Читать книгу Strich - Daniel Wächter - Страница 5

Kapitel 1

Оглавление

Sonntag, 12. Dezember 2010, 15:00

Gian Meyer stand etwas abseits einer grossen Traube von Polizeibeamten auf dem Rasen eines Grundstückes an der Römerstrasse östlich des Winterthurer Stadtzentrums. Das heisst, der Rasen lag unter einer knapp fünf Zentimeter hohen Schneedecke. Er hatte den Kopf gesenkt. Ein Aussenstehender hätte diese Haltung vermutlich als Denkpose interpretiert, aber in Wirklichkeit musste Meyer durchatmen. Dieser Einsatz machte ihm mehr zu schaffen als jeder vorangegangene. Der Kommissar studierte seine Fussabdrücke, die den Schnee durchgedrückt haben und das Gras zum Vorschein brachten. Er machte einige Schritte. Mit einem Platschen wurde der Schneematsch zusammengedrückt und Wasser bildete sich. Wasser, das durch seine angeblich wasserfesten Winterstiefeln rann und seine Socken nässte.

Es hatte wieder zu schneien begonnen. Grosse dicke Schneeflocken, die von Matsch zeugten, fielen von der tief hängenden Wolkendecke.

Vor knapp zwei Minuten waren vier Streifenwagen der Polizei durch Winterthur gerast und hatten mit quietschenden Reifen den Rasen des Grundstücks platt gewalzt. Die vom Schnee befreite matschige braune Erde gab das gezackte Reifenprofil der Wagen exakt wieder. Als die Beamten sich Zutritt zu dem zweistöckigen Einfamilienhaus direkt an der Einfahrt verschaffen wollten, trat ein Ehepaar mittleren Alters aus der Tür.

„Wir möchten mit ihrem Sohn sprechen!“, hatte Meyer gesagt. Es schien ihm eine Ewigkeit her. Alles war wie ein Routineeinsatz.

Doch er stiess auf Widerstand.

„Wieso?“, hatte ihn die Frau skeptisch gefragt.

„Wir haben die Auffassung, dass er seine Freundin ermordet hatte“

Trotz dieser Indiskretion hatte der Kommissar keine Chance. Im Gegenteil, sie hatte die Konfrontation sogar noch verschärft.

Meyer sah auf und wischte sich Schnee, der ihm fortwährend auf die Augenpartie fiel, weg.

Die restlichen Polizisten hatten sich um das Ehepaar geschart. Es schien sehr aufgebracht zu sein.

„Was unterstellen Sie nur meinem Sohn!“, hörte Meyer die Frau keifen. Meyer glaubte, sie würde jeden Moment ein grosses Messer hinter dem Rücken hervorziehen und die Beamten abschlachten.

„He, Meyer!“ Jemand riss ihn aus seinen Gedanken.

Der Kommissar sah auf und sah, wie ein junger Mann intensiv zu ihm winkte. Es war sein designierter Nachfolger Ramon Steiner, ein aufstrebender 25-jähriger Neuabsolvent der Polizeischule aus Bülach. Steiner hatte das dunkelblonde Haar seitlich gekämmt.

Meyer ging auf ihn zu.

Es war bisher ein strenges Wochenende gewesen für den Kommissar, bis sie endlich auf die Spur des Mörders einer schwangeren 17-jährigen in Winterthur-Wülflingen gekommen waren. Als Vorsitzender der kantonalen Kripo reichte das Einzugsgebiet von Meyers Fällen, durchschnittlich vier pro Monat, über den gesamten Kanton Zürich, meistens beziehen sie sich doch auf die Stadt Zürich, wo der Kommissar im Schnitt zwei Fälle pro Monat zu lösen hatte. Der dritte monatliche Fall ereignete sich generell in der Agglomeration Winterthur, ansonsten kamen die restlichen Notrufe wegen Mordes oder Vergewaltigung, die den vierten Fall ausmachen, mehr oder weniger aus dem Ober- oder dem Unterland, seltener aus dem Weinland, das mit knapp einem Verbrechen pro Jahr die klar niedrigste Quote aufwies.. In der Weihnachtszeit ereigneten sich statistisch gesehen mehr Kapitalverbrechen als in den übrigen elf Monaten des Jahres.

Die 17-jährige wurde offensichtlich von ihrem 19-jährigen Freund erdrosselt, nachdem sie ihm die Schwangerschaft gebeichtet hatte – sie war nämlich von ihrem Vater, der sie regelmässig vergewaltigt hatte, geschwängert worden. Meyer kriegte die Bilder des Mädchens, die feuerroten Abdrücke des als Tatwaffe genutzten Taus an ihrem Hals, der starre Blick, die geweiteten Pupillen, das Erbrochene in ihrem Rachen, kaum aus dem Kopf. Ihr Freund, der in einem Seuzacher Kindergarten seinen Zivildienst absolvierte, hatte den Tau von einem Klettergerüst des Kindergartenspielplatzes abgeschnitten. Er hatte auf Meyer nie den Eindruck eines eiskalten Mörders verübt, so wie er weinend in seinem Zimmer dasass, als er zum ersten Mal befragt wurde. Weinend, so dachte Meyer damals, aus Trauer um den herben Verlust seiner Freundin. Dass es einfach nur Verzweiflung hätte sein können, wäre dem Kommissar nicht im Geringsten in den Sinn gekommen. Das weit über den Horizont reichende Denken, das dem ehemaligen Interpol-Agenten den Weg zum Kripochef des Kantons Zürich geebnet hatte, war mit zunehmendem Alter immer mehr in den Hintergrund gerückt, bis es nun gar nicht mehr zum Vorschein zu kommen scheint.

Und nun standen sie abermals vor dem Haus.

„Komm Gian! Wir müssen rein!“, sagte Steiner.

Meyer warf einen Seitenblick auf das Ehepaar. Die Ehefrau konnte sich nicht beruhigen, obwohl fünf Beamte auf sie einredeten. Tränen flossen wie Sturzbäche über ihre Wangen.

„Er hat nichts gemacht! Lassen Sie ihn doch in Ruhe, suchen Sie doch alle Fehler bei sich selbst!“, schrie sie wild gestikulierend. Ihre Stimme überschlug sich fast.

Meyer sah Steiner zweifelnd an.

„Nun sei kein Angsthase! Es ist schrecklich, ich weiss, aber wir haben keine andere Wahl!“, rief Steiner.

„Ramon, ich glaub, ich habe genug von allem!“

Steiner kicherte leise und klopfte Meyer auf die Schulter.

„Hör mal Gian! Du bist der alte Hase im Geschäft! Du hast alle Fälle gelöst! Klar geht das an die Substanz, aber du bist nicht nur mein Vorbild, du bist der Grandseigneur! Das Symbol des Kampfes gegen alle Verbrechen im Kanton! Also reiss dich zusammen!“

Steiner stapfte mit schweren Schritten zur offen stehenden Wohnungstür.

Meyer war über Steiners emotional geführten Vortrag sichtlich überrascht und schaute seinem Kollegen nach, wie er auf den Hauseingang zuging. Erst als Steiner wild winkte und ihm mit einer geschwungenen Handbewegung zum Eingang bewegen wollte, setzte er sich in Bewegung.

„Wenn du meinst“, sagte er und folgte seinem Kollegen. Als sich die Eltern des Tatverdächtigen den beiden Ermittlern in den Weg stellen wollten, wurden sie von den Beamten gewaltsam zurückgehalten. Meyer glaubte gar einen schwingenden Gummiknüppel gesehen zu haben.

Sie betraten das Haus. Der Eingang war geschmacksvoll eingerichtet. Eine Holzbank im englischen Stil bildete das Entree. Eine grosse Topfpflanze war als Schutz vor der Kälte in den Eingangsbereich getragen worden. Meyer konnte trotz eines kleinen botanischen Wissens den genauen Namen der Pflanze nicht eruieren. Eine geschwungene Holztreppe führte ins Obergeschoss, an eine vom Eingangsbereich abgehende Tür war ein hellbraunes Holztäfelchen angenagelt, auf dem dunkelbraun Keller eingebrannt wurde. Auf einem zweiten stand Garage und auf einem dritten Wachküche. Meyer fragte sich, ob das fehlende s den Bewohnern schon aufgefallen war.

Meyer und Steiner gingen ins Obergeschoss. Hier gingen rechterhand mehrere Türen ab. Auch sie waren mit den eingebrannten Holztäfelchen bestückt: Küche, Toilette, Schlafzimmer, Leandra, Raphael, Büro. An der Decke waren die Umrisse der herauszuziehenden Dachstockleiter zu sehen. Auf der linken Seite der beiden Ermittler lag ein mittelgrosses Wohnzimmer, das einzige Zimmer, das von der Diele aus nicht durch eine Tür versperrt war. Ein doppelter Deckenstrahler hing fest an einem der Dachbalken aus Holz, ein Flachbildfernseher hing an der Wand, direkt unter der abfallenden Schräge des Daches. Auch hier befanden sich wieder einige Pflanzen, die Familie schien ein Faible zu haben, gar den grünen Daumen zu besitzen. Der um die Ecke dem Fernseher gegenüber stehende Kamin schien seit Jahren nicht benutzt worden zu sein. Nur zwei Holzscheite lagen in einem Kupfertopf und die Rückwand des Kamins war stark verrusst. Auf dem Tisch auf halben Weg zwischen Kamin und Fernseher stand ein grüner Adventskranz, auf dem drei der vier roten Kerzen brannten. Irgendwo dudelte ein Radio gerade die neusten Hits der Weihnachtshitparade auf und ab.

Steiner schaute Meyer fragend an und wies auf die Tür mit dem Raphael-Schild. Meyer nickte.

Die beiden Ermittler gingen auf die Tür zu Raphaels Zimmer zu. Raphael Ferkovic, das war der Name des Hauptverdächtigen.

Meyer setzte die Faust zum Klopfen an, atmete tief durch und prasselte mit der Faust ein paar Mal gegen das Holz der Tür.

„Aufmachen!“, schrie der Kommissar.

Nichts geschah.

Meyer trommelte stärker gegen die Tür, bis sie nachgab und sich öffnete.

Das Zimmer war wie jedes gewöhnliche eines Jungen in seinem Alter eingerichtet. Martin hatte seins in Gertruds Haus in Oerlikon ähnlich gestaltet, das letzte Mal, dass er es gesehen hatte, war letztes Jahr gewesen.

Wie im Wohnzimmer war auch hier die Schräge des Daches deutlich zu erkennen, zwischen den Dachbalken hingen Bilder, die vermutlich aus Raphaels Kinderzeit stammten. An der Rückseite der Tür wurde diagonal ein Schal des lokalen Challenge League-Klubs FC Winterthur aufgehängt, mit Nadeln war er am Holz der Tür befestigt worden. Ein Bett, ein Tisch mit einem modernen Computer, eines dieser angesagten iPhones samt den berühmten Apple-Kopfhörern auf dem Tisch und ein Schrank. An der Wand hingen ein Poster des englischen Spitzenvereins Manchester United, aufgenommen bei der Siegesfeier des bisher letzten Champions League-Triumphes 2008 in Moskau sowie ein zweites der Simpsons. Homer, Marge, Bart, Lisa und Maggie grinsten, auf ihrem braunen Sofa sitzend, von der Wand hinunter. Auf einem offenen Regal neben dem Bett stand ein Foto. Es zeigte ein hübsches Mädchengesicht, das lachte: Vanessa, das Opfer. Niemals wird sie auf dieser Erde je wieder lachen. Meyer beschlich ein trauriges Gefühl.

Raphael Ferkovic sass vor dem Computer und spielte ein Game, dessen offene Hülle neben dem Jungen auf dem Boden lag. Counterstrike. Diesem Egoshooter war Martin zu Zeiten der Scheidung zwischen ihm und Gertrud auch verfallen gewesen. Bei Martin diente es als Ablenkmanöver während eines Durchhängers an der Schule – er war im August 2008 im dritten Schuljahr des Gymnasiums sitzen geblieben, bei Raphael diente Counterstrike zum Ablenken vom Tod der Freundin – oder von seiner grauenhafte Tat selbst – zur Überdeckung von Schuldgefühlen etwa.

„Verdammt!“, fluchte der Junge und schlug mit beiden Händen auf die Tastatur, nachdem seine Spielfigur vom Feind erwischt worden war.

‚You have no bullets!’, stand in hellgrünen Lettern über der Waffe, die aus der Sicht des Betrachters in den Hintergrund der dreidimensionalen Grafik zielte. Raphael hatte den Besuch der beiden Beamten noch nicht bemerkt.

Meyer räusperte sich.

Raphael fuhr panisch herum. Das längere schwarze Haar war ihm ins Gesicht gefallen. Er erkannte Meyer und Steiner vom gestrigen Besuch, als sie ihm die Nachricht von Vanessas Tod überbracht hatten.

„Was machen Sie hier?“, fragte er sichtlich erschrocken.

„Gib es zu, Raphael. Das was du mit Vanessa gemacht hast!“, erwiderte Meyer ruhig.

„I-Ich hab nichts gemacht!“ Er schüttelte energisch den Kopf. Meyer sah, dass der Junge mehrmals geweint hatte. Die Gegend um die Augen war stark gerötet.

„Wir wissen es. Haben Beweise. Du hast sie erdrosselt, weil sie von einem anderen schwanger war!“

„Es war ihr Vater, verdammt noch mal!“, schrie Raphael auf, schleuderte die Tastatur an die Wand und begann zu schluchzen. „Dieser perverse Sack!“

Das Schluchzen wurde immer stärker, zwischendurch japste der Junge um Luft zu schnappen.

„Immer hat sie geheult, immer ging es ihr schlecht, weil er sie wieder mal gefickt hatte. Sie hatte keine Chance. Mit Gürteln hatte er sie am Bett festgezurrt und sie dann vergewaltigt, anal und vaginal. Manchmal kam noch ein Freund von ihm vorbei und sie taten es gleichzeitig. Ich wollte ihr nur helfen und sie von ihren Qualen befreien“, fügte er hinzu, nachdem er sich ein wenig beruhigt hatte.

„Hat Sie Ihnen…dir etwas davon erzählt?“, fragte Meyer leise. Er ekelte sich schon ab der Vorstellung, was Vanessa zu Lebzeiten widerfahren war.

„Nein!“, schluchzte Raphael. „Sie war immer scheisse drauf, aber einmal, als ich mit ihr ein Date hatte, war ich zu früh dran.“ Er rang nach Worten. „Ihr Zimmer ist…war ebenerdig. Man konnte von der Einfahrt direkt hineinsehen. Und da sah ich, wie ihr Vater…sie…“ Er heulte drauflos. „Ich wollte ihr wirklich nur helfen! Glauben Sie mir, es war das Beste für sie!“

„Aber gleich mit Mord?“, wollte Meyer wissen, der den Jungen für weniger zurechnungsfähiger hielt als es zunächst den Anschein gemacht hatte.

„Ihre Seele war beschädigt, ihr Leben verschmutzt. Jeden Tag hätte sie an diese scheusslichen Sachen denken müssen, jeden Tag! Wer will da noch leben!“

„Es tut uns leid, Raphael, aber wir müssen dich mitnehmen!“

Da brach der Junge erneut in Tränen aus und fiel vom Stuhl. Keuchend schnappte er nach Luft. Der Brustkorb senkte sich rasend schnell.“

Meyer kniete zu ihm nieder und versuchte, ihn zu beruhigen.

„Ganz ruhig! Du hast das getan, was du für richtig hieltst!“

„Ich wollte ihr doch nur helfen!“, jammerte Raphael.

Der Junge war vermutlich mit der Situation überfordert gewesen und sah in Mord den einzigen Ausweg. Jedoch lag das nicht dem Mangel an Erfahrung bei Streitlösungen zugrunde, auch Rentner morden noch. Meyer schien dem Täter tatsächlich zu glauben, dass der Junge vielleicht das Mädchen vor den Qualen des Vaters schützen wollte. Estermann war fuchsteufelswild geworden und hatte Meyer als Perversling bezeichnet.

„Wann begreift es diese Welt endlich, dass Worte die beste Lösung von Konflikten sind?“, pflegt Meyers Chef, der Polizeipräsident Philipp Estermann, stets zu sagen.

Dieses Zitat war Meyer während des Wochenendes mehrmals durch den Kopf gegangen.

Aber auch für die Ermittler waren die Untersuchungen ein Grauen gewesen, allen voran der Vater der Toten, welcher zu allem Übel noch mit dem Inzest geprahlt hatte. Meyer hätte am liebsten gekotzt, als dieses Arschloch vor ihm stand und nur so vor Testosteron geprotzt hatte.

Zur selben Zeit betrat Lilijana Perkovic die Skymetro am Terminal E in Kloten und setzte sich auf einen der freien Plätze. Vor etwa einer halben Stunde war sie aus Pristina gelandet. Vor zwei Monaten war ein Mann an ihr Gymnasium gekommen, der ihr gesagt hatte, dass ihre naturwissenschaftlichen Talente massiv beeindruckten und die Eidgenössisch-Technische Hochschule in Zürich massives Interesse hätte, sie in ihren Studiengängen zu begrüssen. Sie würde es auch in Kauf nehmen, ausnahmsweise eine Studentin unter den Semestern zuzulassen. Sie hatte sofort zugesagt – eine Chance wie diese sollte man packen. Sie wollte das Studium absolvieren, um ihre Eltern finanziell im Kosovo zu unterstützen. Immerhin hatte sich das Land von Serbien loseisen können, doch die fehlende Infrastruktur und der Mangel an Rohstoffen liessen das Land verarmen.

Der Zug setzte sich in Bewegung und brauste unter dem Rollfeld des Flughafens hindurch. Wenig später ertönte die Begrüssung in der Schweiz, samt Kuhglocken und Jodelklängen und die Skymetro hielt an ihrer Endstation im Airport Center.

Sie erhob sich und passierte sowohl die Zoll-, als auch die Passkontrolle. An der Gepäckausgabe holte sie sich ihren uralten Schalenkoffer und begab sich zur Ankunftshalle. Die Menschen hier waren gut gekleidet, hasteten aber für ihre Verhältnisse ein bisschen zu viel durch die Gegend. Morgen beginnt ihr Studiengang als Bauingenieurin und die Schweiz würde für mindestens fünf Jahre ihre neue Heimat sein. Sie wird sich dran gewöhnen.

In der Ankunftshalle erblickte sie einen dunkelhaarigen Mann, der in seinen Händen ein Pappschild mit ihrem Namen trug. Der Mann an der Schule hatte ihr versprochen, dass ihr in der Schweiz ein Mann zur Betreuung zur Seite gestellt würde. Das also war er, ein bisschen zu alt für ihren Geschmack, aber das konnte man sich ja nicht aussuchen. Lilijana wippte mit dem Kopf und ging auf ihn zu.

„Guten Tag, ich bin Lilijana Perkovic!“, radebrechte sie auf Deutsch. Diese Sprache hatte sie in den letzten zwei Monaten wie besessen gebüffelt.

Freundlich lächelnd schaute sie ihn an und war sich sicher, dass sie ihm vertrauen konnte.

Sie streckte ihm die Hand entgegen, und er klatschte mit seiner behaarten Pranke auf ihren Handteller.

Die Gedanken an den Inzest und an Raphael gingen Meyer durch den Kopf, als er im Winterthurer Stadtzentrum in seinen Audi RS6 stieg. Er hoffte, dass der morgige Arbeitstag ein klein wenig ruhiger verlief. Die gesamten Ermittlungen waren für alle Beamten sehr belastend gewesen, je mehr Details des Verbrechens ans Licht gerückt waren. Obwohl Vanessas Vater ihr seelischen Schaden angerichtet hatte und Raphael seiner Meinung nach sie nur von all der Schande befreien wollte, musste der Junge mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit für längere Zeit hinter Gitter als ihr Vater, da das Schweizer Gesetz nun mal Kapitalverbrechen mehr bestraft als Sexualverbrechen. Gerade in diesem Augenblick hätte Meyer die vor kurzer Zeit von rechtsextremen Anhängern ins Spiel gebrachte Einführung der Todesstrafe bei Sexualverbrechen unterstützt, obwohl seine politischen Vorstellungen überhaupt nicht mit denen der Rechtspopulisten übereinstimmten.

Nach der Verhaftung Raphaels wegen Mordes waren sie nach Wülflingen gefahren, wo sie endlich den Widerstand von Vanessas Vater überwinden konnten und die Staatsanwältin Dr. Elisabeth Göhner sofort Anklage gegen ihn wegen Blutschande erhoben hatte.

Raphael wurde danach ins Präsidium nach Zürich gefahren und von Meyer und Steiner ausgiebig befragt. Er hatte weiterhin bekräftigt, ihr nur geholfen zu haben. Die beiden Ermittler haben den Fall danach in die Hände der Jugendrichterin übergeben und kriegten dann von Estermann den Rest des Tages frei.

Die Bilder der Verhaftung gingen immer noch durch Meyers Kopf, als er gegen sechs Uhr abends auf der Westumfahrung Zürich im Stop-and-Go-Verkehr das Autobahndreieck Zürich West bei Wettswil passiert hatte. Er war in Wülflingen direkt auf die A1 gefahren und wollte direkt nach Horgen. Bereits bei der Aubrugg und am Limmattaler Kreuz war die Autofahrt zu einer Geduldsprobe geworden. Aber immerhin, sie liess Meyer wilde Gedankengänge zu. Das Leben, das Raphael Ferkovic mit der angeblichen Schutztat an Vanessa dieses Wochenende zerstört hatte, beschäftigte der Kommissar. Er hatte Angst, dass Martin auch eine solche Tat vollbringen würde. Zwar war Martin, ganz im Gegensatz zu Raphael, wie es den Anschein machte, ein rationell denkender Mensch und liess sich nicht allzu viel von Gefühlen leiten, aber ein, nur einer, emotionaler Ausbruch kann einen Menschen in ein ganz anderes Wesen verwandeln.

12. Dezember, 22:57 Uhr

Die Haupthalle des Zürcher Hauptbahnhofes war trotz der späten Stunde immer noch voller Leben.

Eine Unmenge an Menschen hastete durch die leere Haupthalle des Hauptbahnhofes in Richtung des Ausganges beim Alfred-Escher-Denkmal hin zur Bahnhofstrasse. Die rot leuchtende Neonspirale am Ausgang zur Quaibrücke erhellte das Gebäude. Gegenüber hing ein weiteres, mit Tieren und neonroten Spiralen versehenes, Kunstwerk an der Wand. Auf ihm prangten kleine Zahlen, die nach dem gleichnamigen italienischen Mathematiker benannte Fibonacci-Folge, bei der die zwei vorangegangen Zahlen addiert die aktuelle ergibt: 1, 2, 3, 5, 8, 13, 21 und so weiter. Doch sie wurde von niemandem richtig wahrgenommen.

Auch der bunte, mit goldenen Flügeln versehene Engel der inzwischen verstorbenen Niki de Saint Phalle, ihres Zeichens geniale Künstlerin und Ex-Frau von Jean Tinguely, der am Dach hing und den Reisenden der SBB Gottes Segen gab, schien friedlich zu schlafen. Nur wenige Beobachter reckten den Blick auf den Engel, zu viele sind sich an ihn gewöhnt, sie liessen sich durch die Farbenfröhlichkeit nicht mehr vom Hocker reissen.

Immer wieder hallte das kurze, zischende Geräusch, eines von einem von der Fahrleitung abgekoppelten Stromabnehmers einer Lokomotive durch die Gleishalle.

Die Ansagerin kündigte gerade einen InterCity nach Basel SBB an, wenig später rumpelten die von einer Lokomotive gestossenen Wagen rückwärts in den Bahnhof.

Jedoch fanden sich nur wenige Leute am Bahnsteig ein.

Menschen hasteten, um dann am Bahnsteig die roten Rücklichter ihres Zuges zu sehen, wenn er die Halle in Richtung Zielort verlässt. Ihre Flüche waren gelegentlich zu vernehmen.

Auch ein Reisender, der den Zug nach Basel knapp verpasste, war ein solcher Fall.

Die Taxifahrer bei der Zollbrücke am Bahnsteig Gleis 18 hatten Hochbetrieb.

Der Bahnhofsseelsorger schloss seine Kirche und machte sich wohlverdient an den Heimweg. Heute musste er sich um ein kleines gestrandetes Mädchen aus Italien kümmern, das in Mailand vor den Augen seiner Mutter in den Zug nach Zürich gestiegen war – obwohl die Mutter Fahrkarten nach Bern gekauft hatte. Er hatte es seiner angenommen und hatte es schliesslich auf den nächsten Zug nach Bern begleitet, wo sich die Mutter sicherlich über das Auftauchen ihres Töchterchens freute. Ansonsten hatte er nicht viel zu tun gehabt, nur ein Araber, der grosse Flugangst hatte und sich grässlich vor dem Heimflug nach Dubai gefürchtet hatte.

An der Ecke, beim halbrunden SBB-Informationsschalter, hockte ein Penner am Boden, den Hund neben sich, um sich Plastiktaschen aus verschiedenen Discountern wie Denner, Aldi oder Lidl um sich geschart. Der Kopf war ihm auf die Brust gefallen, und leise liess er schnarchende Laute von sich geben. Auch der Hund schien zu schnarchen. In der Nacht war der HB vielfach die einzige Anlaufstation für Landstreicher. Zwei patrouillierende Bahnpolizisten liessen ihn gewähren und setzten ihren Rundgang auf den Bahnsteig beim Gleis 18 fort.

Das Band, über das tagsüber digital in weissen Punkten Werbeslogans der SBB flimmerten, war gänzlich schwarz und in der Dunkelheit nur schwer auszumachen.

Niemand nahm den mit schwarzer Wollmütze und schwarzem Schal vermummten Mann wahr, der um zwei Minuten vor elf mit einer grossen, dunklen Sporttasche auf den Schultern gemächlich die Treppe von der Gleishalle zum Untergeschoss mit der Einkaufspassage und dem Zugang zum Bahnhof Museumstrasse hinunterschlenderte.

Er machte den Eindruck, dass er von ausserhalb des Bahnhofs käme, denn die Temperaturen lagen, für diese Jahreszeit typisch, tief unter dem Gefrierpunkt.

Als der Mann vor dem abgesperrten Bereich einer Baustelle war, drehte er den Kopf nach links und nach rechts, und als gerade niemand die Unterführung zum Shopville entlang gehastet kam, überschritt die nur aus einem Plastikband bestehende Absperrung, die eine kleine Fläche vor der eigentlichen Baustelle absicherte. Diese Fläche wurde, jetzt in der Nacht, als Abstellplatz für kleinere Baugeräte benutzt. Einer der Bauarbeiter hatte sogar seinen Helm auf den Platz geworfen, als er Feierabend gehabt hatte. Lose lag er auf dem Deckel, die Bänderteile hingen lose über den Rand.

Achtlos wurde er vom Eindringling an eine Wand getreten. Leises Scheppern hallte durch die Unterführung, als der Helm zurück auf den Boden fiel.

Der Mann nahm mit einer schwungvollen Bewegung die Tasche vom Rücken. Sie war schwer. Behutsam liess er sie auf den Boden gleiten und zerrte den Reissverschluss auf.

Dann griff er hinein. Der mit Leintüchern umwickelte Gegenstand war schwer. Er verspürte grosse Mühe, ihn herauszuziehen.

Strich

Подняться наверх