Читать книгу Granate oder Granatapfel, was hat der Schwarze in der Hand - Dany Laferriere - Страница 22

EIN CARL LEWIS AUF DER SCHREIBMASCHINE

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Ich wusste nicht, dass es so schwer werden würde. Von weitem sah ich die anderen oben auf dem Gipfel. Wo die Luft kühler ist. Schön cool. Wie Götter! Ich beneidete sie mit allem, was ich im Bauch hatte. Ich musste um jeden Preis dort hinauf. Wo die Früchte nie fade schmecken, wo das Gemüse grüner ist als anderswo (diese Information habe ich von Truman Capote, der lange mit den Reichen verkehrte), wo die Mädchen immer blutjung sind (jedes alte Ekel über sechzig mit einem sechsstelligen Bankkonto wird es dir bestätigen), wo alles zum Besten steht in der besten aller Welten. Sollen die anderen doch unten bleiben und schauen, wie sie durchkommen in dem Morast. Keine Reue. Keine Nostalgie. Die Armut hat es nie gut mit mir gemeint. Wenn Leute dort oben sind, kommt man irgendwie hinauf, warum also nicht auch ich? Das Einzige, was du wissen musst: Um dort hinaufzugelangen, muss man sehr leicht, sehr, sehr leicht werden. Oben schwimmen, Alter. Alles hinter dir lassen, was dich belastet: die Ängste, die falschen Probleme (vor allem die echten Probleme!), die Jugendträume, die Gewissensbisse, schlicht alles, was dich an den Füßen festhält und so hindert, mit frischem Mut die jüdisch-christliche Gesellschaftsleiter hinaufzuklettern. Vor allem musst du daran denken, dass du unbedingt mit der Form eines Profiathleten oben ankommst. Ein Carl Lewis auf der Schreibmaschine. Schlank, biegsam, mit Nerven wie Stahl und brennend vor Ehrgeiz. Der schnellste lebende Schriftsteller, wenn man schon nicht der beste sein kann. Ein Buch in weniger als zehn Sekunden. Das ist eine echte Herausforderung. Da musst du schuften wie ein Neger. Mit einer guten Stoppuhr. Genau wie die Champions, Bruder. Alle Berufe sind bemüht, bei unserer schnelllebigen Zeit mitzuhalten. Nur bei den Schriftstellern trifft das noch auf taube Ohren. Dann wundern sie sich, wenn die Rockmusiker oder die Hockeyspieler die Hitparaden erobern. Selbst Journalisten tun heutzutage, was sie können. Nur die Schriftsteller stricken weiter an ihren kleinen Intrigen aus dem letzten Jahrhundert, ohne sich um die Gegenwart zu kümmern. Sie hinken völlig hinterher, dicht gefolgt von den Bildhauern. Aber die Zeit rast, Bruder. Eigentlich hätten wir das als erste begreifen müssen, denn Schreiben bedeutet angeblich, über die Zeit zu herrschen. Dass ich nicht lache! Die Zeit steht auf unseren weißen Blättern ganz still. Eine tote Zeit. Denn die echte läuft weiter. Schaut euch die Athleten da draußen an. So selbstsicher, lebenslustig, fiebrig, das linke Auge immer auf die Stoppuhr geheftet. Sie wissen, was sie wollen und was sie wert sind, auf die Zehntelsekunde genau. Habt ihr den Kopf von Carl Lewis gesehen? Diesen Kopf eines Prinzen trüge ich gerne auf meinen Schultern. Lewis ist es gewohnt, an den Start zu gehen, um zu messen, was er wert ist. Ohne Wehleidigkeit. Die Stoppuhr in der Hand. So häufig wie du zum Wäschewaschen gehst. Die Schriftsteller schwimmen dagegen im künstlerischen Ungefähr. Manchmal löst das bei mir einen Brechreiz aus. Nur sehr wenige Schriftsteller können genau angeben, wo sie gerade stehen. Es ist der letzte Berufsstand, der so bedingungslos an der Bescheidenheit festhält, dieser tugendhaften Form der Heuchelei. Dazu die Behauptung, man schreibe, um sich selbst besser kennenzulernen. Natürlich würde keiner sagen, Carl Lewis und Hemingway übten denselben Beruf aus. Doch bin ich mir nicht mal sicher, ob Hemingway das auch so gesehen hätte. Denn er wollte den Sport und das Schreiben näher zusammenbringen. Kein schlechter Versuch, übrigens. Dabei verdienten die Sportler damals praktisch nichts. Heute verdient Carl Lewis Millionen, für nicht mal zehn Sekunden. Das ist ein Beruf, der es wirklich weit gebracht hat. Die Sprünge, die er macht! Warum meint man immer noch, die Energie des Hirns sei besser als die Energie der Muskeln? Was lässt uns glauben, ein Schriftsteller sei intelligenter als ein Athlet? Der eine benutzt sein Gehirn, sagen Sie. Welcher von beiden? Der sich drei Jahre mit einem Roman abmüht, der ihm alles in allem 5000 Dollar einbringt, oder dagegen Carl Lewis? Ja, aber … Aber was? Ein Schriftsteller hat mehr Prestige. Selbstverständlich, wenn dir das hilft, weiterzuschreiben, Bruder.

Granate oder Granatapfel, was hat der Schwarze in der Hand

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