dialekten aus Bern, Wallis, St. Gallen oder Graubünden waren auch Brocken von Fremdsprachen zu verstehen. So fragte zum Beispiel ein Geschäftsmann auf Französisch nach den Abfahrtszeiten des nächsten TGV nach Paris. Sobald Meyer an einem Aufgang vorbeiging, drangen Wortfetzen zu ihm durch. „Nach Konstanz Gleis 7, nach Sargans–Landquart–Chur, Gleis 6, nach Stuttgart, Gleis 18“, und so weiter und so fort. Am Aufgang zum Bahnsteig mit dem abfahrbereiten InterCity nach St. Gallen stand ein hagerer Mann mit seitlich gekämmtem gräulichen Haar im weissen Hemd und einer weinroten Weste mit einem Glas Milch in der Hand und liess in seinem St. Galler Dialekt seine Umwelt wissen, dass er seine Mutter suche, die doch nur ein zweites Glas Milch für ihn holen wollte. Ein paar Reisenden drehten den Kopf zu ihm um, aber Meyer war sich sicher, sobald sie den Aufstieg zum Bahnsteig hinaufhasteten oder gar sich ins Gedränge um einen Sitzplatz stürzten, hatten sie den St. Galler und sein angeblich bemitleidenswertes Schicksal bereits wieder vergessen.

Erleichtert atmete Meyer auf, als er am Nordende des Bahnhofs vor der Rolltreppe auf Erdniveau stand. Er atmete zweimal durch, ehe er auf die Rolltreppe trat, die ihn nach oben brachte. Oben verliess er den Bahnhof am Kiosk beim Seitenbahnsteig Gleis 18 und grüsste zwei Beamte der Stadtpolizei, welche mit ihrem Schäferhund patrouillierten und vermutlich nach der Tatwaffe suchten. Meyer überquerte die Museumstrasse am westlichen Brückenkopf der die Sihl überspannenden Zollbrücke und bog dann rechterhand auf den Sihlquai ab, wo Polizeisperren, Streifenwagen und die zunehmende Anzahl Stadt- und Kantonspolizisten den Tatort bereits von weitem ankündigten.

Der Sihlquai ist schweizweit als Strassenstrich bekannt. Sobald die Dunkelheit über Zürich eingebrochen ist, erwecken die geparkten Wohnwagen zum Leben und Prostituierte versammeln sich über die gesamte Strasse. Die Stadt Zürich sucht seit Jahren nach einer Lösung, zumal sich die Anwohner zunehmend unwohl fühlen. Denn die Prostituierten gingen ihrem Geschäft immer seltener in den Wohnwagen oder in den Wohnungen der Freier nach, immer mehr treiben es in den Vorgärten der Anwohner. Meyer hatte das von Steiner erfahren, der selber vor kurzem am Sihlquai eine Wohnung bezogen hatte. Ironischerweise lag genau am gegenüberliegenden Sihlufer der berühmt-berüchtigte Platzspitz am Zusammenfluss von Sihl und Limmat. Dieser wiederum war in den Siebziger- und Achtzigerjahre DER Treffpunkt für Drogensüchtige. Als sich dann diese Welle sich bis zum Shopville im Hauptbahnhof verbreitet hatte, wurde kurzer Prozess gemacht und mit der Schliessung für die Öffentlichkeit der Platzspitz 1992 drogenfrei gemacht, woraufhin der ganze Tross an den Bahnhof Letten an der seit der Hirschengrabentunnel-Eröffnung 1989 stillgelegten SBB-Strecke HB–Stadelhofen umzog, wo die ganze Krise wieder von vorne begann. Meyer erinnerte sich an die finale der Polizeiaktionen 1995, bei der sich die damalige Vorsteherin des städtischen Sozialdepartements, Emilie Lieberherr, vor die schwer bewaffneten Beamten gestellt hatte und der Polizei unmissverständlich weisgemacht hatte, dass diese Aktion sinnlos sei und die Drogensüchtigen in die Wohnquartiere treibe. Meyer, der diese Aktion in einer Nachrichtensendung des damaligen Fernsehens DRS verfolgt hatte, erinnerte sich wie er damals unweigerlich schmunzeln musste. Auf Lieberherr ging bis heute die kontrollierte Heroinabgabe zur Prävention zurück. Bei seiner Vereidigung als Kripochef 2000 war sie auch zugegen gewesen und hatte ihm einen Wunsch auf den Weg gegeben: Behandeln Sie alle gleich, Herr Meyer. An dieses Credo versuchte sich der Kommissar bis heute zu halten, auch wenn er sich bisher nicht mit Drogendramen wie anno dazumal auseinandersetzen musste. Denn bis vor wenigen Jahren jedenfalls war Ruhe eingekehrt – damals hatte sich wieder eine Szene in diesem Park vor dem Landesmuseum aufgebaut, jedoch viel kleiner als zuvor – und sie erhitzte auch nicht die Gemüter und löste schon gar nicht Grosseinsätze der Polizei aus.

Meyer überstieg die Polizeisperre aus Plastik und ging auf die kleine Menschengruppe, bestehend aus drei Männern, zu. Einer dieser Männer war Ramon. Er ging auf ihn zu und begrüsste ihn mit Handschlag. Steiner antwortete mit einem Niesen.

„Nette Begrüssung!“, bemerkte Meyer.

Steiner sah ihn entschuldigend an. „Nur ein Schnupfen. Ist ja schliesslich auch Winter!“

Der Kommissar grinste.

Meyer – mit 59 bald im Alter der Altersreduktion angelangt – soll in seinen letzten Dienstjahren die Kriminalfälle im Gebiet der Stadt Zürich und der nahen Umgebung gemeinsam mit Steiner lösen, damit dieser für die Zukunft ein stabiles Fundament als neuer Kriminalkommissar vorweisen kann. So wollte das Polizeipräsident Estermann mit tatkräftiger Unterstützung der Staatsanwältin Dr. Elisabeth Göhner. Der Mord an der Jugendlichen in Winterthur sollte sein letzter in anderen Gebieten des Kantons gewesen sein, trotz seiner Funktion als Kripochef. Nach anfänglichem Murren hatte Meyer zugesagt, nicht ohne sich jedoch eine gewaltige Gehaltserhöhung aufs Lohnkonto zuschreiben zu lassen – der Bonus für gelöste Fälle, wie er es zu pflegen nannte. Meyer höchstpersönlich hatte Steiner unter knapp sechzig Bewerbern als seine Nachfolge auserkoren.

„Gian, das sind Stadelmann und Hänzi von der Stapo. Haben mit mir die Polizeischule gemacht“, stellte Steiner die beiden anderen Uniformierten vor. Steiner war, genauso wie Meyer, in Zivil. Dicke Handschuhe, eine Wollmütze und ein grauer Baumwollschal schützten den Jungpolizisten vor der eisigen Kälte.

„Und das ist“, Steiners Schauspielkunst erreichte feierliche Höchstwerte, „der berühmte Zürcher Kriminalkommissar Gian Meyer!“

Doch Hänzi und Stadelmann schienen von der Koryphäe Meyer sichtlich unbeeindruckt.

„Ich hoffe, dass Sie mit den Fakten vertraut sind, welche wir Ihnen zukommen liessen, Herr Kommissar“, bemerkte Hänzi leicht säuerlich. Meyer erinnerte sich, dass sich der Beamte ebenfalls als neuer Kriminalbeamter beworben hatte. Nach Steiners Wahl ging in Zürcher Polizeikreisen das Gerücht um, Meyer hätte nur Steiners Akte gelesen und die anderen übergangen. Was nicht der Wahrheit entspricht, denn Meyer konnte sich jederzeit an jedes Detail jedes Bewerbenden erinnern. So auch daran, dass der Chefdozent der Polizeischule unter der Überschrift „Bemerkungen“ auf Hänzis Bewerbungsformular die Worte „Konsumiert gerne Internetpornografie über das iPhone während der Vorlesung“ hinzugefügt hatte. Von Steiner hatte Meyer erfahren, dass dieses Hobby aufgeflogen war, nachdem Hänzi versäumt hatte, die Lautsprecher seines Smartphones auszuschalten. Am Sihlquai verzichtete er jedoch auf eine Bemerkung in Bezug auf diese Angelegenheit.

„Ja, habe ich“, sagte er stattdessen. „Die Leiche wurde vom Vorgesetzten der Toten, Mario Calvaro, entdeckt, haben Sie im Bericht festgehalten“. Auf Gänsefüsschen mit den Fingern bei „Vorgesetzten“ verzichtete Meyer ebenfalls, obwohl er brennende Lust verspürt hatte.

„Ja“, antwortete Hänzi, der offenbar das Sprechen auch für Stadelmann übernommen hatte. Er wies auf den stämmigen Mann mit gegeltem Haar, welcher rund 10 Meter von den Beamten entfernt auf einer leeren Harasse sass, eine Zigarette rauchte und der Spurensicherung zusah, welche um den Wohnwagen herumschwirrten.

„Das ist…“

„Mario Calvaro, kennen wir“, unterbrach Meyer den (zu) übereifrigen Hänzi.

„Möchten Sie die Leiche sehen?“ Endlich hatte sich auch Stadelmann zu Wort gemeldet. Hänzi schwieg beleidigt.

Meyer nickte.

„Gerne“

Die Vierergruppe setzte sich langsam in Bewegung und gesellte sich zu den Beamten der Spurensicherung, welche in ihrem weissen Ganzkörperanzug gerade die Tür des Wohnwagens unter die Lupe genommen haben und das Schloss auf Kratz- oder sonstige Einbruchspuren untersuchten. Einer pinselte gerade schwarzes Pulver auf das Schloss und trat zur Seite.

„Was gefunden?“, wollte Hänzi wissen.

„Nein, noch nicht“, antwortete der Beamte und wandte sich wieder dem grossen Pinsel zu. Der Wohnwagen – der äusserlich wie ein Sanierungsfall aussah – stammte aus den Siebzigern und hatte die für damals typische Eierform. Die Räder der beiden Achsen wurden abmontiert, stattdessen stand das Vehikel auf zwei kräftigen Holzpfeilern, die an den ehemaligen Achsenstellen den Wohnwagen aufstützten. Zum Eingang führte eine rostige Eisentreppe. Meyer, Steiner, Hänzi und Stadelmann betraten den Wohnwagen durch die offene Tür. Das Innere des Wohnwagens war total umgebaut. Statt der kompletten Einrichtung mit Küche, Toilette und Wohnzimmer bestand der gesamte Raum aus einem grossen Bett. Die beiden kleinen quadratischen Fenster des Wohnwagens waren mit weinroten Vorhängen vollständig bedeckt, so dass das Tageslicht nur gedämpft in den Raum drang. An der Wand hingen zwei Bilder, eines zeigte eine rote Kutsche in einer grünen, vermutlich aus Weinreben bestehenden Landschaft, gezogen von zwei Schimmelpferden, das andere war eine billige Reproduktion von Van Goghs Gemälde über die gelbe Brücke im französischen Arles.

Links vom Bett ging eine Tür ab. Steiner öffnete sie und hielt danach unter Prusten die Nase zu. Beissender Gestank erfüllte den Raum. Eilig zog sich der Beamte Gummihandschuhe über.

„Diese Toilette stinkt zum Himmel!“

Das Innere der Toilette war extrem unhygienisch. Die Schüssel selbst war mit schmutzigbraunen Flecken versehen. Der letzte Benutzer hatte jedenfalls nicht heruntergespült, lange Kotwürste schwammen im Wasser. Ein angeekelter Steiner drückte mit dem Finger auf die Spüle, wich aber angeekelt zurück. Selbst dort hatte sich Schmutz angesiedelt. Eine Dusche oder eine Badewanne suchte man hier vergebens, dafür befand sich am Waschbecken eine Zahnbürste, aber keine Zahnpasta. Als Steiner versuchte, Wasser aus dem Hahn zu lassen, kam nur ein saugendes Geräusch. Daraufhin führte Steiner den Finger in den Hahn, und als er ihn wieder herauszog, war der Gummihandschuh mit Kalkbrocken übersät.

„Mein Gott, da ist Analfingering ja noch angenehmer!“, bemerkte er.

„He, Meyer! Sieh dir das mal an!“, rief er wenig später durch die halb offene Toilettentür.

Als Meyer nicht reagierte, rief er dessen Namen noch einmal.

Nachdem wieder keine Reaktion eingetreten war, ging Steiner aus der Toilette und schlug die Türe zu.

Meyer starrte hochkonzentriert auf das mit samtroten Kissen bedeckte Bett. Steiner erstarrte, als sein Blick demjenigen von Meyer folgte.

Die Tote war knapp bekleidet. Zu Lebzeiten war sie ein sehr schönes Mädchen gewesen. Ihre Gesichtszüge waren mit einer fast unnatürlichen Symmetrie gesegnet. Ihr hellbraunes Haar sowie die reine Haut auf den langen Beinen, dem flachen Bauch und dem schönen Gesicht schimmerten kupferfarben in der durch das Wohnwagenfenster eindringenden Sonne. Sie lag auf dem Bett, den Kopf zu den Beamten gedreht. Ihre Augen waren weit geöffnet. Auf dem Boden hatte sich eine Pfütze aus Blut gebildet, welche beinahe eingetrocknet war und mit dem Staub des Bodens hässliche dunkelrote, fast schwarze Klumpen bildete.

Unter ihrer rechten Brust war deutlich die Stichstelle des Messers zu sehen – der einzige Schandfleck an ihrem sonst so perfekten Körper. Unsanft wurden die Haut und das Fleisch abrupt auseinander gerissen. Doch was Meyer erstarren liess, waren zwei senkrechte Schnitte auf ihrer Stirn.

Strich

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