Читать книгу Good Morning Dornröschen - Daniela Kögler - Страница 8
Lou – Isa – Louisa!
ОглавлениеWährend ich noch vor der Polizeistation stehe und ein wenig sparsam in den Abendhimmel schaue, erklingt hinter mir wie aus dem Nichts eine Stimme: »Hi! Ich bin Louisa! Wie Lou und Isa! Also drei Namen zum Preis von einem. Du bist ja ’ne krasse Braut! Hab eben da drin alles mitbekommen.«
»Hä«, entgegne ich verwirrt und drehe mich um. »Wer bist du denn? Und was hast DU auf dem Revier gemacht?«
Ich mustere sie von oben bis unten. Und zugegebenerma-ßen klingt meine Frage ein wenig herablassend. Mein Gegen-über scheint das jedoch gar nicht zu bemerken oder aber stört sich nicht daran.
»Och, bin mit ’n paar Gramm erwischt worden. Kann pas-sieren. Selber schuld!«
Aha! Ich will gar nicht wissen, von welchem Zeug die Mrs. ›Drei-Namen-Zum-Preis-Von-Einem‹ ein paar Gramm zuviel dabei hatte. Mit Drogen hab ich absolut nichts am Hut. Auch wenn ich mir im Moment so vorkomme, als hätte ich nicht nur was dabei, sondern sogar intus. Denn gerade halte ich mich selber für etwas überdreht. Zumindest bis eben.
Denn diese Lou oder Isa oder Louisa – ach, ich werde schon ganz blöd bei den vielen Namen –, auf jeden Fall hat diese Frau den Mega-Knall. Steht hier vor mir und erzählt ei-ner völlig Fremden, dass sie grad wegen irgendeiner offen-sichtlich illegalen Substanz bei den Bullen war und scheint auch noch stolz drauf zu sein. Das relativiert mein Selbst-empfinden doch dramatisch, so dass ich mir auf einmal wie-der verdammt normal vorkomme. So normal, dass ganz leich-te Zweifel an meinem Abenteuer aufzukommen drohen. Ist es falsch, was ich hier mache? . . . Hey! Wer denkt das gerade?! Ich? Ich, die doch eben noch zu 100 Prozent von sich und ihrem Handeln überzeugt war? Ist doch nicht illegal, was ich hier treibe. Schließlich hab ich nichts mit Drogen oder ande-rem Zeug zu tun. Somit verbanne ich alle Ängste und Gesich-ter, die mich gerade im Geiste vorwurfsvoll ansahen, bis in die hintersten Winkel meines Bewusstseins. Ich befinde mich auf einer Reise – einer Reise zu mir. Und wenn diese Reise so lange dauert, dass Band 1, 2 und 3 meines Tagebuches ge-füllt werden müssen, dann ist es eben so! Ich würde nicht eher zurückkehren, bis ich mein Ziel erreicht hätte.
So stehe ich da, grübel und versuche mir selbst Mut zu machen, bis . . .
»Hey du! Bist du noch da? Alles klar bei dir? Hast’ was zu rauchen? Mir haben’s die Bullen doch abgenommen.«
Louisa reißt mich mit ihrer indiskreten Direktheit aus meiner morbiden Gedankenwelt. Als wäre ich überrascht von ihrer Gegenwart, starre ich sie schweigend an. Komischerweise finde ich sie auf den ersten Blick gar nicht mal unsympa-thisch. Zweifellos durchgedreht, das schon. Doch ihre unbe-kümmerte Art bedeutet zumindest eine gewisse Ablenkung. Solange sie auf mich einquasselt, brauch ich mir wenigstens keine Sorgen um meine nähere Zukunft machen, denke ich, und schon prasselt der nächste Kommentar auf mich ein: »Ich hab dich in der Szene noch nie gesehen. Bist du neu hier?«
»Äh . . . ja, sehr neu«, stottere ich. »Ich bin heute erst an-gekommen.«
Damit scheint für sie alles klar. Sie packt mich am Ärmel und zieht mich einfach mit. »Kannst mit zu mir. Ich hab gern Gesellschaft«, plappert sie unbekümmert. Nicht mal auf eine Antwort wartet sie. Ich stolpere hinter ihr her und ehrlich ge-sagt: Auch wenn ich eben noch voller Misstrauen war, kann ich mir im Moment keine bessere Mitbewohnerin vorstellen. Ich stelle mir Isa zwar ziemlich chaotisch und ihre Lebensum-stände sogar etwas . . . nun ja, schmuddelig vor, aber sie scheint eine ehrliche Haut zu sein. Ihre direkte und unbeküm-merte Art bewundere ich schon jetzt insgeheim. Ich fühle mich wohl bei ihr. Sie ist kein Mensch, der erst mal alles hinterfragt und dann die Nase rümpft. Okay, Fragen stellt sie schon sehr viele. Aber sie verurteilt niemanden auf Grund seiner Antwor-ten. Und wenn ich ihr auf die Frage, was mich nach München treibt, geantwortet hätte »Ich möchte eine Büffelfarm eröffnen und die Felle als Wärmflaschenbezug verkaufen.«, hätte sie mit Sicherheit gelacht und nicht weiter nachgefragt. Vielleicht hätte sie sogar die glorreiche Idee gehabt, in das Geschäft mit einzusteigen. Gewundert hätte es mich nicht. Sie ist ein-fach offen für Neues, offen für Skurriles und offen gegen-über allen Lebensformen. Insgeheim wünsche ich mir sogar schon ein bisschen, wie sie sein zu können. In meinem ›alten Leben‹ wäre das gar nicht möglich gewesen. Im Büro zählen Zuverlässigkeit und Disziplin. Höflichkeit und gutes Beneh-men sind ebenso unerlässlich. Da kann man nicht aufstehen, wann man möchte. Man darf nicht sagen, was man denkt. Nicht einmal anziehen, wonach einem gerade ist. Es gibt Re-geln und Hierarchien. Louisa scheint solche ungeschriebenen Gesetze und Konventionen nicht zu kennen. Wenn sie zu et-was gerade keine Lust hat, würde sie das sicher geradeaus sagen oder sich schlicht verweigern. Auf Statussymbole legt sie bestimmt keinen Wert. Auf Sauberkeit ebenso wenig. Wenn mir zuhause ein Krümel auf den Boden fällt, muss ich ihn sofort aufheben. Ich kann’s einfach nicht ändern. Und herumstehende Wäsche kann ich auch nicht leiden. Das nervt mich jedes Mal, wenn ich daran vorbeilaufe. Isa juckt das nicht die Bohne. Und das ahne ich alles schon, bevor ich ihre Bude betrete.
Als wir vor der Wohnung stehen, habe ich bereits das Ge-fühl, Lou seit Ewigkeiten zu kennen. Und das nach so kurzer Zeit. Verrückt eigentlich. Denn sie ist eine wildfremde Person. Ich hingegen habe noch nicht viel von mir preisgegeben. Doch sie erzählt ungehemmt und frei von der Leber weg von ihrem bisherigen Leben. Sie arbeitet in einem Kräuter-Laden und kennt sich mit den Heilwirkungen unglaublich vieler Pflan-zen aus. Die Hanfzucht hat sie allerdings vor einiger Zeit auf-gegeben, da sie von der Polizei erwischt wurde. Sie findet das Leben zu kostbar, als dass sie es im Knast verbringen möchte. Löblich, löblich!
Aus ihrer Tasche kramt sie den Hausschlüssel hervor. Der Schlüsselanhänger besteht aus vielen bunten und wild ver-knoteten dünnen Lederbändern. Mit Stil hat der definitiv nichts zu tun.
Auch das Haus sah bereits von außen alles andere als vielversprechend aus. Als sie die Wohnungstür öffnet, sprin-gen mich die 70er Jahre förmlich von allen Seiten an. Eine runde Kugellampe baumelt gefährlich locker von der Decke. Die Tapete zeigt sich in einem braun-orangefarbenen ›Hypno-se-Swirl-Muster‹. Da wird mir ja im nüchternen Zustand schon schlecht! An der Decke sind wilde, bunte Blumenmuster ab-gebildet. Möbel hat sie nicht viele. Eher hat sie wohl ein Faib-le dafür, alles in kleine Kisten zu stopfen. Im Wohnzimmer steht eine große davon. Meiner Einschätzung nach war das mal eine Umzugskiste. Meine Gastgeberin hat einfach ein großes, schrill-grünes Tuch darüber geworfen. Außen herum sind mehrere kleinere Schachteln drapiert. Es wirkt wie das Wrack eines Schiffes auf dem Meeresboden, an dem sich Korallen gebildet haben und das nun Fischen als Unterkunft dient. Es integriert sich langsam aber sicher in das restliche Umfeld. Keine Ahnung, warum mir ausgerechnet dieser Ver-gleich in den Sinn kommt, aber bevor ich noch eine andere Assoziation entwickeln kann, streckt sich Louisas Katze Min-ka unter dem langen grünen Tuch hervor.
Wir schauen weiter ins Badezimmer. Dabei frage ich mich ernsthaft, was wohl in einer Frau vorgehen mag, die in einer Wohnung lebt, in der der Klodeckel einen knallgrünen Bezug hat, die Fliesen blutrot sind und der Duschvorhang in einem neutralen grau erstrahlt – mit schwarzen Spritzern, wohl be-merkt. Ich werde den Verdacht nicht los, dass der anfangs einmal weiß gewesen war! Igitt! Ich rümpfe die Nase, aller-dings tue ich so, als würde mich etwas dort kitzeln, so dass meine Gastgeberin von meinem Ekelschock nichts mitbe-kommt. Es war ja schließlich überaus nett, dass Lou mir mit einer derartigen Gastfreundschaft gleich ihre Räumlichkeiten vorführt. Und eigentlich ist es ja auch egal. Geschmäcker sind eben verschieden und das Empfinden für Hygiene auch. Und schließlich bin ich ja auf Reisen gegangen, um andere Orte, andere Menschen und andere Lebensweisen kennen zu lernen. Also bin ich genau richtig hier in München – bei der abgedrehten Isa. Noch mehr ›anders‹ geht es schließlich kaum. Und eine andere Übernachtungsmöglichkeit habe ich auch nicht.
Wir gehen zurück zu der ›Korallenkiste‹ und ich betrachte meine Gastgeberin einen Moment, als sie vor dem Sofa steht. Sie ist eigentlich eine durchaus attraktive Erscheinung. Ihre langen schwarzen Haare glänzen im schwachen Kerzen-licht. Die leichten Naturlocken schlagen wild und doch geord-net um ihr Gesicht. Ihre leuchtenden, grünen Augen bilden einen schönen Kontrast zu ihren vollen roten Lippen. Die vor-deren beiden Zähne stehen ein wenig schief übereinander. Aber das macht ihr Lachen nur noch sympathischer. Und wenn sie lacht, vibriert ihr ganzer Körper. Beim Erzählen wir-beln ihre Arme wild durch die Luft. Sie wirkt so lebendig und niemals gelangweilt.
Wir machen es uns im Wohnzimmer mit Bier und selbstge-backenen Cookies auf dem Sofa gemütlich. Nach drei Kek-sen fühle ich mich komisch benommen. Aber das stört mich nicht weiter. Wahrscheinlich bin ich das Bier nicht gewohnt. Wahrscheinlicher noch: sie hat was von ihren ›Kräutern‹ (Räusper!) in die komischen Kekse gebacken hat. Doch ich beschließe gar nicht erst nachzufragen. Denn die Erzählungen von Lou interessierten mich gerade weitaus mehr.
Sie hat mit ihren 26 Jahren bereits ein sehr bewegtes Leben hinter sich. Ihre Mutter starb an Krebs, als sie 12 war. Alles ging sehr plötzlich und eine Heilung war nie in Sicht. Ab die-sem Zeitpunkt verlor sie auch ihren Glauben an Gott. Denn seit ihr die wichtigste Person in ihrem Leben auf diese unge-rechte Art und Weise genommen wurde, hatte sie nie wieder eine Kirche betreten können. Und auch ihre Lebenseinstellung hatte sie um 180° gedreht. Früher war sie strebsam in der Schule, hatte sogar einmal eine Klasse übersprungen.
Isa erzählt mir: »Seit dem Tod meiner Mutter weiß ich, was wirklich wichtig ist. Ich verbringe die Zeit nur noch mit Men-schen, die ich mag! Früher hab ich sehr viel gelernt und dadurch weniger Zeit mit meiner Mutter verbringen können. Als sie dann starb, habe ich es bereut und . . . nun ja, ich wollte nie wieder einen Menschen so verlieren!« Sie macht eine kurze Pause und holt tief Luft. Dann fährt sie fort: »Doch dann lernte ich Joe kennen und schöpfte neue Kraft. Ich wur-de auch bereits nach wenigen Wochen Beziehung schwanger von ihm. Das Kind war ein Unfall, aber ich wollte es trotzdem, denn ich liebte ihn. Doch nach zwei Monaten Schwanger-schaft war mir Joe untreu. Ich stürzte in ein tiefes Loch und hatte eine Fehlgeburt. Wieder einmal wurde mir klar, dass es keinen Gott geben kann. Er hat mich erneut verraten und im Stich gelassen. Daraufhin habe ich mich nicht nur von ihm abgewendet, ich begann ihn sogar zu hassen. Denn genau das, was Joe mir angetan hatte, hatte mein Vater meiner Mut-ter angetan, als sie mit mir schwanger war.«
Lou wirkt während ihrer Erzählung sehr gefasst und beinahe kühl. Ich allerdings kann mich so gut in ihre Situation hinein-fühlen, dass ich ihr mit Worten gar nicht sagen kann, wie gut ich sie verstehe. Daher setze ich mich einfach dicht neben sie und schenke ihr eine tröstende Umarmung. Jetzt fängt Lou doch leise an zu schluchzen. Ich vermute, dass sie ihre Ge-fühle schon sehr lange nicht mehr zugelassen hatte. Ein we-nig tut es mir leid, dass dieser lustige Abend derartig enden muss. Aber die Tatsache, dass mir Lou ihre Gefühle offen-bart, ist eine große Ehre für mich. ›Ehre‹ ist vielleicht das fal-sche Wort. Aber ich fühle mich geschmeichelt.
Als hätte sie meine Gedanken gelesen, löst sie sich aus der Umarmung und sieht mich an: »Du bist lieb! Weißt du das? Es gibt sehr wenige Menschen, denen ich meine Ge-schichte erzählt habe. Ich hasse Mitleid und bin nicht gerne traurig! Also, versteh das verdammt noch mal als Kompli-ment, hörst du?« Lou kneift mir lächelnd in die Backe und erhebt sich von ihrem Platz. Ich lächele zurück und kann mir dabei ein herzhaftes Gähnen nicht verkneifen.
»Lass uns schlafen gehen!«, zwinkert Lou mich an. »Kannst dich auf das Sofa legen. Du siehst verdammt müde aus. War sicher ein anstrengender Tag für dich. Penn dich aus.« Sie verschwindet kurz und kommt mit einer Decke wie-der. Kaum liege ich auf dem Sofa, fallen mir auch schon die Augen zu. Benommen nehme ich wahr, wie ich vorsichtig zu-gedeckt werde. Die Decke riecht ziemlich stark nach Hund. Meine Frage nach dem Grund kann ich allerdings nicht mehr äußern. Dafür fehlen mir die Kräfte. Ich gleite in einen wohl-verdienten, tiefen Schlaf. Befreit von allen Gedanken, vom schlechten Gewissen. Und auch von allen Ängsten, die ich habe. Es tut gut. Es tut gut, einmal abschalten zu können.
Als ich wieder aufwache, ist es bereits kurz nach 12 Uhr. Die Sonne lacht durchs Fenster. Na, denke ich, das könnte man ja mal wieder putzen! Aber egal. Würde ich Lou darauf aufmerksam machen, käme sicher irgendwas von wegen UV-Filter oder so. Sie hat ja immer die passende Antwort parat. Gerade allerdings verrät überhaupt nichts ihre Anwesenheit. Also gehe ich erst einmal unter die Dusche.
Als ich fertig bin und noch immer keine Lou zu sehen oder zu hören ist, schreib ich ihr einfach einen kleinen Zettel, denn es treibt mich weiter an diesem schönen, sonnigen Tag.
Kurzum verfasse ich folgenden Brief:
Liebe Louisa,
vielen Dank, dass du mich so herzlich aufgenommen hast!
Du hast mir sehr geholfen. Ich hätte sonst sicherlich keine Unterkunft mehr gefunden. Wenn du mich brauchst . . .
Ich lese noch mal. Mann, das klingt aber geschwollen. Bin das wirklich ich? Hört sich schlimmer an, als würde es meine Oma schreiben. Eigentlich fühle ich doch ganz anders! Also, Zettel in den Müll und das ganze noch einmal:
Hey Lou, hey Isa und Louisa! ;-)
3 in einem! Witzige Frau! Chaotische Bude! Und eine stin-kende Sofadecke!
. . . Sag mal, hast du ’nen Hund? Egal! Auf jeden Fall war das für die Nacht genau das Richtige für mich!
Wenn du mich mal brauchen solltest und ich dir helfen kann
(z.B. beim Fenster putzen ;-)) . . . just call me! I´ll be avail-able for you: 0176542588154.
Das Englische gefällt mir. Klingt irgendwie cooler, weltof-fener. Besser zumindest als ›Ruf mich an!‹. Das hat so einen fordernden Unterton. Und in dieser Umgebung, gegenüber dieser Frau kann man nicht fordern, kann man nicht spießig sein, muss man einen englischen Nachsatz auf den Zettel schreiben, den man da lässt nach einer solchen Nacht.
Etwas wehmütig gehe ich zur Tür und lasse sie hinter mir ins Schloss fallen. Es war eine verrückte Begegnung mit einer verrückten Frau. Die auf den ersten Blick sehr oberflächlich schien. Sich dann aber als tiefgründig und stark entpuppt hat. Ich bin wahnsinnig froh, sie getroffen zu haben. Meine Ein-stellung zu gewissen Dingen hat sich durch diese eine Person und diesen einen Abend geändert. Denn oftmals streben wir zu stark nach Erfolg im Beruf. Dabei vergessen wir, was ei-gentlich wichtig ist. Und zwar zu leben. Sich anderen Men-schen einfach zu öffnen ohne Angst, auch mal Schwächen zu zeigen. Das hatte Lou getan und ich war ihr sehr dankbar da-für. Doch nun war es Zeit weiter zu gehen. Denn ich fühle mich noch immer ruhelos und neugierig.