Читать книгу Granate oder Granatapfel, was hat der Schwarze in der Hand - Dany Laferriere - Страница 21

FÜR DIE BERUFSEHRE

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Hier im Paradiso spielt sich alles ab: Krieg, Leben und Tod, Liebes- und Geschlechtskrankheiten, Gewalt, brutale Trennungen und verhängnisvolle Affären. Auf dieser winzigen Fläche. Jeden Abend. Die Einheit von Zeit (von 23 Uhr abends bis 3 Uhr morgens) und Ort (die Tanzfläche). Jedes Mal die selben Charaktere (Jenny, Charlie, Adam, Cham und früher ich). Man braucht sich nur in eine Ecke zu setzen (so wie ich heute Abend), um zuzusehen, wie das große Schauspiel unserer Zeit sich langsam entfaltet. Rassen, Geschlechter, Klassen, Religionen, alles vermischt, zu dem einzigen Ziel, uns zu unterhalten. Denn der Mensch spielt perverse Spiele und praktiziert Rituale ohne Sinn und Zweck. Nur, um uns zu unterhalten, bekommt Jenny jeden Abend einen Eifersuchtsanfall, schließt sich in der Toilette ein und droht, sich die Pulsadern aufzuschneiden. Und auch, um uns zu unterhalten, lässt sich Cham von Charlie jedes Mal seine Neue ausspannen und sich anschließend von ihm vermöbeln, weil er versucht hat, sie zurückzuholen, als Charlie weg war, um sich seine Dosis zu spritzen. Und ebenfalls, um uns zu unterhalten, kriegen sich Jenny und die Neue von Charlie (die Ex von Cham) auf der Treppe in die Haare, während Charlie sich oben ausschüttet vor Lachen. Wenn du in fünfzig Jahren wiederkommst, ist es immer noch das gleiche Schauspiel. Wie in der Messe gibt es die Darbietung der Hostie (wenn Charlie auf das Mädchen von Cham aufmerksam wird), das Evangelium (wenn Charlie seinen blödsinnigen Sermon loslässt, wie scharf Blondinen auf Schwarze sind) und die Wandlung (alle senken den Kopf, um das Mysterium der Eucharistie nicht zu schauen), wenn das Mädchen hingeht als würde sie schreien: „Seht her, dies ist mein Leib, esset ihn, und dies ist mein Blut, trinket es.“ Dann nimmt Charlie sie mit auf die Toilette und zwei gute Stunden darf keiner pissen gehen. Manchmal drei. Ite missa est. Warum gewinnt immer der größte Depp? Ganz einfach, Alter, weil er der größte Depp und kein durchschnittlicher Depp ist. In Amerika geht es immer um Superlative. Suche dir einen Bereich, egal welchen, und werde darin der Größte. Das ist alles. Zum Beispiel: Du bist Schriftsteller, nicht wahr? Nun … Du bist Schriftsteller, ja oder nein? Du musst wissen, was du willst. Wir sind nicht in Europa. Bist du Schriftsteller? Ja, ich glaube. Schon ein bisschen besser. Entscheide dich, Alter. Stell dir vor, man stellt die gleiche Frage einem Klempner. Bist du Klempner? Nun … Den Mann lässt du doch nicht in dein Badezimmer.

Ich hing noch diesen wenig schlüssigen Gedanken nach, als sich ein kräftiger Arm um meinen Hals schlingt.

„Da ist ja unser Star!“

Ich weiß, wer es ist.

„Hallo Charlie.“

Er drückt mir den Hals weiter zu.

„Hallo, Alter.“

Langsam geht mir die Luft aus.

„Warum besuchst du uns?“

„Ich wollte nur was trinken, Charlie.“

Charlie drückt nochmal zu.

„Was meinst du mit ‚nur was trinken‘?“

„Nichts weiter, Charlie.“

Ich bringe kaum einen Ton heraus.

„Deine Freunde sind dir wohl nicht mehr wichtig?“

„Natürlich sind sie mir wichtig.“

„Es sieht nicht so aus.“

Er stößt mich weg und ich werfe den Tisch um, einem Mädchen mit einer Tonne Ketten um den Hals auf die Füße. Sie beginnt zu schreien.

„Scheiße, hör auf mit dem Blödsinn, Charlie, ich wollte nur in aller Ruhe was trinken.“

Er geht mir wieder an die Gurgel.

„Sag das nicht nochmal!“

Wir rollen über den Boden, ich hole mir von einer dort liegenden Glasscherbe eine Schnittwunde am Arm. Das Blut bildet einen Fleck auf Charlies Hemd und er denkt, er sei verletzt. Ich kann ihn endlich wegstoßen und auf die Toilette rennen. Mein ganzer linker Arm ist voll Blut, aber eigentlich ist es nur ein kleiner Schnitt. Ich weiß nicht, warum Charlie denkt, ich hätte ihn in meinem Roman beschrieben. Tatsächlich habe ich für eine Figur ein paar Züge von ihm geklaut, aber diese Figur ist nicht nur er. Ich wiederhole es, diese Figur hat nicht mehr von Charlie als von Adam, der damals auch gerade an einem Roman schrieb (der später nie wieder erwähnt wurde) oder von Cham oder sogar von mir selbst (mindestens dreiunddreißig Prozent). Gut ein Drittel dieses verfluchten Romans stellt mich dar. Außerdem habe ich ihn geschrieben. Aber das alles ist Charlie egal. Er meint, ich brauchte nur ihn und sein Leben zu betrachten, um dieses Buch zu verfassen. Tatsächlich habe ich einige seiner Sprüche wörtlich übernommen. Er hatte zu einem Mädchen, dem er den Laufpass gab, gesagt: „Es ist für alle eine harte Zeit, Alte.“ Jeder in der Bar weiß, dass ich den Spruch Charlie verdanke, aber so gehen die Schriftsteller eben vor. Sie verschlingen Menschen, um Wörter auszuscheißen. Ich wette, Charlie hat das Buch nicht mal gelesen. Er gibt sogar damit an, dass er noch nie im Leben ein Buch gelesen hat. Aber warum sind die anderen auch seiner Meinung? Verrückt, in meiner Naivität dachte ich, sie würden mich wie einen Helden begrüßen. Seitdem ich das Buch veröffentlicht habe, sind die Schwarzen plötzlich in Mode. Noch nie war so viel von ihnen die Rede. Endlich kam einer, der so über uns schreibt, wie wir es gerne hätten. Ich sagte mir: Die Schwarzen werden sich vor mir verneigen. Sie werden sagen: „Schau dir den kleinen Witzbold an, er hat den Weißen abgeschaut, wie man es macht. Von Musikern und Sportlern ist das bekannt, mit den Wörtern fällt es uns noch etwas schwer, aber dieser junge Schlaukopf hat sich einen Weg bis ins Innere des Alphabets gebahnt. Und er ist sogar gesund und munter zu uns zurückgekehrt, unter dem Beifall von vielen Weißen Liberalen. Alles, was wir wollen ist, dass er sich möglichst viel Kohle von den Weißen geholt hat. Natürlich interessieren sich nur Yuppies und alte weiße Squaws für seine Rezepte. Wir Schwarzen können nichts mit einem Buch anfangen, das Tricks anbietet, wie man besser vögelt, da wir bei unserer Geburt schon in den Zaubertrank gefallen sind (oh ja!). Wir geben keinen Cent für ein ziemlich einfältiges Werk aus, das erzählt, wie ein Schwarzer sich durch diesen Dschungel kämpft. Wir beklatschen nur den gelungenen Coup und Schluss.“ Ich hatte ziemlich sicher so ein langes Palaver unter dem Baobab erwartet, nicht mehr und nicht weniger. Aber ich habe mich gründlich getäuscht. Ich erinnere mich an die Zeit, als Cham und ich junge Schwarze ohne Geld waren, die vorhatten, die Welt zu verändern, um ein größeres Stück vom Kuchen zu bekommen. Wir sagten immer, die Bücher, die die Weißen über die Schwarzen schrieben, seien alle zu zahm vor lauter Rücksichtnahme. Eingeschmiert mit der ganzen Vaseline des jüdisch-christlichen Schuldgefühls, gingen diese Bücher den Dingen nie auf den Grund, in einem Wort, diese Bücher waren MistMistMistMistMistMistMistMistMistMist. Die von Schwarzen geschriebenen waren noch schlimmer. Immer dieser alte Blödsinn von der „Verteidigung und Darstellung der Rasse“. „Und das, Alter“, sagte Cham immer mit seiner dünnen, hohen Stimme, „hat nichts mit Literatur zu tun, rein gar nichts … Literatur ist Enthüllung und sonst nichts. Sagen, was nicht gesagt werden darf.“ Jedenfalls sprachen wir damals so, Cham und ich, als es für uns nicht immer gut lief. Wir unterhielten uns ein bisschen darüber (mit Eleganz und Coolness, du weißt schon), bis ein Mädchen (ich glaube Jenny) eines Abends verkündete, Adam sei dabei, ein Buch zu schreiben. Sie habe ein Kapitel gelesen und es sei eine Bombe. Keiner hat einen einzigen Moment geglaubt, dass Adam etwas Explosives schreiben könnte. Das Mädchen (ich bin nicht mehr sicher, ob es Jenny war) ließ durchblicken, dass wir von Adam keine Ahnung hätten, dass sie sich mit Männern ganz gut auskannte und dass sie Adam für den Typ Mann hielt, der das Zeug zum Serienmörder hatte. Er sei ein frustrierter Träumer. Schweigen um den Tisch. (Ach ja! Wir waren bei Jenny, aber ich weiß nicht mehr, wer dieses Mädchen war.) Für sie war Adam jedenfalls der Prototyp des Schriftstellers. Ein Perverser, der im Trüben fischt. Ein Impotenter. Ein Voyeur. Ein armseliger Träumer. So beurteilte sie also Autoren. Es hatte mir einen harten Schlag versetzt. Schriftsteller? Impotente Spanner, bereit, sich selbst zu verkaufen, nachdem sie ihre Freunde schon drangegeben haben. Eigentlich müssten sie büßen für die Schläge und Verletzungen, für die Erniedrigungen, die sie ihren Figuren zufügten, für die Gerüchte, die sie verbreiteten oder für die alten Klischees, die sie unter der Asche wieder aufrührten. Die Leser sahen in den Schriftstellern feige, lüsterne und gemeine Menschen, obwohl sie ihnen zuvor für dieselbe Bespitzelung und denselben Verrat Beifall gespendet hatten. Unbewusst war das vielleicht auch ein Grund, weshalb ich an diesen Ort zurückgekehrt war. Ich wollte mich von denen beurteilen lassen, die in meiner Vorstellung zu Figuren geworden sind, nachdem sie meine Freunde waren. Auch deshalb hatte ich mich mit Charlie geprügelt. Für die Berufsehre.

Granate oder Granatapfel, was hat der Schwarze in der Hand

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