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Flucht nach München!

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Ich weiß einfach instinktiv, dass das genau das Richtige für mich ist, um mich wieder neu orientieren zu können. Vielleicht ist Flucht auch gar nicht der korrekte Begriff dafür. Es ist ein-fach ein starker innerer Antrieb, den ich verspüre und den ich nicht länger zurückhalten kann und werde. Eingebungen und Gefühle, darauf sollten wir wieder lernen zu hören. Nicht es-sen, wenn es 12 ist, sondern dann, wenn man Hunger ver-spürt. Und den verspüre ich jetzt auch. Hunger nach Leben und nach neuen Erlebnissen.

Meine Wahl fällt kurzentschlossen auf München. Ich liebe diese Stadt einfach. Jedes Mal, wenn ich dort war, habe ich mich sofort wohl gefühlt. Somit steht das Ziel fest. Jetzt müssen nur noch ein paar Dinge geregelt werden und dann geht’s los. Denn ich darf keine Zeit verlieren. Meine innere Unruhe wächst. Der immer stärker werdende Antrieb drängt mich aus der Stadt. Raus aus meinem bisherigen Leben.

Meinen Eltern schreibe ich einfach kurz eine e-mail: »Sorry, ihr Lieben. Ich hau ab, bin weg – raus – brauche Luft zum At-men.« Meine Schwester setze ich einfach in ›cc‹: »Mit ganz vielen Schmatzern, HDL, werde an dich denken!« Ich füge noch ein »:-)« hinzu, so sollte klar sein, dass ich nicht aus Verzweiflung handle, und dass es mir gut geht. Ich lese mir den Text noch einmal kurz durch und rümpfe dann doch die Nase. So wohl überlegt hört sich das eigentlich nicht an. Eher doch, als wäre ich auf der Flucht. Aber wenn ich ehrlich bin, fällt mir gerade nichts Besseres oder vernünftiger Klingendes ein. Denn genau so, wie ich es geschrieben hatte, ist es schließlich auch. Kurz bevor ich die Tür hinter mir für lange Zeit schließen werde, klicke ich auf ›senden‹. Ich zwinkere mir kurz im Spiegel zu und dann geht es los. Beinahe hetze ich zum Bahnhof, als wäre es höchste Zeit. Ich muss innerlich kurz den Kopf schütteln. Aber noch bin ich von meinem Vor-haben derartig überzeugt, dass mich in diesem Moment ein-fach nichts und niemand davon abbringen könnte. Auf dem Weg dorthin frage ich mich, ob ich noch jemanden informie-ren sollte. Ah, ich weiß nicht, schließlich soll sich niemand Sorgen machen. Verstehen wird es sowieso keiner. Daher auch nur die kurze Nachricht per e-mail. Mich werden sowieso alle für völlig bescheuert halten. Aber das ist mir egal. Ich mache jetzt das, was für mich gut ist und nicht, was man von mir erwartet. Somit schalte ich mein Handy jetzt erstmal aus. Puh, das wird hart werden. Normalerweise bin ich ständig er-reichbar oder auf Facebook eingeloggt. Meine Nachrichten dort und per Mail checke ich täglich. Nun ja, das wird sich ab sofort ändern müssen. Und das ist nicht das einzige.

Als ich im Zug sitze und plötzlich dazu verdonnert bin nachzudenken, durchströmen mich komischerweise weder Zweifel noch Ängste. Dass ich ohne meinen Job zu kündigen quasi verschollen bin, ist mir auch total egal. Wo ist mein Verantwortungsbewusstsein plötzlich hin? Bin ich überhaupt noch zurechnungsfähig? Drehe ich gerade völlig ab? In Ge-danken sehe ich mein Foto schon in den Nachrichten und höre Durchsagen im Radio. Aber wie sollten die schon lau-ten? Ich mach ja nichts Verbotenes. Denn ich bin erwachsen und selbstständig. Ich fühle mich wie in einer Art Rauschzu-stand. Die beste Droge ist die Freiheit, das tun zu können, wonach einem ist. Und die Welt ist so verdammt groß. Es gibt so viele tolle Menschen, die wir treffen sollten, so viele Landschaften, die neu für uns sind. So viele Sprachen . . .

Von meinen Fantasien völlig berauscht, frage ich mich, ob München überhaupt groß genug ist für mich und mein Vorha-ben. Vielleicht sollte ich gleich ein fernes Land bereisen? Nein, ich sollte es jetzt nicht übertreiben. Für jetzt war Mün-chen schon okay. Ich kann nicht vom 1. ins 4. Level springen. Und so werde ich erst einmal die Stadt wechseln. Wer weiß, was dann noch kommen wird.


Zum Glück habe ich an meinen iPod gedacht. Er kann mich die nächsten Stunden ein wenig ablenken von wirren Gedan-ken. Die Akkus werden auch bald leer sein – danach wird er für mich nutzlos, weil ich keinen Mac zum Aufladen im Ge-päck habe. Aber auch das juckt mich nicht. Ich denke nicht daran, was morgen sein wird. Ich denke ja nicht einmal an die musiklose Zeit in wenigen Stunden.

Nein, ich denke nicht daran. Will nicht daran denken. Aber ich denke. Und ich beginne, mich über mich selbst zu wun-dern. Vor allem frage ich mich, wie ich nur so schnell mein Pflichtbewusstsein abstreifen konnte. Doch auch das ist nichts, was ich selbst zu verantworten hätte. Es wurde mir genommen! Ja, genau! Oder noch schlimmer: Es wurde zer-stört – durch all die negativen und gestressten Menschen. Ihre Unzufriedenheit, ihre andauernde Wut, der Ärger, der Zeitdruck, all das, was sie mir entgegenbrachten, hat mein Bewusstsein für Pflichten zerstört. Wie soll man denn auch im Sinne der Menschen handeln, wenn sie selbst nicht die Spur verantwortungsbewusst sind? Wenn es letztlich immer nur darum geht, das Beste für einen selber herauszuholen und dabei all das, was nervt, an anderen auszulassen? Nein, ich bin nicht plötzlich verantwortungslos geworden. Ich bin nur Opfer meiner Umstände. Und die Flucht, der Abstand von all dem ist das, was mich davor bewahren wird. Daran sind nicht einmal nur die Männer Schuld. Wahrscheinlich bin ich es so-gar selbst.

Die Fahrt zieht sich hin und ich mache mir keine Gedanken darüber, was ich tun werde, wenn sie beendet ist und ich an-komme. Vielleicht, weil ich es sowieso nicht weiß. Unnötige Gedanken habe ich satt. Und unnötige Fantasien ebenso. Manchmal muss man hinfallen, um zu merken, dass man die ganze Zeit schon auf einem sehr steinigen Weg unterwegs war. Füße halten schließlich einiges aus. Aber wenn du mal richtig auf die Schnauze fällst, weißt du erst, wie hart der Bo-den der Tatsachen tatsächlich ist. Und das ist gut so.

Good Morning Dornröschen

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