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Kapitel 3

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13. Dezember, 08:45

Emmanuel Menevoie hüpfte von einem Fuss auf den anderen als er vor der markanten Glaspyramide im Hof des Pariser Louvre wartete. Da die vom ehemaligen französischen Staatspräsidenten François Mitterand in Auftrag gegebene Pyramide den Eingang des Kunstmuseums markierte, huschten stets unzählige Touristen mit ihren Fotoapparaten an ihm vorbei, welche die horrenden Preise nur bezahlten, in der Hoffnung, einen Blick auf Kunstwerke wie die Mona Lisa oder die Venus von Milo erhaschen zu können. Menevoie ertappte sich immer wieder beim Versuch, den Kontaktmann in der Menschenmenge zu erkennen. Nervös starrte er im Zehnsekundentakt auf die Uhr. Um halb neun sollte er hier auf seinen Kontaktmann warten, doch der liess sich nicht blicken.

Erschrocken wich er einen Schritt zurück, als plötzlich sein Mobiltelefon zu klingeln begann.

Mit zittrigen Fingern holte er das Telefon aus der Hosentasche.

„Ja, bitte?“, meldete er sich.

„Emmanuel Menevoie?“, fragte eine unbekannte Stimme mit russischem Akzent.

„Ja?“, entgegnete Menevoie verblüfft.

„Haben Sie die Information?“, fügte er an.

„Wollen Sie sie?“

„Natürlich!“

„Ausgezeichnet! Gehen Sie bitte zur Place de la Concorde!“

„Aber…“

Der Anrufer am anderen Ende der Leitung legte auf. Menevoie zuckte mit den Schultern.

Sein Herz klopfte bis zum Hals, als er losging.

Hätte er nein gesagt, wäre er binnen wenigen Minuten tot gewesen.

Unter dem Arc de Triomphe du Carousel atmete er tief durch. Der aus rotem Stein erbaute Triumphbogen stand in einer Geraden mit seinem weitaus berühmteren Pendant auf der Place de l’Etoile und mit dem in den späten Achtzigerjahren erbauten Grand Arche im Büroviertel La Défense. Dann nahm er seinen gesamten Mut zusammen und schritt durch die Tuilerien. Trotz der frühen Uhrzeit und des winterlichen Wetters begegnete er doch einigen Spaziergängern. Der Winter hatte Nordfrankreich und insbesondere die Pariser Metropolregion Ile de la France fest im Griff. Am Flughafen Roissy-Charles de Gaulle müssen täglich knapp die Hälfte aller Flüge gestrichen werden, eine Besserung bis zu den Weihnachtsfeiertagen sei nicht in Sicht, heisst es in Mitteilungen der französischen Verkehrsbehören.

Auf der Place de la Concorde schaute er sich um, um hinter den Monumenten einen allfällig verdächtig aussehenden Mann zu erkennen. Vor sich startete die achtspurige Champs-Elysées ihren schnurgeraden Weg zur Place de l’Etoile, der Arc de Triomphe war im Schneetreiben gerade noch zu erkennen.

Menevoie war nervös und atmete hastig. Immer mehr bereute er seine Taten. Eigentlich war er im Sozialministerium Frankreichs engagiert, um sich vor allem für die Bevölkerung der Banlieues von Paris, Lyon und Marseille zu engagieren, hatte aber mit leichten Gesetzesverstössen sein doch eher spärliches Gehalt aufgebessert. Doch er konnte die Folgen nicht absehen: Immer tiefer war er in den Strudel des Pariser Bandenlebens geraten, bis seine Tätigkeiten von der Polizei aufgedeckt wurden und er seinen Job im Ministerium loswurde. Jetzt war er vollzeitlich als Vebrecher tätig und schleuste für ein russisches Firmenkonglomerat regelmässig illegal Personen und Waren ins Hexagon ein. Er war bei diesem Konzern auch offiziell angestellt und gilt deshalb nicht als arbeitslos.

Langsam wanderte Menevoies Blick über die Champs-Elysées, als er plötzlich den heissen Atem eines anderen Menschen im Nacken spürte. Panisch drehte er sich um. Hinter ihm stand ein Mann, fest in Winterjacke, Schal, Mütze und Handschuhe verhüllt. Die Gesichtspartie war kaum zu erkennen. Der Mann reichte ihm wortlos einen Briefumschlag.

„Was ist das?“, fragte Menevoie, als er nach dem Couvert griff.

Er bekam keine Antwort, stattdessen machte der Kontaktmann auf dem Absatz kehrt und verschwand in Richtung der Rue Royale, die in Richtung Norden führte.

Verloren fühlte sich Menevoie, als er mitten auf der Place de la Concorde stand und den Briefumschlag in seinen Händen drehte. Schliesslich riss der Geduldsfaden und er riss ihn mit blossen Händen auf. Langsam zog er ein gefaltetes Papier hervor und las stumm die aufgetragenen Zeilen.

Menevoie, heute um 18 Uhr am CDG, AF aus Kiew, 5 Stück

R

Der Franzose wusste sofort, was die Botschaft zu übermitteln versuchte. Heute um 18 Uhr würden am Charles de Gaulle in Roissy 5 junge aus Kiew eingeflogene Frauen mit der Air France landen, die dann von Menevoie als Zwischenhändler an Zuhälter in ganz Frankreich zu verkaufen seien. R. war der Kopf des Menschenhändlerrings, er war auch der Chef des Firmenkonglomerats, für das Menevoie tätig war. Sie waren sich noch nie begegnet, er wusste auch nicht R’s vollen Namen.

„Was ist das für eine Wunde auf der Stirn?“, fragte Meyer in Richtung der Spurensicherung, welche sich über das Mordopfer im Wohnwagen kniete.

„Eine Schnittwunde, welche allerdings nicht geblutet hat“, entgegnete einer der Spurensicherungsbeamten ohne zu Meyer aufzusehen. „Sie wurde dem Opfer vermutlich posthum zugefügt“.

„Sind Sie sich sicher?“

„Zu neunzig Prozent, ja. Aber wir werden die Leiche anschliessend an Dr. Furrer übergeben!“ Dr. Furrer ist der Chefpathologe des Forensischen Dienstes der Kantonspolizei Zürich, wie die Spurensicherung im Fachjargon heisst.

„Gut. Haben Sie Fingerabdrücke feststellen können?“

Der Beamte verneinte. Er fügte hinzu, dass die Tatwaffe nicht sichergestellt werden konnte und die Tote keine Papiere aufweisen konnte, weder bei sich, noch im Wohnwagen.

Meyer winkte Steiner nach draussen.

„Das bringt nichts“, knurrte er. „Lass uns den Calvaro unter die Lupe nehmen“

Die beiden gingen auf den Zuhälter zu. „Herr Calvaro?“

Calvaro drehte sich um. Sein Gesicht erhellte sich schlagartig.

„Commissario Meyer!“ Er sprach mit starkem italienischem Akzent. „Schön, Sie wieder zu sehen!“

„Können wir Ihnen ein paar Fragen stellen?“, fragte Steiner ruhig.

„Nur zu, Signore!“ Calvaro lachte und bleckte die vom Rauchen gelblich gefärbten Zähne.

„Sie haben die Tote also gefunden. Wann genau?“, wollte Meyer wissen.

„Als ich heute Morgen den Wohnwagen reinigen wollte, habe ich sie gefunden. Auf dem Bett!“

„Wie sah sie aus?“

„Tot! Sie haben Sie ja selbst gesehen, nicht?“

„Wie war der Name der Toten?“, erkundigte sich Steiner.

„Ich weiss es nicht.“

„Was?“, entfuhr es Meyer

„Sie war nicht meine Nutte.“

„Das erklären Sie mir jetzt aber mal, Calvaro!“

„Ganz klar. Sie hat nicht für mich gearbeitet!“

„Und was zum Henker macht sie dann in Ihrem Wohnwagen?“ Meyer musste auf die Zähne beissen, um nicht laut loszubrüllen.

Calvaro zuckte mit den Schultern.

„Haben Sie sie jemals zuvor gesehen?“, fragte Steiner. Er hatte Meyer zurückgedrängt und mit einer beschwichtigenden Geste zur Beruhigung aufgefordert.

„Nein, naja, doch.“

„Was heisst das jetzt?“, Steiners Stimme war sehr ruhig, was Meyer in Erstaunen versetzte.

„Sie wollte bei mir einen Job. Aber ich habe abgelehnt.“

„Wann war das?“

„Vor etwa zwei Wochen.“

„Wie war sie?“

„Ich habe sie nicht gevögelt!“ Calvaro grinste und bleckte abermals seine gelben Zähne. Meyer sah sich versucht, nach einem Postauto umzusehen, welche sich in Calvaros Zähne spiegelte.

„Ich meine, Ihr Auftreten!“, grummelte Steiner ungeduldig.

„Ich weiss, was Sie meinen“, grinste Calvaro, „ein kleiner Witz kann doch niemandem schaden, oder?“

„Doch“, sagte Meyer knapp.

„Wie Sie meinen“, seufzte der Zuhälter, „sie hat gebrochen Deutsch gesprochen, mit einem slawischen Akzent. So etwa: Sie haben Arbeit fur mich!“

Calvaro lachte schallend. Die Polizisten verzogen keine Miene.

‚Du redest ja akzentfrei Deutsch, du selbstherrliches Arschloch’, schoss es Meyer durch den Kopf.

„Gut. Sie haben Sie also abgelehnt. Wem gehörte dann der Wohnwagen?“, sagte er stattdessen, ohne die Miene zu verziehen.

„Na mir!“

„Du dummes Arschloch“, geriet Steiner in Rage, „welche Nutte hat sich darin in den Arsch ficken lassen?“

„Is’ ja gut. Maria Petrova. Aus Bulgarien. Sie ist aber gestern einfach abgehauen, ohne was zu sagen!“

Meyer biss sich auf die Lippen. Beinahe wäre ihm der Satz ‚ist ihr ja auch nicht zu verübeln’ ausgerutscht. Stattdessen beliess er es bei einem: „Haben Sie ein Foto von ihr?“

Calvaro wühlte in seiner Tasche und entnahm dieser ein Buch, welches er durchblätterte. Er öffnete eine Doppelseite, welche mit ‚MARIA PETROVA’ in krakeliger Handschrift beschriftet war und löste das Foto heraus. Er übergab es den beiden Polizisten, welche zum Dank knapp nickten.

„Kommst du mit rauf?“, fragte Steiner, als die beiden Ermittler vor dessen Haustür am Sihlquai just wenige Meter neben dem Tatort, standen.

„Besprechung, meinst du?“

Steiner nickte.

„Okay. Von mir aus!“, sagte Meyer und ging an Steiner vorbei zur Tür. Er klopfte sich den noch spärlich vorhandenen Schnee von den Schuhen.

„Nanana, nicht so eilig!“, grinste Steiner und drückte sich am Kripochef vorbei. Er fingerte den Schlüsselbund aus der Westerntasche und schloss die Tür auf.

Wenig später sassen sie in Steiners Küche. Durchs Fenster, das in Richtung Landesmuseum wies, konnte Meyer die immer noch arbeitenden Polizisten sehen. Plötzlich wurde ein dunkler Wagen durch die Absperrung gelassen. Bei näherem Hinsehen erkannte Meyer den Mann mit dem langen Spitzbart, der ausstieg: Es war Dr. Furrer, der Pathologe, der sofort Richtung Tatort eilte.

„Bin Laden, nicht?“, wollte Steiner wissen, der gerade vor der Kaffeemaschine stand und ebenfalls aus dem Fenster sah.

„Meinst du?“, Meyer sah seinen Kollegen zweifelnd an.

Steiner zuckte mit den Schultern.

Die Maschine hatte gerade unter lautem Getöse ihre Pflicht vollbracht und Steiner servierte Meyer die eine Tasse, die andere schob er zu seinem Stuhl, auf den er sich sogleich setzte.

„Gut machst du das. Hättest vielleicht besser Kellner als Polizist werden sollen!“, flachste Meyer.

Steiner schaute ihn entgeistert an, musste aber, als Meyer sich ein Lachen nicht verkeifen konnte, losprusten.

„Du und dein Schabernack!“, sagte er kopfschüttelnd.

„Mein lieber Ramon. Alles musst du ja auch nicht ernst nehmen?“ Meyer trank.

„Das sagt gerade der, der schon einen Puls von 200 bekommt, wenn der Drucker gerade wieder kein Papier hat?“, entgegnete Steiner und schaute Meyer forsch an. Der zog eine Grimasse.

„Spass beiseite, wir müssen arbeiten!“, sagte Meyer, als er sich geräuspert und den Stuhl zum Tisch gezogen hatte. Auf der Tischplatte hatte er Marias Foto und dasjenige der Toten gelegt.

„Definitiv nicht dieselben!“, sagte Steiner, nachdem er die beiden Bilder gemustert hatte.

„Sie sahen sich sehr ähnlich!“, nuschelte Meyer. „Vielleicht gibt es eine Verbindung?“

„Wie meinst du das?“

„Hör mal, Ramon! Die Tote wurde in Maria Petrovas, ich sags mal jetzt so, Stammwohnwagen tot aufgefunden und Maria ist weg!“

Steiner sah auf. „Wie? Du meinst, Maria ist weggelaufen und hat, um das zu vertuschen…“

„…eine Doppelgängerin engagiert! Genau!“ Meyer nickte heftig und nahm einen Schluck vom Kaffee. „Doch Calvaro ist ein Fuchs und hat’s natürlich rausgekriegt!“

„Maria hat wohl nicht daran gedacht, dass ihr Leberfleck“ Steiner wies auf den dunklen Fleck ob Marias Oberlippe, „ein so auffälliges Merkmal sei!“

Meyer seufzte. „Der Typ ist doch schlauer, als ich dachte!“

„Was machen wir jetzt?“

„Wir warten auf Dr. Furrers Ergebnisse, die treffen frühestens morgen früh ein. Dann können wir ja noch was über die Petrova herausfinden!“

„Wieso nicht jetzt?“

„Das hat keinen Sinn. Die ist eh über alle Berge! Da kommt’s auf einen Tag mehr oder weniger kaum drauf an!“ Der Kommissar schob die leere Tasse in die Tischmitte und stand auf.

„Wenn du meinst?“, jetzt war es Steiner, der zweifelte.

„Machen wir uns einen schönen Nachmittag!“, sagte Meyer fröhlich und klatschte laut in die Hände.

Kurz darauf standen Steiner und Meyer vor Steiners Privatwagen der Marke VW Tiguan, der vor dessen Haustür geparkt war.

„Soll ich dich beim HB vorne absetzen?“, fragte Steiner.

„W-Was? Spinnst du? Du willst mich von hier zum HB fahren?“, fragte Meyer irritiert. „Das ist gleich dort drüben. Man ist zu Fuss schneller!“

„Nein, nein!“, lachte Steiner. „Ich geh noch rüber zu Melinda!“

„Ach so!“

„Also, willst jetzt mitfahren?“

Meyer schüttelte den Kopf. „Danke, aber ich muss noch Weihnachtsgeschenke kaufen. Für die Kinder.“

„Dann kannst ja trotzdem mitfahren. Das ist keine Ausrede.“

Steiner öffnete per Fernbedienung die Fahrertür seines Wagens und kletterte hinein,

„Nein, danke! Diese paar Meter kann ich trotz meines Alters noch gehen! Dann musst du auch nicht einen Umweg machen!“

Steiner grinste. „Ich bin noch nicht pensioniert, also ist es nicht lebensgefährlich, zu mir ins Auto zu steigen!“

„Das meinte ich auch nicht!“

„Wie du meinst!“, sagte Steiner und entriegelte den Wagen.

„Wann hast du sie zum letzten Mal gesehen?“, fügte er hinzu.

„Was?“, fragte Meyer.

„Die Kinder?“

„Letzte Weihnachten, war das, glaub’ ich. An ihren Geburtstagen telefoniere ich jeweils.“

„Wo leben sie denn?“

„Bei Gertrud immer noch in Oerlikon. Aber die weigert sich, mir Einlass in die Wohnung zu geben. Die Geschenke kommen Sie dann bei mir jeweils am 25. Dezember abholen, oder wir sehen uns in einem Café.“

„Scheisse, oder?“ Steiner schaute seinen Kollegen mitleidig an.

Meyer nickte. „Das kannst du laut sagen!“

Er atmete tief durch. Durch die Kälte bildeten sich Wasserdampfwölkchen vor Meyers offenem Mund.

„Aber das kann ich auch nicht ändern. Gertrud sitzt da am längeren Hebel!“, fügte er seufzend hinzu.

Eine Zeit lang schwiegen sich die beiden Ermittler an.

„Na dann!“ Steiner stieg ein und startete den Motor. Dann liess er noch die Scheibe herunter.

„Kannste sonst zu mir und Melinda, am 24., wenn du nichts zu tun hast!“, sagte er.

Meyer zuckte mit den Schultern. „Mal sehen!“

„Bis morgen!“

Steiner fuhr los.

Meyer ging durch die Hauptbahnhof-Unterführung zur Bahnhofstrasse. Die Weihnachtsbeleuchtung – ‚Lucy’ genannte nach unten ragende Fäden, an denen viele Lämpchen wie Schneeflocken hingen – hing seit Mitte November über den Strassen und schied, alle Jahre wieder, die Geister der Stadtbevölkerung. Immerhin war sie beliebter als die Vorhergehende, die aus senkrecht vom Himmel ragenden Neonbolzen bestanden – da hatte es fast Krieg in der Stadt gegeben. Da es noch hell war, waren die Leuchten noch nicht eingeschaltet. Obwohl es ein stinknormaler Montag – zwar im Dezember – war, herrschte grosses Gedränge. Zahlreiche Menschen, vor allem Frauen, hasteten die Strasse entlang, kamen aus einem oder verschwanden in einem der zahlreichen Läden. Vor nicht wenigen Geschäften hatten die Betreiber Holzbänke aufgestellt, auf denen sich Männer im Nikolauskostüm niedergesetzt haben und den Kindern mit Mandarinen, Schokolade und Erdnüssen gefüllte Jutesäckchen als Geschenk überreichten. Immer wieder hörte Meyer, wie die Kleinen eifrig ihre gelernten Gedichte dem Mann mit dem langen weissen Bart vortrugen.

Am Löwenplatz vor dem Globus wurden in den letzten Wochen einige Holzhütten aufgestellt, in denen jetzt ein kleiner Weihnachtsmarkt abgehalten wurde. Meyer liess es sich nicht nehmen, durch die Reihe zu schlendern und den Duft von Lebkuchen einzuatmen. Doch kaufte er nichts, denn sein Bauchansatz sollte schnellstmöglich einen Abgang machen!

Beim Globus verspürte er heftigen Harndrang und stürzte ins Kaufhaus.

Als er die Tür zur Kundentoilette aufstiess, kamen unangenehme Erinnerungen in ihm hoch. Vor rund einem halben Jahr wurde die Kripo gerufen, da ein Mann in einer der Kabinen tot aufgefunden wurde. Soweit sich Meyer erinnern kann, wurde dessen Identität bisher nicht geklärt.

Nach dem erleichterten Pinkeln ging er über den Löwenplatz zurück zur Bahnhofstrasse.

Doch er ging wohl etwas zu eilig und sah die in der Kälte gefrorene Wasserlache nicht. Seine Schuhe begannen zu gleiten und Meyer ruderte wild mit den Armen, um sein Gleichgewicht zu suchen. Doch – er hatte keine Chance. Nach nur wenigen Sekunden erhielt er Rückenlage und knallte mit einem dumpfen Geräusch auf dem Hosenboden. Er fluchte. Eine Passantin mit etwa einem fünfjährigen Mädchen an der Hand hielt ihre Hände schützend über die Ohren der Kleinen, als Meyer loszeterte. Er erntete böse Blicke von der Mutter.

Ächzend richtete er sich wieder auf und wischte über den Hosenboden. Einen prüfenden Blick auf die Eisfläche – und er erblickte seine dunkelbraune Brieftasche auf dem Boden liegen. Meyer bückte sich, hob sie auf und machte sich aus dem Staub.

Bei der auf Rot stehenden Fussgängerampel vor der Uraniastrasse packte Meyer einen Notizzettel aus. Seine 18-jährige Tochter wünschte sich den neusten Roman einer der angesagten Teenie-Romanserien, sein 20-jähriger Sohn die neuste Version der Playstation.

Einkaufen! Das hatte er schon seit geraumer Zeit nicht mehr gemacht. Von Schaufenster zu Schaufenster zu rennen, war ihm ein Graus, mehr noch, er hasste es mehr als Sushi, und das mag was heissen. Mit Unbehagen erinnerte er sich an die ganzen Nachmittage, die er mit Gertrud in der Herrenmodeabteilung im Jelmoli verbracht hatte, als sie sich noch geliebt hatten und verheiratet waren. Dabei trug er die Hemden, die sie ihm jeweils ausgesucht hatte, heute noch.

Der Kommissar bog beim St. Annahof in die Füsslistrasse ein und betrat die Orell Füssli-Filiale am Kramhof, aus der ununterbrochen eine Klavierversion von Stille Nacht klang. Meyer empfand das Geklimper so, als hätte sich der Pianist mit seinem gesamten Allerwertesten auf die Tasten gesetzt und die Umwelt mit einem solchen Ohrenschmaus beglückt. Am Eingang der grossen Buchhandlung stand wie gewöhnlich ein Verkäufer der Zürcher Arbeitslosenzeitung. Sonst ignorierte der Kommissar die lästigen Anpreiser ihres Werkes; da es jedoch Weihnachtszeit war, besann er sich auf sein Herz und kaufte dem Mann ein Exemplar ab, vermutlich dessen einziges an jenem Montag. Meyer betrat das Erdgeschoss, spürte die Wärme der Ladenheizung und machte sich bereits auf einen Spiessrutenlauf auf Biegen und Brechen bereit, als er die Massen im Laden sah.

Glücklicherweise musste er nicht lange suchen, denn der Laden hatte bei der Belletristikabteilung im Erdgeschoss einen ganzen Tisch mit diesem angesagten Vampir-Mist ausgebreitet. Unzählige Autorinnen und Autoren versuchten auf den momentanen Erfolgszug aufzuspringen. Meyer erinnerte sich sentimental an die Zeiten, in denen sich Martin und Melanie noch den neusten Band der Harry Potter-Serie gewünscht hatten, Bücher, die er im März, als sie für die Kinder nicht mehr interessant waren, selbst verschlungen hatte.

Meyer schnappte sich das gewünschte Buch und überflog mit den Augen einen zweiten Tisch, der fast ausschliesslich mit den Bestsellern aus dem Krimi- und Thrillergenre belegt war. Hatte früher Dan Brown mit Sakrileg und Illuminati fast das Monopolrecht auf den Tisch, so war es in der heutigen Zeit der schon seit sechs Jahren verstorbene Schwede Stieg Larsson mit seiner Millenium-Trilogie, die derzeit wegen mehreren Verfilmungen in aller Munde war. Meyer hatte die Bücher längst gelesen, und war ihnen nicht gerade abgeneigt. Er war froh, das nicht im realen Leben zu erleben, denn das wäre für seinen Geschmack ein klein wenig zu abgefahren. Insbesondere jede Menge Schimpfwörter und vulgäre Ausdrücke konnte man lernen. Der 16-jährige KV-Lehrling der Buchhaltung schien sich gerade mit der ersten Folge der Romanserie zu befassen, denn er zitierte regelmässig die am Vorabend gelesenen Seiten.

Zuvorderst war eine kleine Beige CD’s mit Aufnahmen vom Kabarettisten Emil Steinberger, die in Nachbarschaft der grossen Buchtürme verloren schien.

Seufzend stellte er sich in die stets wachsende Schlange an der Kasse. Zuvorderst war eine Oma, welche mit Sonderwünschen über die Verpackung der Geschenke für die Enkelkinder einen riesigen Stau verursachte.

Als Meyer dran war, liess er das Buch ohne einen Kommentar schlicht einpacken, bezahlte und verliess den Laden.

In einer nahe gelegenen Interdiscount XXL-Filiale an der Sihlporte erstand er dann auch noch die Playstation der neusten Generation für Martin. Hier hatte er jedoch einige Mühe, denn der Verkäufer, den Meyer zur Beratung herbeigezogen hatte, wollte ihm jede Menge Zubehör andrehen.

Meyer lehnte jedes Mal dankend ab, liess es sich jedoch nicht nehmen, die Playstation eigenhändig an einem grossen Breitbildfernseher auszuprobieren. Er musste sich eingestehen, dass es doch nicht eine so schlechte Sache sei. Aber am meisten war für ihn der Preis wert, Gertruds Gesicht zu sehen, wenn Martin am Heiligabend das Geschenk seines Vaters auspacken würde.

Nach dem Kauf verliess er den Laden und überquerte die Sihl. Mitten auf der Sihlbrücke hielt er inne und schaute auf das Wasser.

Drei Stockenten kämpften um kleine Brotstücke, die ein älterer Mann, der ebenfalls auf der Brücke stand, ins Wasser warf. Eine von denen, die beim letzten Wurf nichts abbekommen hatte, streckte den Kopf ins Wasser, nur der Bürzel und die Füsse ragten über den Wasserspiegel.

‚Wer ist diese Tote im Wohnwagen?’, fragte er sich immer wieder.

Als er vor dem Präsidium in seinen RS6 steigen wollte, hielt er inne. Er hatte noch einen Besuch abzustatten.

Strich

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