Читать книгу Granate oder Granatapfel, was hat der Schwarze in der Hand - Dany Laferriere - Страница 19

EIN ZIMMER IN DER STADT

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Ich schrieb gerade am offenen Fenster über dem Lärm der Straße, als Sonia ohne anzuklopfen hereinkam.

„Was machst du?“

„Ich beginne mit der Reportage.“

„Was? Ich dachte, für eine Reportage recherchiert man vor Ort?“

„Die Reise hat schon begonnen.“

„Du schreibst also über Dinge, die du nicht gesehen hast.“

„Aber ich schaue mir seit über zwanzig Jahren Amerika an. Meinst du, ein oder zwei Monate einer Touristenreise würden an dem Bild etwas ändern?“

„Ich finde es trotzdem komisch, was ist das für ein Reporter, der seine Bude nicht verlässt?“

„Das kommt häufiger vor als du denkst … Außerdem bin ich kein Reporter. Ich bin Schriftsteller. Sie verlangen nicht von mir, die Wahrheit zu schreiben. Sie wollen viel mehr. Eine Fotografie der amerikanischen Sensibilität. Was ich besichtigen könnte, ist viel weniger wichtig, als was ich empfinde.“

Sie bewegte sich lautlos durch das Zimmer. Ich spüre gern eine Frau in der Nähe, wenn ich schreibe. Schreiben und Begehren. Es dauerte eine Weile, bis ich merkte, dass sie tanzte. Ihre Füße glitten über den Holzboden. Ich beobachtete sie aus dem linken Augenwinkel. Ihre Bewegungen erschienen natürlich, aber hinter dieser Leichtigkeit spürte man eine ständige Anstrengung und stahlharte, wenn auch geschmeidige Muskeln. Der Tanz ist eine seltsame Kunst, die direkt dem Traum zu entspringen scheint. In meinen Träumen tanze ich häufig. Ich habe noch nie verstanden, warum der Tanz unbedingt mit Musik verbunden sein muss. Daher kommt der falsche Eindruck einer parasitären Kunst. Man hört schließlich Musik, ohne zu tanzen, warum soll man nicht tanzen ohne Musik? Manche Gepflogenheiten sind nur schlechte Angewohnheiten. Sie stellte sich leicht schwitzend hinter mich.

„Ich verstehe … Diese Leute haben dich schon bezahlt, deshalb brauchst du dir nicht mehr den Arsch aufzureißen …“

„Das war nur ein Vorschuss, für die Reisekosten. Den Rest bekomme ich bei Abgabe.“

„Langsam lerne ich dich kennen …“, bemerkte sie mit einem kurzen ironischen Lachen. „Hauptsache du kannst deine Miete bezahlen und hast Zeit zum Lesen …“

„Was kann sich ein Mann noch wünschen?“

Ihre Tartarenaugen verengen sich. Sie lässt sich in den Sessel fallen. Während sie mich ansieht, streift sie ganz nebenbei ihr Kleid hoch, so dass ich den Ansatz ihrer Schenkel sehe. Als ob plötzlich eine lange Nadel in meinen Nacken gestochen würde. Ich versichere Ihnen, das tut weh.

„Schau mal“, ruft sie wie ein kleines Mädchen.

Der rote Kreis der Abendsonne taucht das Zimmer in heißes Licht. Fast wie auf einer Kinderzeichnung. Ich habe plötzlich Lust auf ein gut gekühltes Bier. Sie läuft tänzelnd los und holt mir ein Carlsberg aus dem Kühlschrank. Sie tanzt ihr Leben.

„Was fängst du nur mit deiner Zeit an?“, fragt sie mich kopfschüttelnd, als wüsste sie schon, dass ihr die Antwort nicht gefiel.

„Viel zu viel“, antworte ich und trinke einen großen Schluck von dem kalten Bier. Langsam bekomme ich wieder Luft.

„Was zum Beispiel?“, hakte sie nach.

„Erstens lese ich …“

„Ja, immer Dostojewski …“

„Nein, heute morgen habe ich Walt Whitman angefangen.“

„Wirklich mal was anderes!“, spöttelte sie.

„Ich finde es ungerecht, Whitman hat schon alles Wichtige geschrieben, es ist ungerecht, wenn ich in der Zeit von ein oder zwei Monaten eine bestimmte Energie aufnehmen will, während Whitman sein ganzes Leben dafür eingesetzt hat. Das wird ein schrecklicher Kampf zwischen Walt Whitman und mir. Bin ich stark genug, um in einem Monat den Lebensodem dieser Naturgewalt zu empfangen, die Walt Whitman aus Manhattan besaß? Vorhin habe ich ihn ganz ruhig gelesen, da spürte ich ihn plötzlich direkt in meinem Plexus. Er ist mit solcher Wucht in mich eingefahren, dass ich aufgeschrien habe. Hör dir das an:

Walt Whitman, ein Kosmos, von Manhattan der Sohn,

Ungestüm, fleischlich, sinnlich essend, trinkend und zeugend,

Kein Empfindsamer, keiner, der sich über Männer und Weiber oder abseits von ihnen stellt,

Nicht bescheiden noch unbescheiden.*

Schweigen im Raum.

„So ein Mensch muss dir zum Freund werden.“

„Wie war das mit Dostojewski?“, fragte sie in ziemlich gewichtigem Ton, als wollte sie einen sehr aufwendigen Cocktail in einer Bar an der Rue Crescent bestellen. „War das anders?“

„Eigentlich sollte man nicht vergleichen. Ein Vergleich wirkt immer lächerlich. Dostojewski ist heimtückischer, er klebt an deiner Haut wie ein schlechter Geruch. Whitman ist direkt, erdverbunden, aber nicht wirklich, denn er ist schlau und glaub mir, der Alte hat eine harte Faust. Whitman zum Mittagessen, das muss man verdauen. Du hast den Eindruck, ganz Amerika dringt mit einem Schlag in dich ein …“

Ein letzter langer Schluck und ich rollte die Flasche über den Holzboden.

„Trotzdem“, fuhr sie fort, ohne sich von meiner kleinen Predigt beeindrucken zu lassen, „kann man doch nicht seine Tage nur mit Lesen verbringen …“

„Ach! Du willst einen genauen Bericht, wie ich meine Tage verbringe. Sag das doch gleich. Von Anfang an? Also ich stehe gegen zehn Uhr morgens auf, lese ein wenig, wie andere beten, bis ich wieder einschlafe – dabei ist zu unterstreichen, ich suche den Schlaf nicht, er soll mich finden. Die Geschichten, die ich gerade gelesen habe, bilden manchmal den Stoff meiner Träume. Das liebe ich. Später, viel später, wasche ich mich, ziehe mich an und mache etwas zu essen. Danach setze ich mich ans Fenster und schaue, wie die Leute unten vorübergehen. Sie haben es alle so eilig, dass ich nach einer Weile erschöpft bin. Ich schenke mir ein Glas Wein ein und lese weiter in meinem Buch. Dann ist schon Zeit für den Mittagsschlaf. Nach dem Mittagsschlaf (von einem Mann, der keinen hält, kann nichts Gutes kommen) gehe ich eine Runde durch den Park, aber nur kurz. Diese Mädchen in Sommerröcken würden mir sonst den letzten Nerv rauben. Auf dem Rückweg kaufe ich manchmal bei dem Dépanneur Obst, Gemüse und ein wenig Bier. Ich koche das Abendessen. Schon trudeln die Freunde ein, angelockt vom Geruch der Gewürze. Die Gewürzroute.“

„Deine Freunde? Aber ich kann mich nicht erinnern, dass du jemals Besuch hattest.“

„Das war früher. Jetzt empfange ich niemanden mehr.“

„Warum? Ist was passiert?“

„Nein, ich habe mich nur für eine Zeit verabschiedet. Ich kann monatelang so leben. Ich bin unter Wasser. Meine Freunde wissen, dass sie mich dann nicht aufsuchen dürfen.“

Noch eine Flasche Bier. Sonia hatte schon verstanden, dass sich heute nichts abspielt. Ich bin woanders. Im Winter sind die Mädchen so schwer zu haben. Aber im Sommer, wenn es für alles zu heiß ist, fallen sie geradezu über dich her. Wenn man selbst erregt ist, sendet man offenbar Vibrationen aus, die sie abschrecken. Mir wurde jetzt klar, um sie anzuziehen, muss man nur mit seinen Gedanken woanders sein.

„Ich sehe schon“, sagt sie, „du willst arbeiten.“

„Ich arbeite nicht, Sonia. Ich reise in meinem Kopf. Ich sitze im Augenblick in einem Bus, der in den tiefen Süden der USA hinunterfährt.“

„Ich verstehe nicht, wie du das tun kannst … Es ist nicht ehrlich.“

„Was ist daran nicht ehrlich? Die Tatsache, zu schreiben man sitze in einem Bus, während man sich nicht aus der Bude gerührt hat? Weißt du, das Wort ‚Autobus‘ ist für mich so wirklicher als der echte Bus. Wohlgemerkt, die beste Reportage über Amerika, die je geschrieben wurde, stammt von einem Mann, der fast nie das Haus verlassen hat.“

„Und dafür hat er, genau wie du, eine Stange Geld eingestrichen.“

„Nein. Zu jener Zeit kannten sich die Dichter noch nicht gut mit dem Geld aus. Allerdings konnte Whitman das Gemüse aus seinem Garten essen. Ich muss alles kaufen.“

„Bin dann mal weg …“

Und sie ging tanzend hinaus. So, wenn der Tanz zum alltäglichen Leben gehört, wird er für mich erträglich. Tanzaufführungen hingegen langweilen mich. Wie auch alle anderen Aufführungen. Whitman hatte mich auf den Geschmack gebracht. Ich setzte mich wieder an meine alte Schreibmaschine, um einen neuen Kontinent zu erfinden.

Granate oder Granatapfel, was hat der Schwarze in der Hand

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