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5. Erinnerungen

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„Vorsicht, Steven, der kleine Bulle links will ausbrechen!“, warnte Joe, ein älterer Cowboy.

Steven, inzwischen seit über drei Jahren hier auf der Ranch, nickte nur konzentriert und warf sein Lasso. Geschickt legte sich die Schlinge um den Hals des Jungbullen, der heute – als ein Rind unter vielen – ein neues Branding bekommen sollte. Bereits jetzt schwitzte er stark, und dabei war erst etwa zehn Uhr morgens. Die Jungrinder waren alt genug, um markiert zu werden, daher trieben er und die anderen Cowboys sie gerade zusammen und auf die Ranch. Steven erinnerte sich, wie er seine ersten Versuche mit dem Lasso gemacht hatte.

Ein Schmunzeln legte sich auf sein Gesicht, als er einen kurzen Moment zum Verschnaufen und Trinken hatte. Anfangs hatte er nicht einmal einen Holzpflock getroffen, der etwa zehn Fuß von ihm entfernt war. Und wenn er traf, dann schlang sich das Seil nicht darum, sondern die Schlinge faltete sich zusammen. Doch Charlie blieb geduldig mit ihm. Charlie war von Anfang an an seiner Seite gewesen, hatte ihn unterstützt und ihm fast alles beigebracht, was er hier können musste. Außerdem hörte er zu, wenn Steven Heimweh bekam. Das allerdings kam eher selten vor, hier hatte er viel zu viel zu tun.

Cromwell war zufrieden mit ihm, hatte ihn damals behalten, und seither arbeitete Steven fleißig. Er hatte kaum eine freie Minute, wenn aber doch, gingen seine Gedanken zurück zu Kristina. Er wusste nicht, was aus Mrs. Duncan und den Kindern geworden war, aber er wollte es bald herausfinden. Es ließ ihm keine Ruhe.

Mrs. Duncan war wie eine Mutter für ihn gewesen, so lange er bei ihr im Waisenhaus war. Die anderen Kinder waren wie Geschwister für ihn. Er musste einfach wissen, ob es ihnen gut ging. Also wollte Steven zurück nach Supai reiten, um zu hören, wohin die Kinder mit Mrs. Duncan gezogen waren, und sie dort besuchen, wenn es möglich war. Im Moment war zu viel Arbeit zu tun, aber im Winter, da konnte er einige Tage frei nehmen. Es war Spätsommer, Indianersommer, wie er wehmütig dachte. Nie würde er den Häuptling vergessen, der es Kristina damals so angetan hatte. Vor ziemlich genau drei Jahren waren sie verschwunden.

Er selbst war nie wieder im Lager der Indianer gewesen, aber Kristina hatte ihm erzählt, wie sie dort lebten. Sie jagten nur, was sie zum Leben brauchten, ansonsten sammelten sie Holz, um Feuer zu machen, verarbeiteten die gejagten Tiere, die Häute, die Sehnen, selbst die Knochen. Das hatte ihn zum Nachdenken gebracht. Warum wollten die Soldaten alle Indianer in Reservate sperren? Sie waren nicht gefährlich, wollten einfach nur in Ruhe leben. Jedenfalls die meisten von ihnen. Er selbst hatte gesehen, dass sie friedlich lebten, versteckt, ohne jemanden von außerhalb zu stören oder gar zu verletzen. Raven war nur mit einem Messer bewaffnet gewesen, als sie ihn getroffen hatten. Ohne Nachzudenken hatte er ihnen geholfen. Er hatte sie mitgenommen, ihnen zu Essen gegeben, und die Verletzungen versorgt. Er hatte ihnen Decken gegeben, während ihre Kleidung am Feuer trocknete. Das konnte doch kein böser Mensch sein, oder?

„Hey, Steve, wo bist du mit deinen Gedanken?“, wollte Charlie wissen. Er hatte den Jugendlichen bereits von Anfang an unter seine Fittiche genommen und liebte ihn wie einen Sohn. Steven schüttelte lächelnd den Kopf und konzentrierte sich erneut. Die nächsten Rinder sollten gebrannt werden. Also trank er noch einen Schluck, dann sprang er auf. Den Rest des Tages verbrachte er auf dem Rücken seines Pferdes. Ja, es war sein eigenes Pferd. Er hatte hart gearbeitet und es geschafft, die von ihm gefangene Stute an sich zu gewöhnen . Silva war eine treue Stute, die nur ihn an sich heranließ. Kein Anderer durfte sich ihr nähern oder sie gar anfassen.

Charlie, ein etwa fünfzigjähriger, braunhaariger und immer fröhlicher Cowboy mit blau-grauen Augen lachte rau. „Welches Mädchen hat dir denn den Kopf verdreht?“, hakte er nach. Er würde es Steven gönnen, wenn er sich verliebte. Der junge Mann war ein Einzelgänger, obwohl er sich doch so sehr eine Familie wünschte, das wusste Charlie von seinen Erzählungen. „Du weißt, die Töchter des Ranchers sind tabu, aber im Dorf kannst du dich umsehen.“

„Keine Sorge, die Töchter Cromwells interessieren mich in der Hinsicht überhaupt nicht.“, schüttelte er den Kopf.

„Wer dann? Du gehst nie ins Dorf, und die Mädchen kommen nicht hierher.“, überlegte Charlie, der seine Frau früh verloren hatte und seither hier auf der Ranch lebte. Gerade machten sie eine weitere Pause, da es fast geschafft war, und die Hands das Eisen erst erneut aufheizen mussten, bevor es weitergehen konnte.

„Niemand.“, versuchte Steven abzulenken, doch seine Gedanken verweilten bei dunkelblauen Augen, schwarzen Locken und alabasterfarbener Haut.

„Das glaubt dir keiner, nicht mal der alte Sam!“, grinste Charlie breit. Der alte Sam war wirklich alt, keiner wusste genau, wie alt, dazu fast blind und annähernd taub. Er hatte sein Leben lang auf der Ranch gearbeitet, angefangen hatte er damals als junger Mann bei Cromwells Großvater, der einer der Ersten hier im Westen gewesen war. Deshalb hatte er auch so eine riesige Ranch hinterlassen. Sam war damals noch deutlich jünger gewesen als Steven, als er hier anfing. Sam kannte alle Cowboys und Hands, hatte viele von ihnen angelernt, bevor sein Seh- und Hörvermögen so sehr nachgelassen hatten, dass er es nicht mehr konnte. Cromwell hatte ihn hier behalten, er bekam noch immer Kost und Logis umsonst, als Dank für viele Jahre harte und zuverlässige Arbeit.

Charlie grinste seinen jüngeren Freund an. „Also, wer ist sie? Und mach mir nichts vor, Jeremy erzählt, du sprichst im Schlaf.“

„Sie heißt Kristina.“, gab Steven schließlich zu. Irgendwie war er erleichtert, jemandem von ihr erzählen zu können. „Du weißt ja , dass ich im Waisenhaus in Supai aufgewachsen bin.“ Charlie nickte nur. „Kristina lebte auch da, sie wurde neugeboren vor der Tür ausgesetzt. Sie war etwas Besonderes. Keiner mochte sie, weil sie so anders war, aber …“ Steven brach ab, er konnte es kaum in Worte fassen. Seine braunen Augen schienen in weite Fernen zu sehen.

Der Ältere schmunzelte nur und klopfte ihm auf die Schulter. „Wo ist sie jetzt?“

Stevens Lächeln verlor sich, und Traurigkeit machte sich in seinem sonst so fröhlichen Gesicht breit. „Wahrscheinlich tot.“, wisperte er. „Das Waisenhaus hat vor drei Jahren gebrannt, wir kamen gerade noch so raus. Am Ende fehlte nur Kristina. Sie hat öfter draußen geschlafen oder auch bei Freunden von ihr, aber ich konnte sie nirgends finden. Vermutlich starb sie im Feuer. Zumindest wurde das damals vermutet, ich blieb nicht lange genug, um mehr herauszufinden.“ Eine Träne rann über seine Wange und er zuckte zusammen, als Charlie tröstend seine schwielige Hand auf die bebende Schulter legte.

„So besondere Menschen gibt es, die berühren nicht dein Äußeres, sondern dein Herz. Haben sie sich einmal dort hinein geschlichen, wirst du sie nie wieder vergessen.“, stimmte Charlie zu. Es hörte sich an, als wüsste er, wovon er sprach. „Du solltest noch einmal zurückgehen und sehen, ob du herausfinden kannst, ob sie überlebt hat, und was aus den anderen Kindern geworden ist.“

„Du hast Recht, Charlie. Das habe ich auch schon eine Weile überlegt. Ich werde gehen, wenn ich ein paar Tage frei bekommen kann.“, nickte Steven und schenkte dem Älteren ein halbes Lächeln. „Danke!“

„Na dann komm, machen wir uns wieder an die Arbeit! Umso eher kannst du gehen!“, klopfte Charlie ihm auf die Schulter, und sie stiegen wieder auf die Pferde für die letzte Runde.

Die nächsten Monate verbrachte Steven zumeist mit Charlie und erzählte von Kristina. Es fühlte sich seltsam für ihn an, noch nie hatte er so viel Persönliches über seine Vergangenheit erzählt, nie so viel gesprochen, egal worüber. Charlie war da, hörte einfach zu. Für Steven fühlte es sich gut an, beinahe, als wäre Charlie eine Art Vaterersatz für ihn. Wobei, das war er schon lange, doch erst jetzt wurde Steven das bewusst. Es tat dem Jugendlichen gut, sich die Zweifel und die Trauer von der Seele zu sprechen. Er fühlte sich dem Mädchen unglaublich nahe und wurde immer ungeduldiger. Er spürte, er musste aufbrechen. Etwas zog ihn in Richtung Norden.

In seinen Träumen sah er Kristina, so wie er sie kannte, mit einem ehrlichen, aber leicht traurigen Lächeln, wie sie vor den Mooney Falls stand. Dieses Bild hatte sich damals in sein Gedächtnis eingegraben. Es war nachts gewesen, sie hatte sich raus geschlichen. Nur wenige Wochen vor dem Brand war er ihr in den Wald gefolgt. Kristina faszinierte ihn so sehr, dass er wissen wollte, wohin sie ging, was sie nach draußen zog. Inzwischen war er sicher, dass sie ihn bemerkt hatte, aber sie hatte seine Anwesenheit vollkommen ignoriert. Mit einer Leichtigkeit war sie quer durch den Wald gehuscht, bis sie an den Moony Falls ankam.

Gerade in diesem Moment kam der Mond hinter einer Wolke hervor. Vollmond. Das bleiche Licht hatte sie noch fremder als sonst aussehen lassen. Steven war nahe genug, um sie genau betrachten zu können. Sie wirkte nicht wie ein Mensch. Ihre helle Haut glitzerte irgendwie im Mondlicht, ihre Augen wurden dunkler, die hellen Sprenkel darin, die sonst golden glänzten, waren silbern wie flüssiges Metall. Ihre Haare schimmerten bläulich, und sie sah aus wie ein Engel. Oder eine Fee. Wenn Mrs. Duncan Geschichten erzählt hatte, in denen Feen vorkamen, dann hatte er sie sich immer so vorgestellt, wie Kristina in dieser Nacht ausgesehen hatte. Dazu der Wasserfall hinter ihr, der ebenfalls silbern schimmerte, es war wie verzaubert gewesen.

Und jetzt hatte er das Gefühl, er müsse zu dem Wasserfall. Sollte Kristina nicht überlebt haben, würde er sich dort von ihr verabschieden. Ja, das wäre angemessen.

Aufseufzend stand er auf, es war mitten in der Nacht und er konnte einfach nicht schlafen. Gerade war es kurz vor Halbmond, und die deutlich gerundete, silberne Sichel stand tief am Himmel, spendete blasses Licht. Aus irgendeinem Grund war Steven sicher, dass er an Vollmond bei den Mooney Falls sein musste. Etwas sagte ihm das, eine innere Stimme. Auch wenn er den Kopf darüber schüttelte, es schadete sicher nicht, wenn er darauf achtete. Allerdings sollte er das wohl nicht vor Mister Cromwell als Grund angeben, der würde ihn nur für verrückt erklären.

Dennoch ging er nach dem Frühstück zum Rancher und bat um ein kurzes Gespräch. „Mister Cromwell.“, begann er. „Ich würde gerne einige Tage frei bekommen. Sie wissen, dass ich in einem Waisenhaus aufgewachsen bin und es verlassen habe, als es abbrannte. Ich würde gerne noch einmal dorthin gehen und sehen, was aus den anderen Kindern und Mrs. Duncan wurde. Es lässt mir keine Ruhe mehr, und ich möchte Gewissheit haben, nicht weiter grübeln müssen, was dort passierte.“

„Hmm, Steven, ich verliere ungern einen fleißigen jungen Mann, aber du hast, seit ich dich vor über drei Jahren mitgenommen habe, ununterbrochen gearbeitet.“, überlegte der Rancher. „Du hast dir einige freie Tage redlich verdient. Also geh, aber ich hoffe, du kommst zurück, denn deine Arbeitskraft ist viel wert für mich.“

„Danke, Mister Cromwell. Sie haben viel für mich getan, und ich bin dankbar, dass sie mir damals die Chance gaben, mich zu beweisen.“, lächelte Steven beruhigt. Er hatte Angst vor diesem Gespräch gehabt, weil er nicht einschätzen konnte, wie der Rancher reagieren könnte. „Ich werde wiederkommen, das habe ich fest vor. Für sie zu arbeiten ist eine Ehre.“

Als Boss war Cromwell hart, aber absolut fair. Er bezahlte genug, dass Steven inzwischen ein kleines Vermögen vorweisen konnte, da er nie mit den anderen Cowboys ausging. Kost und Logis bekam er auf der Ranch, und er leistete sich nur ab und zu neue Kleidung, Schuhe oder einen Hut. Oder den Hufschmied für Silva. Mehr brauchte er nicht.

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