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Kapitel 5
Оглавление13. Dezember, 17:20
Meyers Audi RS6 bremste brüsk vor dem Wohnblock an der Zwinglistrasse, einer Seitenstrasse der Langstrasse. Meyer war mehrere Male im Stau des Berufsverkehrs stecken geblieben und hatte sich schliesslich Abhilfe mit dem portablen Blinklicht verschafft.
Der Eingang des Gebäudes war mit rot/weissem Plastikband abgesperrt, zwei Beamten der Stadtpolizei standen daneben.
Sie nickten, als sie Meyer erspähten und hoben das Absperrband an, damit Meyer – natürlich gebückt – unten durch gehen konnte.
„Im dritten Stock!“, sagte einer der beiden. Meyer erkannte, dass es sich dabei um Hänzi handelte.
„Danke“, sagte Meyer und betrat das Treppenhaus. Es war ein typischer Bau aus den Sechzigern. Weisse Wände, dunkelbraune Türen und der Fussboden war mit einem seltsamen dunkelgrauen Boden mit schwarzen Farbtupfern belegt worden. Meyers Schritte hallten kaum, als er auf die Treppe zuhielt. Sie hatte ein metallenes Geländer, die goldene Deckfarbe war bereits an den meisten Stellen abgeblättert.
Die Wohnungstür im dritten Stock war offen. Im Eingangsbereich hing ein grosses Poster von Siegfried & Roy samt einem weissen Tiger. Die Wohnung war bunt und geschmackvoll eingerichtet – an der Wand hing ein regenbogenfarbiges Schild mit der Aufschrift Gay Pride.
Steiner stand im Wohnzimmer. Ihm Gegenüber sass ein noch junger Mann, mit T-Shirt und Hose. Seine Lederjacke hatte er über die Sofalehne gelegt.
Steiner stand auf. „Hallo Gian!“ Er wies auf das Sofa.
„Das ist Carlos Espinoza, der Freund des Opfers!“
„Wo ist das Opfer?“
„Im Schlafzimmer!“, sagte Espinoza und stand auf. „Kommen Sie bitte!“
Die drei gingen ins Schlafzimmer.
Espinoza knipste das Licht an. Auf dem breiten Doppelbett lag ein junger Mann, mit einem Anzug bekleidet, auf dem Rücken. Auf der Stirn prangten drei parallele Striche: III.
„Darf ich vorstellen: Alexander Gerber!“, sagte Steiner. „25 Jahre, Geschäftsführer eines Schwulen-Clubs“ er warf einen Seitenblick auf Espinoza, doch der schien nicht hinzuhören, „an der Heinrichstrasse!“
„Nummer drei!“, raunte Meyer.
Oberhalb des Bauchnabels war die Einstichstelle, genauso wie bei der Toten am Sihlquai. Das Hemd war an der Stelle der tödlichen Wunde aufgeknöpft.
Das Blut war teilweise zu einer rotbraunen Masse geronnen. Es hatte sich auch auf dem Boden ausgebreitet.
Meyer drehte sich zum Freund des Opfers um.
„Haben Sie ihn entdeckt, Herr Espinoza?“,
Carlos Espinoza schluckte heftig und nickte. Tränen rannen ihm übers Gesicht.
„Ich kam nach Hause und habe Alex hier im Bett gefunden!“
„Haben Sie Einbruchspuren bemerkt?“
Espinoza schüttelte den Kopf. „Wir schliessen nie ab!“
„Wozu?“
„Einer ist immer zu Hause!“
Meyer wies auf den Toten. „Hatte Herr Gerber ein Verhältnis ausserhalb ihrer Beziehung?“
„Schön möglich!“ Espinoza zuckte mit den Schultern. „Wir führten eine extrem offene Beziehung. Denn, solange einer von uns mit einem anderen Sex haben kann, ohne was zu empfinden, dann spricht das für unsere Liebe!“
Plötzlich kam einer der Beamten des Forensischen Dienstes ins Zimmer. In seinem Gummihandschuh hielt er ein weisses Blatt Papier. Er steckte es in ein Klarsichtmäppchen und reichte es Meyer.
„Lesen Sie mal, Herr Kommissar.“
Meyer begann die roten Buchstaben zu lesen.
Hallo Schwuchtel
Ich weiss, dass du ihr Geheimnis weisst. Deshalb bist du in grosser Gefahr
„Was ist das?“, fragte Steiner verwirrt.
„Sieht nach einem Drohbrief aus“, erkläuterte Meyer und sah den Spurensicherungsbeamten an. „Übergeben Sie das Dr. Furrer“
Der Beamte nickte.
„Was sagst du dazu?“, fragte Meyer seinen Kollegen, als sie aus dem Haus traten.
„Eine Prostituierte und ein Homosexueller. Das passt irgendwie gar nicht zusammen!“
Steiner grinste. „Wer weiss? Vielleicht hat einer eine Leiche im Keller?“
Sie fuhren in Meyers RS6 zur Kasernenstrasse und betraten das Präsidium. Fräulein Roggenmoser hatte anscheinend Feierabend gemacht, denn der Empfangsposten war verwaist.
Sie gingen ins Grossraumbüro im dritten Stock und setzten sich an einen Computer.
Meyer fuhr den Apparat hoch und schaute auf einen kleinen Notizzettel, den Espinoza ihnen überreicht hatte. Er bestand aus den Kennwörtern von Gerbers Gmail-Konto und vom Facebook-Profil.
Meyer durchschaute seinen Posteingang, doch er fand nur Werbemüll vor. Die meisten Mails hatte Gerber bereits unwiderrufbar gelöscht. Die meisten Einträge stammten von einem René D. – so war der Kontakt verzeichnet – der mit Gerber zusammen wohl den nächstjährigen Christopher Street Day-Anlass in Zürich organisieren wollte.
„Na dann, halt Facebook!“, grunzte er.
„Hast du was dagegen?“, wollte Steiner wissen. „Du lebst so was von hinter dem Mond!“
Meyer lachte. „Ich hab was dagegen, wenn meine Privatsphäre zerstört und alle meine Daten ohne meine Einwilligung zu Werbezwecken verwendet werden!“
Steiner sagte nichts. Er war zu müde, um dem zu widersprechen.
Die Anmeldeseite war geöffnet. Der Kanton hatte veranlasst, soziale Netzwerke wie Facebook zu sperren, da viele der Angestellten mehr Zeit damit als mit der Arbeit verbrachten. Glücklicherweise hatten sie die Sperre noch nicht überall eingeführt.
Meyer meldete sich unter Gerbers Namen an und die Startseite erschien. Der Kommissar klickte auf den Profilreiter. Meyer schaute aufs Profilbild.
„Kennst du den?“, fragte er Steiner und wies auf das Profilbild.
„Klar, Gerber! Das macht man hier, sein eigenes Foto veröffentlichen und nicht irgend so ein Avatar wie in diesen Foren!“ Gerber lag, in einen samtroten Bademantel gekleidet, auf einem mit gelber Bettwäsche überzogenem Bett.
„Nein, ich mein den daneben!“
Daneben lag ein älterer Mann, ebenfalls einen samtroten Bademantel tragend. Beide lächelten in die Kamera.
„Ach du Scheisse!“, entfuhr es Steiner und er fuhr sich durchs Haar. „Das ist ja Franz Gutzwiler!“
„Genau der, der immer mit schwulenfeindlichen Äusserungen auf sich aufmerksam gemacht hatte, ist selber homosexuell!“
„Ja, Alex und Gutzwiler hatten eine Affäre“, erklärte fünfzehn Minuten später ein aufgewühler Carlos Espinoza. Meyer hatte ihn sofort ins Präsidium zitieren lassen.
„Wurden Sie nicht eifersüchtig?“, erkundigte sich Meyer und stütze den Kopf in der rechten Hand ab. Seine Blicke kreuzten Espinozas.
„Nein. Wie ich Ihnen bereits gesagt hatte, waren Alex und ich zwei Polygamisten, die es gegenseitig toleriert haben, da unsere Liebe gestärkt wurde!“
„Hatten Sie nie Angst, dass es mehr werden könnte?“
Espinoza schüttelte den Kopf. „Nein, Alex hätte es mir gesagt, wenn er sich in einen anderen Mann verliebt hätte!“
„Okay!“, Meyer zog die Vokale in die Länge. „Konnte es sein, dass Alexander Gerber mehr für Franz Gutzwiler empfunden hatte und sie deshalb eifersüchtig wurden?“
Die Tatsache, dass es bereits ein Opfer gab, verschwieg Meyer.
„Nein, sicher nicht. Alex hätte es mir gesagt. Und ich habe Alex nicht getötet, ich habe ihn gefunden, als er schon tot war!“
„Wo waren Sie heute zwischen 12 und 16 Uhr?“, wollte Steiner wissen. Er liess immerzu einen Kugelschreiber in seinen Fingern zirkulieren.
„Ich war bei René“, antwortete der gebürtige Spanier Espinoza.
„René D.?“ Meyer kam der E-Mail-Kontakt in den Sinn.
Espinoza nickte. „Ja. Er, Alex und ich organisieren den Christopher Street Day im 2011!“
„Wieso war Alex nicht beim Treffen dabei?“
„Wissen Sie“, der Spanier wand sich verlegen, „das heute war kein berufliches Treffen.“
Meyer verstand. „Sie fühlen sich also zu diesem René D. angezogen.“
Espinoza nickte. „Schon seit geraumer Zeit“
„Wie heisst er zum Nachnamen?“
„Das weiss ich nicht. Er gibt nur wenig von seiner Persönlichkeit preis.“
Meyer seufzte und Steiner warf den Kugelschreiber auf den Tisch.
„Sie können gehen!“, sagte Meyer. „Und wir machen Feierabend!“, fügte er hinzu, als Espinoza den Raum bereits verlassen hatte.
Es war viertel nach sechs, als nach überraschend kurzer Verspätung von 15 Minuten der Airbus A319 der Air France aus Kiew beim Fingerdock des Terminals 2A am Flughafen Roissy–Charles de Gaulle andockte.
Menevoie wartete in der Ankunftshalle auf seine menschliche Fracht. Er wusste, dass jede der jungen Frauen ein kleines Foto mit seinem Konterfei auf die Reise mitbekam. Offiziell waren die jungen Damen zu beruflichen Zwecken nach Frankreich geladen wurden und Menevoie sollte ihre Betreuungsperson darstellen. Die „Betreuung“ bestand darin, sie an Zuhälter zu verkaufen und als Test in der ersten Nacht nach der Ankunft zu vögeln. Diejenigen, die nicht gut genug waren, wurden generell bewusstlos gemacht und in den Canal St-Martin gestossen, wo sie ertranken.
Auf diese Zeremonien hatte Menevoie jedoch keine Lust, er beschloss, die fünf jungen Frauen noch heute Abend zu verkaufen. Wie er wusste, hatte ein Zuhälter aus Avignon Interesse bekundet. Sollte der sich seine Zeit mit den Nutten totschlagen. Die Rhône war für die „Entsorgung“ weit besser geeignet als der Canal St-Martin, zumal sich die Leichenfunde an diesem auffällig häuften. Die ganze St-Martin-Geschichte hatte eine gewisse Ironie, zumal Menevoies Lieblingsbuch Georges Simenons Maigret et le corps sans tête war. In diesem Roman wurde just aus demselben Kanal eine kopflose Leiche geborgen, auch wenn dieser Mensch aus anderen Umständen zu Tode gekommen war.
Endlich erblickte er sie. Die fünf jungen Frauen kamen in staksigen Schritten auf ihn zu. Alle trugen Schuhe mit hohen Absätzen und trotz der winterlichen Temperaturen gar Hotpants. Eine von ihnen schien Menevoie erblickt zu haben, denn sie sprach was und zeigte in seine Richtung.
Sie kamen auf ihn zu.
„Monsieur Menevoie?“, fragte eine in schlechtem Französisch. Menevoie war sich gewöhnt, dass diese Tussen seinen Namen nicht Mönevua, sondern wie geschrieben aussprachen. Solange sie das andere auf Französisch können, war es ihm scheissegal.
„Ja, der bin ich!“, sagte Menevoie. „Kommen Sie bitte mit!“
Er führte sie direkt zur TGV-Station des Flughafens, wo gerade der Zug nach Marseille, der Avignon gegen elf Uhr abends erreichen sollte, einfuhr. Sie stiegen in den Zug. Menevoie hatte sechs Sitzplätze in der zweiten Klasse reserviert. Die Reservation hatte sich als gute Entscheidung erwiesen, denn die vielen Flugausfälle bewirkten, dass viele Franzosen auf dem Weg zu den Familienfesten zu Weihnachten bei ihrer Reiseplanung vielfach auf den TGV setzten, zumal der im inländischen Verkehr eine kostengünstige, aber ebenso schnelle Variante darstellte.
Der Zug setzte sich in Bewegung und beschleunigte, um jedoch kurz später am Bahnhof des Disneylands anzuhalten, wo vor allem Familien mit eher kleineren Kindern zustiegen, die alsbald den gesamten Waggon in plärrenden Lärm hüllten. Menevoie ballte die Fäuste, bis die Knöchel weiss hervortraten und unterdrückte den Impuls, in diesem Moment einen Massenmord an Kindern zu begehen.
Gegen 23 Uhr traf der Zug am ausserhalb Avignons an der Schnellfahrstrecke Lyon – Marseille gelegenen TGV-Bahnhof der Stadt ein. Menevoie half den fünf jungen Frauen beim Aussteigen. Alle fünf fröstelten und realisierten in jenem Moment, dass sie die Temperatur unterschätzt hatten.
Mit dem Shuttlebus fuhren sie ins Stadtzentrum Avignons zur Hauptpost gegenüber dem Bahnhof Avignon Centre und stiegen dort auf einen Omnibus der städtischen Verkehrsbetriebe um. Mit diesem fuhren sie über die an der Rhône entlang führende Ringstrasse N100. Hoch oben auf dem Hügel thronte der Papstpalast, in welchem zu Zeiten des Abendländischen Schismas die Gegenpäpste und auch zuvor die Exilpäpste residiert hatten. Scheinwerfer warfen dunkelgelbe Lichtsäulen an die Palastmauern.
Sie passierten gerade die nur halb ins Flussbett ragende berühmte Pont St-Benézét mit der St-Nicolas-Kirche direkt auf dem Brückenkopf, umrundeten den Hügel des Papstpalastes und bogen bei Porte St-Joseph auf die Rue St-Joseph, um dann an der Place St-Joseph anzuhalten. Menevoie und die fünf Ukrainerinnen kletterten aus dem Bus. Die Weihnachstbeleuchtung wurde just in diesem Moment ausgeschaltet. Nur die Strassenbeleuchtung sorgte dafür, dass Menevoie und die fünf Ukrainerinnen nicht um Dunkeln standen.
Er führte sie über die Rue des 3 Colombes zur Rue Banasterie, wo er plötzlich vor einem der Altbauhäuser stand und an die massive Holztür klopfte. Der Schieber wurde zurückgeschoben.
„Qui est-ce?“, fragte eine männliche Stimme.
„Menevoie!“, antwortete der.
Die Tür wurde geöffnet. Menevoie trat zur Seite und blickte die fünf jungen Frauen an.
„Entrez!“, befahl er und winkte die fünf hinein. Dann schloss er die Tür von aussen und nahm ein Zimmer im Hotel an der Place de l’Horloge.
Dienstag, 14. Dezember 06:00
Um sechs Uhr morgens, am nächsten Tag, kam Meyer völlig übernächtigt ins Büro. Steiner empfing ihn grinsend:
„Schlecht geschlafen?“
„Nein, gar nicht“, entgegnete Meyer, „die Babys unter mir haben die ganze Nacht geplärrt!“
Der einzige Wehrmutstropfen an Meyers Wohnung war, dass die Eigentumswohnung im Geschoss unterhalb seinen Gemächern von einer reichen amerikanischen Familie erworben wurde – die Mutter hatte vor Monatsfrist gleich Vierlinge entbunden.
„Und? Die Geschenke gekauft?“, fragte Steiner.
„Hättest du mich das nicht gestern fragen können?“, murrte Meyer schlaftrunken und gähnte herzhaft.
„Schon, aber ich hab’s vergessen!“ Steiner setzte ein entschuldigendes Grinsen auf.
Meyer seufzte. „Okay, okay! Martin bekommt die Playstation 3 und Melanie ihren Vampirroman. Hab den Namen dieses Dings vergessen.“
„Ich freu’ mich auch schon, wen ich Kinder in diesem Alter habe!“, grinste Steiner. „Die beanspruchen anscheinend ja deinen gesamten Monatslohn für ihre Weihnachtswünsche“
„Das war harmlos gegenüber dem letzten Jahr. Martin war damals mit einer DVD zufrieden, aber Melanie wollte unbedingt einen neuen Push-up-BH. Mein Gott, haben die mich damals im Unterwäscheladen blöd angeglotzt! Als wäre ich so ein notgeiler Sugar-Daddy mit einer 20-jährigen Freundin.“
„Der Martin ist doch schon 20. Warum schenkst du ihm noch ein solches Geschenk?“
„Weisst du, er hat diesen Sommer die Matura bestanden und sein grösster Wunsch, seit er 10 war, war eine solche Playstation zu haben. Aber Gertrud war immer dagegen. Sie fand das asozial. Ihrer Meinung nach sollten Kinder die gesamte Zeit mit ihren Freunden draussen spielen, und stattdessen lieber von Bäumen fallen und das Genick brechen, als einen Steifen zu bekommen.“
„Na dann. Er hätte wegen der Playstation einen Steifen bekommen, klar?“, grinste Steiner.
„Einen steifen Daumen, meinte ich. Ramon, langsam ist dein Hang zur Zweideutigkeit kindisch!“
„Hatte denn Martin diese Phase nicht?“, grinste Steiner.
Meyer schüttelte den Kopf.
„Und jetzt? Ist er fleissig am Studieren?“
Meyer schüttelte den Kopf. „Nein, er macht eine verkürzte Lehre als Informatiker bei irgend so einem IT-Schuppen am Bahnhof Tiefenbrunnen.“
Steiner nickte.
„Er ist ein guter Junge!“, fügte Meyer hinzu.
„Ist ja klar“, lachte Steiner, „welcher 20-jährige kann denn von sich behaupten, dass er einen Vater habe, welcher mit einem RS6 herumrast“
„Das nützt ihm aber nichts. Da er bei Gertrud wohnt, kann er nur mit diesem Klappergestell von 1985-er Citroen herumkurven“
„Pech!“, sagte Steiner.
„Steiner, mal ernsthaft. Wenn du Kinder hast, dann schau, dass sie deine Frau bekommt, bevor du 40 bist! Denn dann bist du einfach zu alt.“
Steiner lachte.
„Apropos. Hast du was über Petrova?“, erkundigte sich Meyer.
Am Vortag war Steiner, während Meyer einkaufen war, noch einmal ins Präsidium gefahren und haben die angeblich verschwundene Prostituierte Maria Petrova zur landesweiten Grossfahndung ausgeschrieben, um an die möglichen Motive eines Mordes an ihr zu gelangen, und auch wegen ihren wahren Beweggründen, Calvaros Zuhälterei zu entkommen, auf die Spur zu kommen.
Steiner schüttelte den Kopf.
„Diesen Hurensohn von Calvaro bringe ich um!“, zeterte er. Die gute Stimmung war dahin.
„Ganz ruhig!“, sagte Meyer leise.
„Aber wir haben keine Anhaltspunkte!“
Plötzlich klingelte das Telefon. Steiner hob den Hörer ab:
„Ja? Okay…Gut…Wir kommen…Hat sie was gesagt? ...Nichts?...Bis dann!“
Er legte wieder auf.
„Was ist los?“, fragte Meyer.
„Die Hotline war dran. Unsere Nutte wurde gefunden. Am HB. Aber sie soll schweigen!“
Als ‚Hotline’ wurde diejenige Abteilung bezeichnet, welche Anrufe über die Polizeihotline entgegennahmen, welche bei Grossfahndungen oder Vermisstmeldungen aufgeschaltet wurde. Sie hatten im Sekundentakt Anrufe entgegengenommen.
Mit quietschenden Reifen und mit Blaulicht hielten die drei Streifenwagen vor dem Seiteneingang an Gleis 3 des Hauptbahnhofs. Als Vorsichtsmassnahme wurden einige der Gitter hochgefahren, welche normalerweise die offene Perronseite des Bahnhofs in der Nacht vor ungebetenem Besuch schützen. Als die Beamten ankamen, sahen sie, dass der Osteingang an der Löwenstrasse sowie der Bahnsteig am Gleis 3 abgeriegelt wurden. An der Sperre wurden sie von einem Stadtpolizisten nach Vorweisung ihrer Dienstausweise durchgelassen und Meyer, Steiner und vier weitere Uniformierte stürmten über die Hauptunterführung ins unüblich für die Tageszeit menschenleere Shopville. Am Fusse der Rolltreppe stand ein weiterer Stadtpolizist.
‚Die sind ja wie Ameisen’, dachte Meyer. Der Stadtpolizist stellte sich vor die sechs hin und wies mit der rechten Hand um die Ecke.
„Da drüben! Kommen Sie“, sagte er und hastete mit steifen Schritten los. Als sein Hintern eine grossflächige Umlaufbahn um die Hüfte antrat, machte einer der Kantonspolizisten eine schwulentypische Bewegung und erntete Gelächter von den anderen. Der Stadtpolizist drehte sich abrupt um.
„Ist irgendwas, meine Herren?“
Meyer schaute diskret in einen Laden, Steiner schüttelte den Kopf. „Wo ist Frau Petrova?“, fragte er.
Der Stadtpolizist ignorierte die Frage und hastete weiter die Entführung entlang. Am Mittelpunkt der Unterführung, wo am Nordende der S-Bahnhof Museumstrasse erreicht werden kann und auch Treppen, Rolltreppen und Aufzüge zur Haupthalle führten, blieb er stehen. Er wies in Richtung einer Baustelle,
Wenig später sahen sie, warum Petrova schwieg. Drei weitere Stadtpolizisten standen hinter der Baustellenabsperrung im Kreis und blickten auf den Boden; auf dem lag der Körper einer Frau. Ihr Gesicht war zweifelsfrei dasselbe, wie auf Calvaros Foto. Ihr Körper war mit derselben Schnittwunde gezeichnet, wie die Toten im Wohnwagen oder in der Wohnung an der Zwinglistrasse. Auch Maria Petrova war als Lebendige eine sehr schöne Frau gewesen, selbst als Leiche hatte sie sehr viel Ausstrahlungskraft. Ihr Gesicht hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit demjenigen der Toten im Wohnwagen, jedoch war es sehr dunkel – wie braun gebrannt. Was Petrovas Gesicht jedoch markant gemacht hatte, war, dass oberhalb ihrer Oberlippe ein mittelgrosser Leberfleck prangte. Durch diesen Umstand schien ihr restliches Gesicht noch makelloser als das der anderen Toten. Jedoch hatte Petrova offensichtlich ihre natürlich-dunkelbraunen Haare blond gefärbt. Sie trug ein weisses Oberteil, sowie einen knappen schwarzen Rock, jedoch trug sie nur einen Schuh.
„Ach du Scheisse!“, knurrte Steiner. Auf der Stirn prangte ein ‚I’. „Sieht so aus, als nummeriere der seine Toten!“
Meyer griff zum Funkgerät und beorderte Verstärkung, die Spurensicherung und den Leichenwagen an den Fundort. Die vier Kantons- und die drei Stadtpolizisten wies er zum grossräumigen Absperren des Fundortes an.
„Wir müssen das Shopville wieder öffnen können und trotzdem ungestört unsere Arbeit verrichten!“, hatte er seinen Entscheid begründet.
Dieses Absperren hatte, mitten in der Hauptverkehrszeit, einige Zeit beansprucht, da die Sperren im Erdgeschoss sofort geöffnet wurde, bevor die Absperrung eingerichtet werden konnte. Sogar Meyer half mit, um die grossen Menschenströme sinnvoll umzuleiten, so dass keine Gefahr für eine Massenpanik bestand.
„Was haben Sie herausgefunden?“, fragte Meyer eine Stunde später Dr. Furrer. In der Zwischenzeit waren er und die Spurensicherung samt Leichenwagen und Bestatter aufgekreuzt und haben ihre Arbeit verrichtet, während Meyer und Steiner im „Burger King“ in der Haupthalle ihr verspätetes Frühstück eingenommen haben.
„Der Todeszeitpunkt liegt zwei Tage zurück. Details kann ich erst nach einer eingehenden Untersuchung im Labor sagen.“
„Also definitiv war der Todeszeitpunkt dieser Frau hier vor demjenigen der Leiche am Sihlquai?“
„Mit ziemlicher Sicherheit, ja.“
Meyer drehte sich um und wandte sich an einen nebenstehenden Bauarbeiter. Er wurde ihm als derjenige vorgestellt, welcher die Leiche entdeckt hatte.
„Wann haben Sie die Leiche gefunden?“
„Vor rund einer halben Stunde. Ich habe danach sofort die Polizei informiert“
„Haben Sie sie das erste Mal gesehen?“
Der Arbeiter nickte. „Dieser Teil ist sonst komplett für die Baustelle abgeriegelt. Ich habe heute nur den üblichen Kontrollgang absolviert.“
„Wie oft wird denn dieser Kontrollgang gemacht?“
„Einmal pro Woche. Er dient der Sicherheit. Es wird geprüft, ob eine Einsturzgefahr des Shopville besteht. Wissen Sie, seit dieser Geschichte mit dem Bahnhofplatz sind wir sehr vorsichtig.“
Meyer nickte. Er konnte sich noch deutlich dran erinnern.
Unter den Geleisen 4 bis 9 der Haupthalle wird bis 2014 ein unterirdischer Bahnhof fertig gestellt, nebst den jeweils 1990 eröffneten Tiefbahnhöfen der SZU und der S-Bahn bereits der dritte am HB. Der Bahnhof ist Bestandteil einer vorwiegend unterirdischen Durchmesserlinie nach Oerlikon, welche westwärts gen Altstetten in einer zweiten Etappe in Form von zwei Brücken ihre Fortsetzung finden wird. Dem nach der rechtwinklig zu ihm verlaufenden Löwenstrasse benannten Bahnhof folgt der Weinbergtunnel, welcher unmittelbar vor dem Bahnhof Oerlikon die Bahnlinie an die Erdoberfläche ausspuckt. Die Linie soll den Aufenthalt für Fernverkehrszüge in West-Ost bzw. Nord-Süd-Richtung erheblich reduzieren und die Engpässe im S-Bahn-Verkehr beseitigen. Im Frühjahr 2009 war unter dem Zürcher Bahnhofplatz eine der Tunnelbohrmaschinen auf Widerstand gestossen, woraufhin eine grosse Instabilität des Erdbodens entstand. Als Sicherheitsmassnahme musste der gesamte Bahnhofplatz samt Tramhaltestelle wegen Einsturzgefahr abgeriegelt werden.
Meyer wandte sich wieder an Furrer:
„Wie lange war die Leiche hier gelegen?“
„Ich würde sagen, mindestens 24 Stunden!“, antwortete Dr. Furrer. Diese Nachricht fror Meyer. Er war vor etwas mehr als 12 Stunden hier entlanggelaufen, als er von Pfäffikon kam. Knapp zwei Meter von ihm entfernt war eine tote Frau gelegen, ohne dass es jemand bemerkt hatte.
„Wenn Sie fertig sind, machen Sie mir ein paar Abzüge der Fotos der Toten“
Dr. Furrer salutierte grinsend: „Aye, aye, Käpt’n!“
„Übrigens, was ist mit der Leiche im Wohnwagen. Haben Sie etwas Neues herausgefunden?“
Dr. Furrer schüttelte den Kopf. „Wie ich es Ihnen gesagt habe, Kommissar Meyer. Der Dolchstoss in die Bauchgegend hatte Leber und Milz zerfetzt und auch die Todesursache. Ich bin mir sicher, dass es einen Zusammenhang zwischen der Toten im Wohnwagen, dem Opfer ans der Zwinglistrasse und der Leiche hier gibt. Nicht nur wegen den Schnittwunden. Sie alle drei wurden auch auf ein und dieselbe Art ermordet!“