Читать книгу Good Morning Dornröschen - Daniela Kögler - Страница 6
Flucht in München!
ОглавлениеAls ich aus dem Zug steige, fällt mir sofort auf, dass die Luft hier nicht so dick ist. Ich kann leichter und befreiter atmen. Ein schönes Gefühl! Ich bin wie verwandelt. Von einer Sekun-de auf die nächste merke ich, wie sich meine Stirn entspannt. Meine Sicht wird klarer, als hätte sich der Nebel plötzlich ver-zogen. Planlos aber doch zielsicher marschiere ich durch die Innenstadt und lächele selig vor mich hin. Ein paar Menschen lächeln sogar zurück. Na also, es geht doch!
Da ist sie wieder – meine Ausstrahlung, mein inneres Lä-cheln, das ich so lange vermisst habe. Ich habe ES wieder gefunden. Ich habe MICH wieder gefunden. Wenigstens für einen Augenblick. Es ist einfach herrlich. Ein warmer Früh-lingswind umweht mein Gesicht. Viele Menschen kreuzen meinen Weg. Manche von ihnen wirken gestresst, andere scheinen zufrieden. Ich befinde mich in einem fast schon me-ditativen Zustand, doch bin ich so wach, wie schon lange nicht mehr.
Mir wird klar, dass ich in dieser Stadt bestimmt einiges er-reichen kann. Denn ich bin schließlich nicht nach München gekommen wegen dieses seligen Zustandes oder wegen der frischen Luft. Nein, ich bin hierher gekommen, um mich völlig neu zu orientieren. Ich will verrückte Dinge erleben. Will mir keine Gedanken darüber machen müssen, was meine Mit-menschen von mir denken. Ich will nicht das Gefühl haben, mich verstellen zu müssen, um akzeptiert zu werden. Und ich will nicht mehr vor mich hinkrebsen. Ich will Erfolg, richtig echten, handfesten Erfolg! Und ich bin auch bereit, dafür zu arbeiten. Sollte ich Model werden? Oder Schauspielerin? Bin ich dafür überhaupt geeignet?
Ich scheine schon abzuheben, bevor ich überhaupt ange-kommen bin. Ist es wirklich das, was mich glücklich machen kann? Erfolg? Geld? Ruhm? Ich kann es zumindest probieren.
Das Schauspielern zum Beispiel hat mir doch in der Grundschule schon immer so viel Spaß gemacht! Das würde mir gefallen: vor der Kamera in die verschiedensten Rollen zu schlüpfen. Angst, Wut, Leidenschaft und Trauer verkörpern. Endlich offen sein dürfen – wenn auch nur für eine Rolle. In unserer heutigen Gesellschaft ist es doch verpönt, starke Emotionen zu leben. Gerade im Beruf. Im Büro zum Beispiel sollte man sich immer beherrschen. Ein allzu ausgelassenes Auftreten könnte den Eindruck erwecken, man hätte nicht ge-nug zu tun. Und auch wenn es einem schlecht geht, sollte man damit besser hinter dem Berg halten. Angst, Trauer, Wut gelten doch eher als Schwächen, und die sind der beruflichen Laufbahn nicht gerade dienlich.
Dagegen das öffentliche zur Schau stellen der gesamten Bandbreite menschlicher Emotionen: ein verführerischer Ge-danke! Vielleicht ist der Beruf des Schauspielers heutzutage sogar die einzige Möglichkeit, alle Gefühle ungehemmt aus-leben zu können, ohne sich schämen zu müssen. Und zu-gleich hilft es, sich in seine Mitmenschen hinein zu versetzen.
Ich denke, ich bin dazu in der Lage. Einen Versuch wäre es wert. Nach kurzem Überlegen fällt mir auf: Noch nie in mei-nem Leben hatte ich Todesangst verspürt. Okay, natürlich konnte ich mich da glücklich schätzen.
Aber mal angenommen, ich müsste das jetzt und auf der Stelle authentisch rüber bringen. Dafür wäre eine Ahnung die-ses Gefühls sicher von Vorteil gewesen. So überlegte ich mir einfach eine entsprechende Szene. Eine Fluchtszene. Es geht dabei natürlich um Leben und Tod.
Also: Ich werde verfolgt. Ganz plötzlich. Mehr eine Ahnung als Gewissheit. Doch ich spüre es ganz deutlich. Die Gefahr, die sich nähert. Ich gehe schneller. Drehe mich immer wieder nervös um und schaue ängstlich nach hinten. Dann fange ich an zu laufen. Meine Gesichtsmuskeln verkrampfen sich und meine Hände ballen sich zu Fäusten. Ich mache mich kampf-bereit. Und schließlich fange ich doch an zu rennen. Ich renne um mein Leben. Immer wieder drehe ich mich um und schaue dabei panisch. Ich renne und renne, beginne zu weinen und kann einfach nicht mehr stehen bleiben . . . Ganz neuartige, bisher noch nie verspürte Emotionen steigen in mir auf. Meine Brust schnürt sich zusammen und doch setzt sich eine noch nie verspürte Kraft und Ausdauer frei.
Da reißt mich urplötzlich jemand am Arm. Ich werde herum geschleudert und fast zu Boden gerissen. Verwirrt schaue ich mich um. Da steht ein junger Polizist, der sich sichtlich über seine Beute freut. »Na, mein wertes Fräulein, wohin so eilig? Habe ich Sie nicht eben aus dem Kaufhaus kommen sehen? Zeigen sie mir mal Ihre Tasche!«
Tasche? Hat er sie nicht mehr alle? Ich schwebe in Lebens-gefahr!
Noch völlig aus der Puste stammele ich irgendetwas von Verfolgung, Leben und Tod und einer Schauspielerkarriere.
»Kommen Sie fürs Erste bitte mit – aufs Revier. Ich möch-te mich gerne ein wenig mit Ihnen unterhalten.«
Wie peinlich ist das denn?! Ich, eine Diebin? Sollte das schon das Ende meiner Selbstfindung sein? Ich finde doch wohl kaum auf einem Polizeirevier zu mir, oder? Zum Glück bin ich nicht mehr minderjährig. Sonst hätten die bestimmt meine Eltern angerufen: »Wir haben Ihre Tochter bei uns. Kommen Sie bitte schnellstmöglich vorbei.«
Meine Mutter mit verheulten Augen – mein Vater mit bösem Blick. Oder andersherum. Das wäre mir in dem Moment dann auch egal gewesen.