Читать книгу Elfenkind - Daniela Baumann - Страница 4
2. Der Beginn eines neuen Lebens
ОглавлениеSteven ließ sich dazu überreden, noch eine Nacht im Ort zu schlafen, dann war er aufgebrochen. Er hatte Lederbekleidung bekommen, wie Trapper sie trugen. Sie war ein wenig breit, aber alles andere hatte in der Länge nicht gepasst, da er sehr groß, wenn auch schmal war. Außerdem hatte er sogar ein Bowie-Messer bekommen, es war noch vom verstorbenen Sheriff Carlsen. Der neue Sheriff hatte es ihm überlassen, weil er sich Sorgen machte, wenn ein Jugendlicher alleine den Weg über die Berge nahm. Aber sie konnten ihm keine andere Möglichkeit bieten, daher hielt keiner ihn auf. Was nun mit den Kindern und Mrs. Duncan werden würde? Steven wusste es nicht, denn er war gegangen, bevor eine Entscheidung getroffen wurde.
Inzwischen war er seit mehreren Tagen unterwegs und hielt sich, so gut es ging, Richtung Süden. Bisher hatte er keinen Menschen getroffen, nur ein altes, verletztes Reh, das er erlöst hatte. Heute Abend hatte er genug zu essen. Viel Holz gab es hier nicht, aber er bekam genug zusammen, um ein Feuer zu schüren und das Fleisch zu braten. Er briet deutlich mehr, als er bräuchte, den Rest konnte er mitnehmen und die nächsten Tage davon leben. Ihm war klar, dass es bis zu einer bewohnteren Gegend noch mehrere Tagesreisen waren, wenn man, so wie er, zu Fuß unterwegs war. Doch ihn hielt nichts mehr in der Nähe von Supai. Schon immer hatte er dort weg gewollt, auch wenn ihm die Havasu und die Mooney Falls fehlen würden. Das war alles, was er an der Umgebung des Waisenhauses vermissen würde. Ohne Kristina bedeutete es aber nicht mehr das Gleiche.
Schnell schob er den Gedanken an Kristina von sich, er hatte gerade keine Zeit, um sie zu trauern, denn er musste auf seine Umgebung achten. Soweit es ihm möglich war, ging er geradewegs Richtung Süden, denn er wusste, dort gab es irgendwo wieder mehr Grün, was lebensnotwendig für Farmen oder Ranches war. Er wusste, dort gab es große Betriebe, die Holz fällten und verarbeiteten, aber auch Farmer, die Felder bewirtschafteten, und Rancher, die Vieh hielten. Einer dieser Betriebe würde ihn sicher einstellen, und dann könnte er bestimmt auch irgendwo wohnen. Meistens gab es kleine Lodges, also grob gefertigte Holzhäuser, in denen mehrere Arbeiter gemeinsam lebten.
Nach dem Essen löschte er das Feuer, auch wenn er es lieber weiter hätte brennen lassen, denn in den Nächten war es empfindlich kalt. Und doch widerstrebte es ihm, diese Gefahr herauf zu beschwören. Er hatte gesehen, wie schnell es gehen konnte. Die Vermutung des Sheriffs war dahin gegangen, dass wohl das Feuer im Herd nicht gelöscht worden oder aber eine Kerze umgefallen war. Er wickelte sich in seine Decke und behielt das Messer in der Hand, schließlich konnte man nie wissen. Mit dem Ohr auf dem Boden schlief er ein. Somit würde er hören, sollten Soldaten auftauchen, denn die Hufe der Pferde waren so schon von weitem zu hören.
Die Nacht blieb ruhig, und am Morgen machte sich Steven erneut auf den Weg. Bisher war ihm niemand begegnet, doch er ahnte, dass sein Glück nicht ewig anhielt. Außer Soldaten gab es hier auch Bären, Berglöwen, vereinzelte, streitlustige Indianer, und verschiedene Abenteurer, die nicht immer alle auch ehrlich waren. Nicht umsonst hieß es, dass viele Verbrecher aus dem Osten in den Westen kamen, weil es hier nur sehr geringe Risiken gab, erwischt zu werden. Aber wer wusste schon, was diese Leute mit ihm anstellen würden? Zwar konnte er hier in dem Gelände – ein bisschen Buschwerk, aber kaum Bäume – weit sehen, aber zu Fuß gab es auch kaum einen versteckten Ort, an den er fliehen konnte.
Steven wollte nicht weiter darüber nachdenken und beeilte sich, weiter zu gehen. Immerhin wollte er eine Anstellung finden. Seit Tagen lief er über steinigen Boden, auf dem nur vereinzelte Büsche wuchsen. Die Landschaft änderte sich kaum, es war absolut trostlos. In diesen Stunden hatte er viel zu viel Zeit, um seine Gedanken schweifen zu lassen. Immer häufiger landeten diese Gedanken bei Kristina.
Schon immer hatte das Mädchen ihn fasziniert, seit sie an diesem einen Morgen im Waisenhaus aufgetaucht war. Sie war so anders, aber dennoch absolut liebenswert. Ihre dunklen Augen und die schwarzen Haare, die so kontrastreich mit der hellen Haut harmonierten und sie bereits optisch zu etwas Besonderem machten. Ihre Hilfsbereitschaft, die einfach jeden einschloss, egal ob Menschen oder Tiere. Selbst vor giftigen Schlangen und unheimlichen Fledermäusen machte sie nicht Halt. Nicht selten hatte sie deshalb Ärger mit Mrs. Duncan bekommen, aber sie ignorierte es einfach. Zwar hatte sie nach einer Weile – Amanda war von einer verletzten Schlange gebissen worden – keine Tiere mehr ins Haus bringen dürfen, aber sie hatte sie im Wald nahe des Waisenhauses weiterhin gepflegt. Alle Kinder wussten davon, und sie hielten Abstand. Obwohl niemand jemals wirklich zu Schaden gekommen war, selbst Amanda nicht, denn die Schlange war ungiftig. Steven lächelte leise, als er sich an Kristina und ihre Tiere erinnerte.
Eine Bewegung vor ihm riss ihn aus seinen Gedanken, und er konzentrierte sich auf seine Umgebung. Gerade hatte er eine kleine Anhöhe erklommen, von wo aus er Umschau halten wollte, doch er war nicht der Einzige hier. Seine Augen weiteten sich vor unterdrückter Angst, als er sich Auge in Auge mit einem Puma sah. Und doch blieb er stehen, denn er wusste, wenn er weglief, reizte er den Jagdtrieb des Pumas und würde unweigerlich zerrissen. Immerhin war ein Puma weitaus schneller als ein Mensch. Der Puma schien genauso überrascht wie er selbst zu sein, er hatte gerade seine Beute zerrissen und war offenbar am Fressen.
Beide zögerten und schienen nicht genau zu wissen, was sie nun tun sollten. Einige Momente starrten sie sich einfach nur an, dann knurrte der Puma leise. Steven zuckte zusammen, ließ die Raubkatze aber nicht aus den Augen, als er sich Schritt für Schritt langsam zurückzog, nicht in die Richtung, aus der er gekommen war, sondern nach Süden hin. Ein eigenartiges Gefühl bemächtigte sich seiner. Er musste an Kristina denken, sie wüsste genau, wie sie mit dem Tier umgehen müsste, doch das Mädchen war leider nicht mehr an seiner Seite.
Gewaltsam unterdrückte er die Tränen, die in ihm aufsteigen wollten. Nein, er würde nicht um Kristina weinen, er glaubte weiterhin daran, dass sie es irgendwie geschafft hatte und mit Raven und seinen Leuten verschwunden war. Immerhin hatte er sie an dem Tag, bevor es brannte, weglaufen sehen. War sie vielleicht dort geblieben und mit den Indianern aufgebrochen? Aber wäre das nicht den Mädchen aufgefallen, wenn sie abends nicht im Schlafsaal aufgetaucht war? Oder hatten die Mädchen einfach nicht aufgepasst, weil sie so müde waren? Oder es ignoriert, weil Kristina ohnehin öfter draußen als drinnen schlief. Der Jugendliche schüttelte unwillig den Kopf, er stand einem gefährlichen Raubtier gegenüber und musste sehen, wie er fliehen konnte, doch er dachte einfach nur an ein Mädchen, das ihm fehlte. Das konnte er später auch noch, wenn der Puma ihm nicht mehr gefährlich wurde.
„Bleib stehen, Junge!“, überraschte ihn eine tiefe, männliche Stimme. Der Sprecher war hinter ihm und saß offenbar auf einem Pferd, da die Stimme von oben kam. Seltsam, dass der ihm vorher nicht aufgefallen war, auch die Tritte des Pferdes hatte er nicht gehört. „Und jetzt langsam zu mir, steig zu mir auf mein Pferd, aber nicht so hektisch.“
Steven gehorchte, und ging Schritt für Schritt zurück, bis er das Pferd im Rücken spürte. Jetzt kam der kritische Moment, denn um aufzusteigen, musste er sich umdrehen. Er schenkte dem Reiter keinen Blick, als er sich eilig auf das Pferd schwang und hinter dem Mann aufsaß. Kaum, dass er seine Arme um dessen Taille geschlungen hatte, drückte der dem Pferd die Schenkel in die Seiten, und sie galoppierten davon. Der Puma stieß hinter ihnen ein kurzes Brüllen aus, das Steven als ‚Ja, verschwindet und kommt mir nicht noch einmal zu nahe‘ interpretierte, dann war Ruhe.
Erst jetzt spürte er, wie sein Herz raste. „Vielen Dank, Sir.“, sprach er seinen Retter an. „Das war wirklich sehr knapp.“
„Schon gut, Junge. Du hast Glück, dass ich gerade hier auf dem Heimweg bin, ich war in Willaha, um einige Dinge zu erledigen. Der Puma hat sich geholt, was er zum Leben braucht. Ich hätte ihn erschießen können, aber ich denke nicht, dass er hier bleibt, er wird weiter ziehen. Also nehme ich sein Leben nicht, er ist nicht böse. Aber was ist mit dir? Was machst du hier draußen?“, wollte der Mann brummend wissen.
Abschätzend musterte Steven seinen Retter. Etwa Mitte vierzig , braungebrannt, raue und schwielige Hände, die von Arbeit zeugten, dunkelbraune Haare, die ihm auf die Schulter fielen, und ein gepflegt aussehender Vollbart. Er war nur wenig größer als er selbst, aber deutlich breiter gebaut. Seine braunen Augen blickten aufmerksam, ihnen entging sicherlich so schnell nichts. Über die Schulter hinweg sah er seinen Hintermann abwartend an.
Steven fiel auf, dass er etwas gefragt worden war. „Ich war auf dem Weg nach Süden, weil ich nach Arbeit und Wohnung suchen will.“, antwortete er schließlich. „Ich bin im Waisenhaus von Supai aufgewachsen, aber es ist vor einigen Tagen abgebrannt. Da habe ich beschlossen, aufzubrechen und neu anzufangen.“
„Und was willst du machen?“, fragte der Fremde.
„Ich kann zupacken und lerne schnell. Ich werde auf den Farmen und Ranches fragen, ob sie Arbeit für mich haben.“, versicherte Steven zuversichtlich.
„Wie heißt du?“
„Oh, Verzeihung, ich bin Steven. Steven Sexton. Und wer sind sie?“
„Aaron Cromwell. Ich habe eine Ranch noch etwa drei Stunden südlich von hier.“, berichtete der Braunhaarige. „Ich werde sehen, ob du arbeitswillig bist, und wenn ja, dann kannst du bei mir bleiben.“
„Ich danke euch, Sir.“, lächelte Steven dem Rancher zu.
Schweigend ritten sie weiter, bis der Rancher kurz vor Sonnenuntergang erneut das Wort ergriff. Er deutete vorwärts, wo Steven die Umrisse mehrerer Häuser entdeckte. Das Haupthaus war aus Stein erbaut und wirkte einladend. Die Fenster waren von dem Schein unzähliger Gaslampen erhellt. Daneben gab es mehrere langgezogene Gebäude, die offenbar für Tiere gedacht waren, die aber draußen von Cowboys beaufsichtigt wurden. Außerdem mehrere kleine, weiter vom Haupthaus weg stehende Holzhäuser, die wahrscheinlich für die Hands waren.
„Das hier die Cromwell-Ranch. Das Land eine Tagesreise in jede Richtung gehört mir. Derzeit habe ich etwa 2000 Rinder, die in mehreren Herden von den Cowboys gehütet werden. Dazu noch Hühner und Pferde, Ziegen und Schweine. Viel Arbeit und wenig Schlaf, aber wenn du das aushältst, dann hast du Kost und Logis frei.“, versprach Cromwell.
„Ich werde tun, was ich kann.“, nickte Steven mehr als dankbar.
Der Rancher ritt mit ihm gemeinsam auf das Haupthaus zu, wo eine Frau auf ihn wartete. „Das ist meine Frau Sarah, unser Sohn James ist mit draußen bei den Rindern, unsere Töchter Janet und Carol sind sicherlich im Stall, sie versorgen die Hühner und Ziegen. Sarah, das hier ist Steven Sexton, ich habe ihn heute aufgelesen, er sucht nach Arbeit. Essen gibt es jeden Tag nach Sonnenuntergang im Haupthaus. Einige Cowboys bleiben immer bei den Herden, sie bekommen das Essen von James geliefert. Morgens gibt es ein schnelles Frühstück, tagsüber steht immer etwas zur freien Verfügung, aber die Arbeit geht vor. Du bleibst erst einmal hier, auf dem Hof gibt es genug Arbeit, da kannst du dich anlernen lassen. Kannst du reiten?“
„Nein, Sir.“, gab Steven zu.
„Nun, du wirst es schnell lernen, hier draußen läuft man nicht zu Fuß, man reitet. James wird es dir beibringen.“, zuckte der Rancher die Schultern. „Jetzt komm, das Essen wartet nicht.“
Steven folgte ihm ins Haupthaus, und dort in einen großen, langgezogenen Raum, der wohl eine Art Aufenthaltsraum für alle war. Eine bunte Mischung aus Menschen verschiedenster Hautfarben erwartete ihn. Es ging laut zu, aber nicht vollkommen unzivilisiert. Die Frauen – Sarah, Janet und Caro l schienen nicht die einzigen Frauen zu sein, denn hier waren noch mehrere Frauen, die Dienstkleidung trugen – brachten verschiedene Töpfe und Pfannen, Teller, Becher und Krüge mit Bier und Wasser. Alle setzten sich, und nachdem der Rancher ein kurzes Gebet gesprochen hatte, griffen sie zu.
Steven saß zwischen zwei etwas älteren Jugendlichen, die sich kurz als Jeremy und Cole vorstellten, und griff ebenfalls hungrig zu. Viel zu müde, um noch Fragen zu stellen, folgte er anschließend auf einen Wink des Ranchers seinen Tischnachbarn, die zu einer der kleineren Hütten gingen. Dort gab es ein freies Bett, in das er sich legen konnte, und er schlief kurz danach tief und fest, ließ sich nicht davon stören, dass die anderen Bewohner des Hauses noch eine Weile rauchten, etwas tranken und miteinander plauderten.
Der Morgen kam seiner Meinung nach viel zu früh. In den letzten zwei Wochen war er von morgens bis abends gelaufen, und fühlte sich nun völlig erschöpft. Doch er stand ohne Widerworte auf und folgte den beiden Mitbewohnern zum Frühstück. Dort sprach ihn dann ein junger Mann an, der Mister Cromwell unglaublich ähnlich sah, wenn auch der Bart fehlte und die Haare länger waren . Er konnte noch keine zwanzig sein, schätzte Steven. Vermutlich war er siebzehn oder achtzehn Jahre alt, sah aber so aus, als würde er sich von niemandem hier etwas sagen lassen, mit Ausnahme seines Vaters. „Steven?“, wollte er von ihm wissen.
„Ja, das bin ich.“, nickte der Jugendliche. Wobei das eigentlich logisch war, er ging nicht davon aus, dass es ständig Fremde auf der Ranch gab.
„Komm. Ich bin James Cromwell, mal sehen, wie schnell du lernst. Ich zeige dir heute, worauf es hier auf der Ranch ankommt.“ Mit diesen Worten drehte sich der junge Mann um und ging nach draußen. Steven beeilte sich, ihm zu folgen.
Und zur gleichen Zeit, als sich Kristina mit dem Häuptling in einer anderen Welt zurechtfinden musste, lernte Steven, welche Arbeiten auf einer Ranch erledigt werden mussten, und was genau seine Aufgaben waren. Zunächst war das Reiten dran. Wobei, das eigentliche Reiten kam erst später, zuerst musste Steven lernen, wie Pferde lebten, was man beachten musste, wenn man sie satteln und zäumen wollte, wie Sattel und Zaumzeug gepflegt wurden, was Pferde fraßen, und was giftig für sie war. Steven hörte aufmerksam zu, und es stellte sich schnell heraus, dass er geschickt mit den Tieren auf der Ranch umging.
Es dauerte nicht besonders lange, bis er sich auf dem Pferd halten konnte, doch wirkliches Reiten war das noch nicht. Dennoch gab der Jugendliche nicht auf. Nach zwei Monaten war er sicher genug im Sattel, dass er mit den anderen nach draußen auf die Weiden konnte. Hier lernte er nun, worauf es beim Hüten der Rinder und Schafe ankam. Anfangs war er bei den Schafen, da diese doch etwas leichter zu beaufsichtigen waren, so konnte er weiter seine Reitkünste verbessern. Hier lernte er auch, mit einem Lasso umzugehen. Oft lachten die anderen Cowboys ihn aus, wenn er sich selbst damit fesselte, doch Steven gab nicht auf. Nach und nach wurde er sicherer, immer öfter traf er sein Ziel. Wobei er noch viel zu lernen hatte, denn bislang war sein Ziel unbeweglich, aus Holz gebaut. An lebenden, sich bewegenden Objekten schaffte er das noch nicht, oder wenn, dann eher aus einem glücklichen Zufall heraus.
Nach einem halben Jahr durfte Steven zum ersten Mal mit zu den Rindern, die nun zur Ranch getrieben werden sollten, damit Cromwell einen Überblick bekam und entscheiden konnte, welche der Tiere verkauft wurden. Dafür brauchte es mehr Leute als sonst, da sie wirklich alle Tiere zur Ranch bringen mussten. Im Alltag ging es eher darum, die Herden einigermaßen zusammen zu halten und vor Raubtieren zu beschützen. Dafür brauchte es weniger Männer. Zum Treiben allerdings waren alle Cowboys nötig, die abkömmlich waren.
Charlie, ein älterer Cowboy, nahm Steven dabei unter seine Fittiche, zeigte ihm, worauf es ankam. Immer wieder rief ihm die raue, dunkle Stimme verschiedene Kommandos zu, und auf diese Weise schafften sie es, die Rinder beisammen zu halten. Steven schwitzte, doch auch hier gab er nicht auf. Er wollte beweisen, dass er die Arbeit hier schaffte. Nur bei den Schafen zu sein, war nicht das, was er wollte. Natürlich war auch das eine Arbeit, die gemacht werden musste, die Schafe mussten geschützt und zusammen gehalten werden, aber das war keine allzu große Herausforderung. Jeden Abend kamen sie zurück auf die Ranch, wo sie in ihrem Stall übernachteten. Die Rinderherden hingegen blieben fast das ganze Jahr draußen, lebten wild in ihren Verbänden. Die Cowboys blieben oft über Nacht draußen, wechselten sich ab, sodass sie wenigstens eine oder zwei Nächte in der Woche in ihren Betten schlafen konnten, die restliche Zeit waren sie unter freiem Himmel, ein Leben, das Steven durchaus reizte.
Noch war er aber nicht so weit, außerdem hatte er noch immer kein eigenes Pferd. Das brauchte er aber, wenn er mit den Rindern arbeiten wollte. Die Schafe konnte man ohne Probleme zu Fuß hüten, oder mit einem geliehenen Pferd, doch bei den Rindern musste man sich und sein Pferd absolut kennen, man musste seinem Pferd vertrauen. Und das konnte Steven nicht mit einem geliehenen Pferd. Also ging er eines Tages zu Cromwell und bat darum, einige Tage weg zu können, um sich einen Mustang zu fangen. Da es kurz nach dem erfolgreichen Verkauf von etwa achtzig Rindern war, und die Herden dadurch deutlich kleiner waren, erlaubte Cromwell ihm und Charlie, auf Mustangjagd zu gehen. Bald hatten sie die Spuren einer Herde gefunden, doch Charlie machte Steven darauf aufmerksam, dass sie im Wind standen, und so kamen sie sicher nicht an die wilden Pferde heran.
Also schlichen sie um die Herde herum, dann auf einen Hügel hinauf, der ihnen einen atemberaubenden Blick schenkte. Unter ihnen, in einem langgestreckten, grasbewachsenem Tal, tranken etwa dreißig Mustangs abwechselnd an einem kleinen Bach. Rappen, Füchse, sogar einige Schimmel konnten sie sehen, dazwischen bunt gefleckte Pferde. Sie alle waren kräftig und sehnig, das Fell meist eher etwas zottiger als das der Pferde, die Steven von der Ranch kannte. Nun gut, auf der Ranch wurden die Pferde regelmäßig gebürstet und gestriegelt, das machte hier natürlich niemand. Eine Weile beobachteten sie einfach nur. Schließlich realisierte Steven, dass die Herde sogar einige Fohlen mit sich führte, die in der Mitte zwischen den anderen Pferden sicher und geschützt umher springen konnten.
„Und? Schon ein Tier ausgesucht?“, wollte Charlie irgendwann leise wissen.
„Worauf muss ich achten?“, schüttelte Steven den Kopf. Er wusste schließlich nur wenig über Mustangs, auch wenn er sich mit den Pferden auf der Ranch inzwischen ziemlich gut auskannte. Charlie war deutlich älter und erfahrener, der konnte ihm noch eine Menge beibringen.
„Es sollte ein junges, aber nicht zu junges Tier sein. Kein Fohlen und keine säugende Stute.“, erklärte Charlie sehr leise. „Wenn du in der Wildnis unterwegs wärst, würde ich sagen, keinen Schimmel, die fallen zu sehr auf, aber bei uns ist das egal. Den Leithengst“, er deutete auf einen Fuchs, der unentwegt um die Herde trabte, alle beisammen hielt, „würde ich auch nicht nehmen, den kriegst du wahrscheinlich nicht in den Griff. Sieh genau hin, dann erkennst du die Rangordnung. Ein Tier, das zu weit unten ist, hat nicht den Biss, den du haben willst, ist aber deutlich leichter zu zähmen. Was du brauchst, ist ein Tier, das weiß, was es will, aber auch dir folgt. Ich würde also vorschlagen, eines aus der oberen Mitte von der Rangordnung. Ob Hengst oder Stute ist für die Arbeit egal, aber meistens sind die Stuten etwas leichter zugänglich, sobald du sie gefangen hast. Treu sind beide, wenn du einmal ihre Gefolgschaft hast.“
Er ließ Steven Zeit, das alles zu beachten. Ihm selbst war bereits ein Tier aufgefallen, eine gefleckte Stute, vorne und hinten braun, der Leib allerdings weiß. Dazu eine wunderschöne weiße Zeichnung auf der Stirn, eine schwarze Mähne und einen ebenso schwarzen Schweif. Sie hatte offensichtlich kein Jungtier, war sicher im Tritt und kraftvoll im Lauf, stand etwa in fünfter Position hinter dem Leithengst.
Auch Steven schien genau diese Stute im Blick zu haben, wie Charlie irgendwann bemerkte. „Gute Wahl.“, gratulierte er dem Jüngeren. „Jetzt machen wir es so: Du postierst dich hinter dem Hügel dort“, Charlie deutete voraus, hinter den Fluss, an dem die Herde noch immer trank und graste, „und wartest, den Lasso griffbereit. Jetzt kommt es darauf an. Ich reite ein Stück zurück und dann auf die Herde zu. Sie werden fliehen und in deine Richtung kommen. Sobald sie über den Hügel kommen und dich sehen, machen sie kehrt. Jetzt musst du handeln, du reitest genau auf die Stute zu und wirfst den Lasso. Sieh zu, dass sie weiter laufen kann, aber trenne sie nach und nach von der Herde. Nicht gleich bezwingen wollen, das kostet dich zu viel Kraft. Erst einmal lässt du sie toben, achte aber darauf, dass dein Lasso immer eng anliegt, ansonsten kann sie entkommen. Dränge sie ab von der Herde, aber lass sie laufen. Je mehr sie läuft, umso müder ist sie später, und genau das brauchst du. Ich werde dazu kommen, und dich dann weiter unterstützen.“
„Okay.“, nickte Steven, nicht vollkommen überzeugt. Und doch, er wollte das jetzt schaffen. Ohne eigenes Pferd würde er weiterhin Schafhüter bleiben, und das wollte er nicht. Auch, wenn er die Schafe mochte, aber es war die Herausforderung, die ihn reizte. Also ritt er in einem Bogen dorthin, wo Charlie hingedeutet hatte. Er erkannte, wie gut der Platz gewählt war, denn die Mustangs konnten nicht einfach rechts oder links ausbrechen, da auf der einen Seite eine steile Felswand und auf der anderen Seite der Fluss war. Der Fluss war ziemlich unruhig an dieser Stelle, beschrieb einen Bogen, in dem viele Wirbel waren. Hier würden die Pferde wohl eher nicht freiwillig ins Wasser gehen, und wenn doch, so hatte er die Stute leicht. Sie konnten also entweder auf ihn zu kommen, oder aber sie drehten um. Genau wie Charlie es erklärt hatte.
Steven kontrollierte das Seil, dann legte er die Schlinge vor sich auf den Hals seines Pferdes und befestigte das Ende am Sattelknauf vor sich. Jetzt kam es darauf an. Nun wartete er. Es dauerte nicht besonders lange, da hörte er die fliehenden Pferde. Gleich mussten sie auf dem Hügel erscheinen. Er hatte sich ein wenig hinter einem Gebüsch verborgen, sodass sie ihn nicht gleich sahen, er selbst aber gut sehen konnte. Und richtig, der Leithengst galoppierte gerade über die Kuppe, gefolgt von einigen weiteren Pferden. Dann kam die Stute, auf die Steven es abgesehen hatte. Er ließ sie noch ein wenig näher heran kommen, bevor er seinem Pferd die Fersen in die Flanken stieß. Seine Augen fixierten die gescheckte Stute, als sein Pferd vorwärts schoss. Die Mustangs stiegen vorne in die Höhe, als sie ihn erblickten, dann wandten sie sich fast in militärischer Präzision um, galoppierten zurück.
In dem Moment wirbelte die Schlinge des Lassos über Stevens Kopf, dann flog sie auf die Stute zu, die nur wenige Fuß von seinem Pferd entfernt war. Die Schlinge legte sich um den braunen Hals der Stute, und Stevens Pferd tat, wie gelernt. Es stoppte seinen Lauf und stemmte die Beine in den Boden, sodass sich das Seil spannte und die Schlinge zusammen zog.
Wiehernd hielt die Stute inne, trat einige Schritte zurück, dann legte sie alle Kraft in die Vorwärts-Bewegung. Bis sich das Seit erneut zusammen zog und sie kaum noch Luft bekam. Steven ließ sein Pferd immer dann, wenn die Stute locker ließ, einige Schritte beiseite gehen. Die Herde war inzwischen aus der Sichtweite geflohen, doch Steven konzentrierte sich ohnehin nur auf seine Aufgabe. Immer weiter brachte er die Stute weg, zog sie langsam aber sicher zu dem Weg, den die Herde auf ihrer Flucht hatte nehmen wollen. Er ließ sie ein wenig laufen, dann zog sich die Schlinge erneut zu.
Als Charlie dazu kam, glänzte das Fell der Stute bereits von Schweiß, doch sie gab nicht auf. Steven tat es bereits leid, dass er der Stute Schmerzen zufügen musste, doch er hatte keine Wahl. Charlie lobte ihn, er machte es genau richtig, doch Steven wurde immer mehr klar, dass es eben nicht richtig war, was er hier tat. Ja, er brauchte die Stute, doch sie sollte ihm nicht aus Angst folgen. Er wollte, dass sie ihm vertraute. So, wie Kristina es immer mit den Tieren gemacht hatte. Sie hatte die Tiere nie gezwungen, etwas zu tun. Im Gegenteil, sie war den Tieren immer entgegen gekommen, hatte versucht, ihre natürlichen Verhaltensweisen zu unterstützen. Nur, wenn sie verletzt waren, hatte sie sie eingeschränkt, aber nie mehr, als es notwendig war. Sobald die Tiere gesund waren, hatte sie alle gehen lassen, doch die meisten waren ihr weiterhin treu geblieben. Vertrauen. Das war es, was er wollte.
„Nein!“, entfuhr es ihm daher mit einem Mal. Er sprang vom Pferd und hielt das Ende des Lassos in der Hand.
„Bist du verrückt?“, schrie Charlie. „Sie wird dir die Hände zerfetzen! Sie ist noch nicht müde genug, um sie zuzureiten!“
„Nein, Charlie.“, schüttelte Steven den Kopf, ließ dabei aber die Stute nicht aus den Augen. „Ich will ihr Vertrauen. Sie soll nicht gehorchen, weil sie gebrochen wurde oder weil sie Angst hat, sondern weil sie es will, weil sie mir vertraut.“
„Du bist verrückt.“, murmelte Charlie.
„Bitte, Charlie, ich muss es versuchen.“, bat Steven. Er ließ das Seil etwas lockerer, sofort versuchte die Stute zu fliehen. Doch Steven hielt dagegen. Schritt für Schritt ging er zu der Stute, sprach mit einer leisen, beruhigenden Stimme auf sie ein. Er ignorierte Charlie vollkommen.
Der Ältere schüttelte erneut den Kopf. „Wenn du meinst, dann versuche es.“, gab er nach.
„Reite zurück auf die Ranch, ich komme, sobald ich die Stute an mich gewöhnt habe.“, versprach Steven, noch immer ohne einen Blick von der Stute zu nehmen.
Charlie beobachtete ihn noch eine Weile, dann schüttelte er den Kopf und entschied, zur Ranch zurück zu kehren. Steven würde den Weg sicher finden, sie waren nicht allzu weit weg. Und so, wie er den Jugendlichen kannte, würde der es sogar schaffen, dass ihm die Stute irgendwann vertraute. Er hatte ziemliches Geschick mit den Tieren. So etwas hatte Charlie noch nie gesehen.