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1. Der folgenschwere Brand
ОглавлениеSteven war erschöpft. Den ganzen Tag hatten sie damit verbracht, die ersten Früchte und das Gemüse zu ernten, das bereits reif war, Holz zu hacken und in den Keller zu bringen. Hier im Waisenhaus mussten sie alle gemeinsam anpacken, um möglichst unabhängig zu sein. Dieser Sommer brachte reiche Ernte, das bedeutete, sie hatten eine Menge Vorräte für den Winter, mussten wohl diesmal keinen Hunger leiden. Aber es bedeutete eben auch sehr viel Arbeit für alle Kinder und Mrs. Duncan. Die Mädchen, die sonst zum Helfen kamen, mussten derzeit zuhause helfen, konnten sie deshalb nicht unterstützen. Hier waren er selbst und die anderen Jugendlichen im Waisenhaus gefragt, Mrs. Duncan verließ sich auf ihre Hilfe. Vor allem mit den kleineren Kindern.
Zum Glück hatte Mrs. Duncan vor kurzem einige der kleinsten Kinder tatsächlich vermitteln können, sie hatten nun ein richtiges Zuhause. Steven war ein wenig neidisch, aber auch realistisch. Er war schon viel zu alt, um für mögliche Adoptiveltern interessant zu sein. Nein, die zogen Babys oder wenigstens Kleinkinder vor. Ihm war klar, dass er weiterhin im Waisenhaus leben würde, bis er in einigen Jahren erwachsen war. Er wollte nicht undankbar sein, Mrs. Duncan tat wirklich viel, und sie liebte alle ihre Kinder gleich. Natürlich konnte sie sich nicht so intensiv um alle kümmern, als wenn sie nur ein oder zwei Kinder hätte. Dennoch sah sie zu, dass es keinem ihrer Kinder an etwas fehlte.
Auch jetzt, bei der Ernte, schuftete Mrs. Duncan von Sonnenaufgang bis zur Dunkelheit am Abend. Sie half bei der Ernte der verschiedenen Früchte, verarbeitete diese so, dass sie haltbar wurden, kochte gleichzeitig auch noch das Essen für alle Kinder. Steven und zwei andere Jugendliche in seinem Alter waren nicht so sehr mit den Früchten und dem Gemüse beschäftigt, sondern eher mit dem Holz. Hier in Arizona war es eher selten, sodass sie immer darauf achteten, nicht zu viel zu fällen. Im Gegenteil, für jeden Baum, den sie fällten, pflanzten sie zwei neue. Vor allem Kristina hatte in den letzten Jahren immer wieder Tannen- und Fichtenzapfen gefunden, die bereits austrieben. Diese hatten sie dann im Wald angepflanzt. Einige davon konnten sie inzwischen bereits fällen und hacken, sodass sie im Winter heizen konnten. Auch der Ofen in der Küche brauchte eine Menge Holz, wenn Mrs. Duncan kochte. Und sie versuchte, wenigstens einmal am Tag eine warme Mahlzeit für sie zu bereiten, meist am Abend, wenn die Arbeit getan war.
Der heutige Tag hatte sich gegen Mittag verdunkelt, und einige der jüngeren Kinder waren voller Angst zu Steven oder ins Haus gerannt , doch es war nur eine Sonnenfinsternis gewesen. Schnell hatten sich alle wieder beruhigt, und sie waren zurück an ihre Arbeit gegangen. Steven schwitzte stark, nicht nur, dass der Tag ziemlich heiß war, sondern die schwere Arbeit hatte ihn ausgelaugt.
Kristina hatte er nicht gesehen, sie war wahrscheinlich bei Jessica, vermutlich ernteten die Beiden das Gemüse auf der anderen Seite des Hauses . Die Rothaarige war in den letzten Wochen deutlich netter zu Kristina gewesen als früher, scheinbar war sie dankbar dafür, dass das Mädchen sie und Eric schnell genug gefunden hatte, um sie zu retten. Immerhin bemühte sie sich jetzt, freundlich zu der Achtjährigen zu sein, nahm sie unter ihre Fittiche. Ab und zu jedenfalls. Jessica fand Kristina noch immer unheimlich, womöglich sogar noch mehr als vorher, aber ihr war durchaus bewusst, dass Kristina sie und Eric gerettet hatte, daher bemühte sie sich nun, freundlich zu der Jüngeren zu sein, sie vor den anderen Kindern ein wenig zu schützen. Ja, Steven war fast sicher, dass er die kleine Schwarzhaarige bei Jessica finden würde. Oder hatte sich Kristina wieder zu den Indianern geschlichen, wie sie es mindestens ein oder zwei Mal die Woche machte? Sie musste vorsichtig sein, es waren immer mehr Soldaten in der Nähe unterwegs.
Er hatte herausgefunden, dass die Navajos, zu denen Raven gehörte, eigentlich ein ganzes Stück von hier weg zuhause waren, sich aber offenbar hier in der Umgebung ein wenig sicherer fühlten. Wahrscheinlich suchten die Soldaten hauptsächlich in ihrem ursprünglichen Jagdgebiet. Hier in der Gegend gab es eine Menge Canyons, in denen sie sich verstecken konnten, sollten sie ihr jetziges Lager abbrechen müssen. Manche davon waren kaum zugänglich, dort wären sie sehr sicher, aber es war auch schwer, mit den Ponys und dem Wagen ungesehen dort hinein zu kommen. Wahrscheinlich waren sie deswegen in der Ebene nahe des Waisenhauses, vermutete Steven.
Er hatte nur sehr vorsichtig Erkundungen eingezogen, da er niemanden darauf aufmerksam machen wollte, was er wusste. Auf keinen Fall wollte er diese Menschen verraten. Daher nahm er sich vor, Kristina zu warnen, dass sie eine Weile nicht mehr hinging. Nicht, dass ihr doch noch Soldaten folgten. Auch wenn die Kleine ungewöhnlich vorsichtig war, vor allem für ihr Alter. Dennoch konnte eine Warnung nicht schaden. Aber für den Moment war er einfach zu müde, also legte er sich in sein Bett. Gegessen hatte er draußen, nur ein Sandwich, bevor er weiter gehackt hatte. In den nächsten Tagen würde wohl Regen kommen, befürchtete Mrs. Duncan, daher beeilten sie sich mit dem Holz, damit es trocken blieb. Neben ihm schnarchte Eric bereits. Das Waisenhaus wurde ruhig. Steven schätzte, es war etwa zehn Uhr abends, da schliefen sicher ziemlich alle, bis auf Mrs. Duncan, die war oft halbe Nächte auf, um alles in Ordnung zu halten und auf sie zu achten.
Steven war der Heimleiterin mehr als dankbar, dass er hier ein Zuhause gefunden hatte. Seit etwa seinem fünften Lebensjahr lebte er hier. Er konnte sich nicht an seinen Vater erinnern, wusste aber, dass der ihn alleine aufgezogen hatte, weil seine Mutter bereits kurz nach seiner Geburt gestorben war. Doch als Steven nicht ganz vier Jahre alt gewesen war, wurde sein Vater ebenfalls getötet. Das war im Krieg passiert, obwohl er eigentlich gar kein Soldat war. Da es niemanden gegeben hatte, der sich nun um den Jungen sorgte, war er zu Mrs. Duncan und ihrem Mann gebracht worden, die sich um Waisenkinder kümmerten.
Kurz danach war auch Mr. Duncan gestorben, Steven konnte sich nur sehr vage an den Mann erinnern. Der Sheriff hatte damals über ihn selbst wohl nur herausgefunden, dass seine Eltern aus dem Osten gekommen waren, um hier im Westen ein neues Leben anzufangen. Er hatte nie herausgefunden, ob Steven noch lebende Verwandte hatte. Nun war er bald fünfzehn Jahre alt und würde wohl nicht mehr lange hier im Waisenhaus bleiben können. Die Armee brauchte ständig neue Soldaten, und gerade Waisenkinder holten sie gerne in ihre Reihen, da die oft ungewollt waren. Keiner vermisste sie. Steven war alt genug um zu verstehen, dass es Mrs. Duncan zwar nicht gefiel, sie aber nichts dagegen tun konnte. Sie war darauf angewiesen, dass die Öffentlichkeit sie unterstützte, ansonsten hatte sie keine Chance, das Waisenhaus weiter zu halten, und die Kinder würden dann sich selbst überlassen werden. Nein, das würde sie nicht zulassen, da versuchte sie lieber, die Jungen, die alt genug waren, irgendwo in eine Beschäftigung zu bringen.
Bald würde er gehen. Diese Ernte machte er noch hier mit, danach wollte er sich eine Farm suchen, auf der er Arbeit fand. Was würde dann aus Kristina? Immer noch grübelnd schlief Steven ein, und seine Gedanken fanden fruchtbaren Boden in seinen Träumen. Er sah sich auf einer kleinen Farm, gemeinsam mit einer deutlich älteren Kristina. Sie war an seiner Seite und schenkte ihm eine Familie. Ein kleines Mädchen, das gerade so laufen konnte, kam auf ihn zu, und er lächelte, breitete die Arme aus, um den rothaarigen Wirbelwind aufzufangen, als Schreie ihn weckten. „Feuer! Es brennt!“
Die Mädchen kreischten, und er konnte Mrs. Duncans Stimme hören, die versuchte, ruhig zu bleiben und Anweisungen zu geben. „Steven, hol die Jungen zusammen und geht nach draußen. Die Mädchen folgen mir. Nehmt nichts mit, wir haben keine Zeit, aber drängelt nicht, damit niemand stürzt!“
„Kriecht auf dem Boden!“, fügte Steven hinzu, der hellwach war und im Feuerschein sah, dass überall Rauch war, der aber nach oben hin dichter wurde.
Er ließ die Jüngeren voran kriechen, folgte ihnen als Letzter. Der Rauch schmerzte in seinen Lungen, er konnte kaum atmen. Mühsam unterdrückte er den Hustenreiz und achtete auf die anderen Kinder, sodass niemand verloren ging. Nach endlosen Minuten, in denen es überall knackte und das Feuer sich ausbreitete, erreichten sie die Treppe. Von unten kam Rauch nach oben, was bedeutete, das Feuer wütete auch im unteren Stockwerk. Doch darum konnten sie sich gerade nicht kümmern, sie mussten zusehen, dass alle unversehrt nach draußen kamen. Vor ihm drehten sich die Kinder um und krabbelten folgsam, aber rückwärts die Treppen nach unten. Gegenüber war die Eingangstür, wenn sie die erreichten, hatten sie es geschafft.
Plötzlich stolperte Ben, ein sechsjähriger Junge, der noch nicht lange hier war und die Treppen nicht gut kannte. Er schrie auf und versuchte noch, sich festzuhalten, doch er scheiterte und stürzte nach unten, riss dabei einige der anderen Kinder mit. Jetzt gerieten alle in Panik, standen auf und rannten auf die Eingangstür zu. Jemand riss sie auf, und plötzlich loderten die Flammen hell auf, fraßen sich viel schneller als zuvor durch das Holz, aus dem sie fast alles gebaut hatten. Das wiederum steigerte die Panik und alle drängten sich in Richtung Tür. Mit Mühe schaffte es Steven, gemeinsam mit Mrs. Duncan nach den kleineren Kindern zu greifen, die sonst überrannt worden wären.
Endlich spürte Steven die frische Luft und hastete nach draußen. Er warf einen Blick zurück und konnte nur noch Flammen sehen. Eben stürzte die Treppe in sich zusammen und das Feuer leckte danach. Der Weg zu den Schlafräumen und dem Bad war abgeschnitten. Steven hoffte, dass alle inzwischen draußen waren.
„Hierher!“, hörte er Mrs. Duncan. Sie stand auf dem Weg in Richtung des Ortes, etwa einhundert Fuß vom Haus entfernt. Man konnte hören, dass sie eine Menge Rauch eingeatmet hatte, denn ihre Stimme krächzte angestrengt. Die Kinder sammelten sich weinend um sie, und sie war bemüht, alle zu beruhigen. Wortlos ging Steven hinüber und half ihr, indem er einige der jüngeren Kinder, die völlig aufgelöst waren, zu sich holte, sich mit ihnen hinsetzte und versuchte, sie alle gleichzeitig zu trösten. Immer wieder hustete er, genau wie alle anderen. Nach einer Weile stand Mrs. Duncan wieder auf. Sie hatte sich ins Gras gesetzt gehabt. „Steven, lauf bitte in den Ort und hole den Mayor und den Sheriff.“, ordnete sie an. „Außerdem den Doktor, er soll sehen, ob alle es gut überstanden haben. Und dann müssen wir sehen, wo wir alle Kinder unterbringen.“
Gehorsam stand auch Steven auf und lief eilig nach Supai. Er dankte Gott innerlich dafür, dass sie seit etwa einem Monat sogar einen Arzt in Supai hatten. Früher war der nächste Arzt in Flagstaff gewesen, ein Ort mehrere anstrengende Tagesreisen entfernt. Keines der Kinder in Mrs. Duncans Obhut hatte jemals einen Arzt gesehen. Für Notfälle gab es nur Karen, eine ehemalige Krankenschwester, die in einem Lazarett gearbeitet hatte und die Einwohner des kleinen Ortes versorgte. Sie waren hier in einem schmalen Tal, etwa auf halbem Weg zwischen Supai und den Mooney Falls. Kaum jemand siedelte hier, weil es nicht viel Platz zum Leben gab. Einmal hatte er Mrs. Duncan gehört, wie sie mit einem der Mädchen, die immer aus dem Dorf zum Helfen kamen, sprach. Das Mädchen hatte wissen wollen, wieso sie das Waisenhaus ausgerechnet in dieser Einöde aufgebaut hatte.
Die Antwort war damals überraschend gewesen. „Mein Mann und ich wollten den Waisenkindern helfen, und wir zogen von Ort zu Ort mit dieser Idee, doch niemand wollte uns die Möglichkeit geben. Bis wir hier in Supai landeten. Nun, es war nicht das, was wir uns vorstellten, aber wir hatten über ein Jahr gesucht, daher nahmen wir das Angebot schließlich an. Deshalb ist das Waisenhaus hier im Nirgendwo. Es ist schwer, hier alles zu erreichen, was wir wollten, aber besser, es ist schwer, als unmöglich. Und überall anders wäre es genau das geworden: unmöglich. Ich bin den Menschen hier zu Dank verpflichtet, vor allem, weil ich hier auch Unterstützung erhalte, ohne die diese Kinder nicht überleben könnten.“
Jetzt, als er durch die dunkle Nacht lief – den Weg kannte er beinahe im Schlaf – dachte er darüber nach. Ja, sie waren wirklich weit draußen. Um in einen anderen Ort zu kommen, musste man diese verwirrende und verworrene Welt aus verschiedenen Canyons erst einmal verlassen, damit man oben auf dem felsigen Boden, der sich im ständigen Sonnenschein unglaublich erhitzte, laufen konnte. Tagelang war man dann unbarmherzig der Sonne ausgeliefert, wenn man niemanden hatte, der eine Kutsche oben hinschickte. In Supai gab es nur eine Kutsche, die nutzten der Mayor und der Sheriff, wenn sie schnell irgendwohin mussten. Als er den Ort erreichte, rannte er zum Haus des Sheriffs und klopfte laut an der Haustür. „Sheriff? Sheriff, wachen sie auf! Das Waisenhaus brennt!“
Tatsächlich dauerte es nur etwa eine Minute, bis der Sheriff vor Steven stand. „Was sagst du, Junge?“, fragte er entsetzt.
„Das Waisenhaus, es brennt!“, keuchte Steven und hustete. Mit seiner Hand deutete er in die Richtung, in der das Waisenhaus war. Ein heller Schein zeigte, dass es immer noch brannte.
„Wecken wir den Mayor.“, zog der Sheriff ihn mit sich zum Haus des Ortsvorstehers. „Mayor Grant! Aufwachen! Das Waisenhaus brennt!“
Der Mayor, der ebenfalls nur wenige Minuten brauchte, um angezogen zu sein, musterte den Jugendlichen, den er vom Waisenhaus kannte. Steven wirkte – soweit man das in der Nacht sagen konnte – blass. Sein Gesicht zeugte von dem Rauch, denn es war leicht geschwärzt. Er hustete immer wieder. Auf dem Weg weckten sie noch den Arzt, der früher in einem Lazarett der Soldaten gearbeitet hatte und nun in seinen Heimatort zurückgekehrt war. Er war schon um die siebzig Jahre alt und hatte entschieden, er müsse nicht mehr arbeiten. Seine Nichte und ihr Mann hatten ihn aufgenommen, und nun unterstützte er die Bewohner des Ortes mit seinen Kenntnissen, die ihn dafür wiederum mit Holz oder Lebensmitteln bezahlten. So schnell wie möglich eilten sie zurück. Diesmal fiel es Steven etwas leichter, weil es nicht mehr bergan ging. Auch konnten sie den Trail wesentlich besser sehen, da es zu dämmern begann.
Schon von weitem sahen sie, dass das Feuer inzwischen nur noch leicht glimmte. Mrs. Duncan und die Kinder hatten offenbar Wasser rund um das Haus verteilt, dass es sich nicht ausbreitete. Die Heimleiterin wirkte ziemlich verzweifelt, fand Steven. Der Arzt wandte sich sofort den Kindern zu, konnte aber glücklicherweise keine schweren Verletzungen feststellen.
Währenddessen sprachen der Sheriff und der Mayor mit Mrs. Duncan. „Ich habe die Kinder gezählt. Drei fehlen.“, wisperte sie. „Celia, Kristina und Connor.“
Steven wurde blass. Kristina war noch drinnen gewesen? Aber vielleicht hatte sie draußen geschlafen, wie so oft? Schnell hastete er unter die Bäume, er wusste, wo das Mädchen schlief, wenn sie nicht in ihrem Bett war. Sie war doch sonst so aufmerksam, hatte sie nichts mitbekommen? Das konnte sich Steven nicht vorstellen. Doch auch unter den Bäumen war keine Spur der Achtjährigen zu finden. Allerdings hörte er leises Weinen aus einer kleinen Höhle. Er blickte hinein. Celia und Connor, Geschwister, kauerten darin und weinten. Vorsichtig holte er sie heraus und beruhigte sie.
„Wart ihr alleine?“, wollte er wissen. Connor, mit zwölf Jahren nur wenig jünger als er selbst, nickte. Steven schluckte, schickte die Kinder zu den anderen, und rannte noch eine Weile durch den Wald, in der Hoffnung, die Kleine zu finden, doch es blieb still, auch als er nach ihr rief.
„Steven?“, hörte er schließlich Mrs. Duncan.
Er ging zu ihr, sah die Geschwister erleichtert an ihrer Seite. „Sie ist weg.“, hauchte er. „Kristina ist weg, sie hat nicht draußen geschlafen.“ Mit einem Mal schluchzte er auf. Das Mädchen war tot, sie war offenbar verbrannt.
Mrs. Duncan schickte Celia und Connor zum Arzt, er sollte sich alle Kinder ansehen, und zog Steven in ihre Arme. „Es tut mir leid, Steven. Ich weiß, du mochtest sie sehr gerne.“, murmelte sie beruhigend in sein Ohr. Die Heimleiterin musste sich strecken, um das Ohr zu erreichen, denn Steven war bereits jetzt, mit seinen vierzehn Jahren, größer als sie.
„Ich werde sie suchen, vielleicht ist sie bei …“ Er verstummte, auch jetzt durfte er Raven und seine Leute nicht verraten.
„Bei …?“, hakte Mrs. Duncan hoffnungsvoll nach.
„Bei … den Mooney Falls. Dort ist sie gerne.“, redete sich Steven heraus. Er machte sich los, inzwischen war es hell genug, und er wollte sofort nach ihr suchen. Obwohl er barfuß und im Schlafanzug war – keines der Kinder hatte es geschafft, noch etwas zu retten, es hatte schnell gehen müssen – rannte er los in Richtung der Mooney Falls. Immer wieder rief er Kristinas Namen, in der Hoffnung, sie würde ihm antworten, doch alles blieb still. An den Mooney Falls angekommen wandte er sich in Richtung des Lagers der Indianer, in der Hoffnung, dass sie ihren Standort noch nicht gewechselt hatten.
Erschrocken erkannte er schon aus der Ferne Stimmen, die offenbar von dem Lagerplatz kamen. Und diese Stimmen waren eindeutig Soldaten, der befehlsgewohnte Ton zeigte ihm das bereits aus dieser Entfernung, obwohl er kein Wort verstehen konnte. Vorsichtig schlich er sich näher und sah, dass etwa zwanzig Soldaten jeden Grashalm umdrehten. Die Zelte, die Ponys, der kleine Wagen, die Indianer – alle weg. Allerdings wohl nicht sehr lange, denn er konnte sehen, wo die Zelte gestanden hatten, dort war das Gras noch plattgedrückt. Wohin waren sie gegangen? War Kristina bei ihnen gewesen und gar nicht zurück gekommen in der Nacht? Gestern hatten sie nicht gemeinsam gegessen, denn sie hatten nicht gleichzeitig Schluss gemacht mit der Arbeit. Daher könnte es sogar sein, dass Kristina nicht dagewesen und es nicht aufgefallen war. Steven war sich dessen bewusst, dass er sich gerade an Strohhalme klammerte, aber er wollte einfach nicht glauben, dass Kristina tot sein sollte.
„Lieutenant, das Lager war eindeutig hier.“, meldete gerade einer der Soldaten. Steven spitzte die Ohren, vielleicht erfuhr er jetzt etwas.
„Die gleiche Gruppe, die wir bei den Wasserfällen gesehen haben?“, wollte derjenige wissen, den der Soldat als ‚Lieutenant‘ angesprochen hatte.
„Die Spuren deuten darauf hin.“, bestätigte ein Indianer, der offenbar als Scout arbeitete. Er trug die Haare so, wie die Weißen es taten, auch keine Lederkleidung, wie sie typisch für Indianer war. Nur die bronzene Haut, die dunklen Augen und Haare sowie sein Akzent zeigten, dass er ein Indianer war. So ganz anders als die freien Indianer, wie Steven sie kennen gelernt hatte.
„Aber wo sind sie hin?“, fauchte der kommandierende Lieutenant.
„Das kann ich nicht sagen, Sir, hinter dem Wasserfall gab es keinerlei Spuren.“, entschuldigte sich der Scout.
Wütend knurrte der Anführer der kleinen Einheit, doch schließlich befahl er den Rückzug, denn er war der Meinung, sie wären schon längst über alle Berge. Steven ließ den angehaltenen Atem erst entweichen, als alle Soldaten verschwunden waren. Leider wusste er nun immer noch nicht, ob Kristina bei den Indianern gewesen war oder nicht. Musste er nun davon ausgehen, dass sie tatsächlich tot war? Das wollte er nicht wahrhaben, lieber glaubte er daran, dass sie bei den Indianern gewesen war. Egal wie unglaublich diese Hoffnung war, egal, dass er sie nie mit jemandem teilen konnte, er brauchte es, um selbst nicht die Hoffnung zu verlieren. Kristina bedeutete ihm weit mehr als jeder andere Mensch, und es tat unglaublich weh, sie zu verlieren. Traurig trottete er zurück zu den Überresten des Waisenhauses. Mrs. Duncan stand mit dem Mayor und dem Sheriff an der Seite, sie schienen zu diskutieren. Steven wurde klar, dass es sicherlich darum ging, wo die Kinder nun unterkamen. Die Heimleiterin blickte ihm entgegen, doch er schüttelte nur verzweifelt den Kopf.
„Nein.“, hauchte Mrs. Duncan.
„Ich habe sie nirgends gefunden.“, bestätigte Steven heiser. „Was wird jetzt?“
„Das versuche ich gerade mit dem Sheriff und dem Mayor zu klären.“, entgegnete Mrs. Duncan. „Aber es wird sehr schwer. Vorerst überlassen sie uns die kleine Gemeindehalle, doch das ist keine wirkliche Lösung. Ich fürchte, ich muss sehen, dass wir woanders vollkommen neu anfangen können. Es wird schwer mit so vielen Kindern.“
„Ich werde nicht weggehen. Ich will hier bleiben.“, hörte sich Steven sagen. Es war en Trotz und ein wenig die Verzweiflung, die aus ihm sprachen, denn er wusste, wenn er hier wegging, war jede Hoffnung, Kristina jemals wiederzusehen, verloren.
„Dann wirst du sicherlich den Soldaten auffallen. Und wie willst du dich ernähren? Wo willst du schlafen?“, sorgte sich die Heimleiterin.
„Ich werde mir eine Farm oder Ranch südlich von hier suchen und dort um Arbeit bitten. Ich kann zupacken und hart arbeiten.“, entschied der Vierzehnjährige.
Sie beide wussten, dass er noch nicht volljährig war und eigentlich keine eigene Entscheidung treffen durfte, und doch war klar, dass es wohl so passierte, wie er es sagte, denn wenn sie ihn mitnahm, wurden die Soldaten noch deutlich eher auf ihn aufmerksam als so. Durch seine Größe und sein entschlossenes Auftreten wirkte er mindestens zwei oder gar drei Jahre älter, wäre also mehr als interessant für die Armee. Eine andere Zukunft wartete nicht auf ihn, entweder wurde er irgendwo auf einer Farm, einer Ranch oder in einer Fabrik angestellt, oder er kam zu den Soldaten. Zwar konnten alle ihre Kinder ab einem gewissen Alter Lesen, Schreiben und Rechnen, aber sie hatten keine intensive Schulbildung genossen. Fähigkeiten, die sie im späteren Leben brauchten, waren immer im Vordergrund gestanden.
„Pass auf dich auf.“, umarmte sie ihn.
„Vielen Dank. Für alles.“, erwiderte Steven die Umarmung.
Der Mayor, der zugehört hatte, bot ihm an, wenigstens noch einmal ins Dorf zu kommen, denn es gab sicher eine Möglichkeit, dass er einige Kleidungsstücke bekam, damit er nicht im Schlafanzug durch die Wildnis musste. Nur widerwillig sagte Steven zu, ihm war bewusst, dass er mit seiner Kleidung nicht weit kommen würde, wollte aber nicht länger hier bleiben. Ihn zog es weg von hier, als würde er spüren, dass Kristina nicht mehr hier war. Ohne das Mädchen wirkte alles irgendwie trostlos.
Eine letzte Hoffnung blieb ihm noch. Sein Blick fiel auf Jessica, die in seiner Nähe stand und ziemlich geschockt wirkte. Schnell trat er zu ihr. „Jessica, hast du Kristina gesehen?“
„Ich bin nicht sicher.“, antwortete die Rothaarige. „Gestern am Tag war sie nicht da, aber ob sie im Bett war, kann ich nicht sagen. Ich war so müde, dass ich nicht darauf achtete, vor allem, weil ich ins Bett ging, als alles schon dunkel war. Tut mir leid, ich weiß es wirklich nicht. Ich wünschte, ich könnte etwas Anderes sagen, aber das kann ich leider nicht.“
Jetzt war jede Hoffnung für Steven verloren, und sein Entschluss stand fest. Er würde Mrs. Duncan verlassen und sich eine Arbeit suchen. Aufgeben kam nicht in Frage, das war er Kristina schuldig, die das Leben so sehr geliebt hatte. Nun musste er für sie weiter leben. Und das konnte er hier nicht, zumindest nicht sofort. Sobald er konnte, würde er gehen. Vielleicht war Kristina wirklich mit den Indianern verschwunden, aber wenn die Soldaten sie nicht finden konnten, hatte er keine Möglichkeit. Irgendwann könnte er zurückkehren und nachforschen, aber im Moment würde das möglicherweise die Soldaten auf die Spur führen, und das durfte er auf keinen Fall. Er hatte es Raven versprochen. Und auch Kristina wäre dann in Gefahr, wenn sie mit ihnen unterwegs sein sollte. Nein, es war besser, er ließ erst einmal Gras über die Sache wachsen.