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MEHR ALS VINTAGE-CHARME

Amerikanische Weihnachtskarten und eine Familienchronik in Weihnachtsbriefen

Advent, Advent, ein Lichtlein brennt. Lichterketten und Weihnachtskränze mit roten Schleifen haben die im Herbstlaub leuchtenden orangefarbenen Kürbisse vertrieben, und wie in vielen Häusern der Nachbarschaft verbreiten batteriebetriebene Kerzen auch in unseren Fenstern ein warmes einladendes Licht, Balsam für die Seele in den langen dunklen Nächten des beginnenden nordamerikanischen Winters. Der Geruch von Zimt und Vanille im Haus zeugt von der Weihnachtsbäckerei mit meinen Kindern und erinnert mit dem feinen Hauch von Nostalgie an das fröhliche vorweihnachtliche Miteinander längst vergangener Tage und den unaufhaltsamen Lauf der Zeit. Weihnachten kommt jedes Jahr ein bisschen schneller, denke ich im Stillen und wende mich meinem Weihnachtsbrief zu.

Weihnachtsbriefe haben in der Familie meines Mannes eine lange Tradition, und eines Tages vor vielen Jahren führte ich diese Tradition einfach fort. In unserem hübschen Apartment im Navy Yard saß ich seinerzeit am Schreibtisch und blätterte nachdenklich durch meinen Kalender. Wie konnte ich die Fülle der Geschehnisse und Bilder in meinem Kopf auf dem Papier lebendig werden lassen? Wie die Familie und Freunde in den anderen Teilen und Zeitzonen der Erde mit meinem einseitigen Dialog in unser Leben einbinden? Konnte eine Begegnung in Briefen mehr sein als ein zeitversetzter entschleunigter Austausch oder orchestrierter Einblick in unseren Alltag?

Mit der Geburt unserer Tochter zu Beginn des Jahres hatte sich unser Leben verändert. Es schien trotz einer sich langsam einspielenden Routine anders bedeutsam, und ich fragte mich, ob mein erwachendes Bedürfnis, mich mitzuteilen, auf dieser neu empfundenen, subjektiven Wertigkeit beruhte. Einer Wertigkeit, die, in Worte gefasst, ohne wirkliche Erwartung an den Lesenden beteiligen wollte: an Freuden und Ängsten, Begegnungen und Besuchen, Erfahrungen und Emotionen. Vielleicht suchte ich mit jenem ersten Brief und denen, die folgten, unbewusst eine gewisse Nachhaltigkeit, fast so, als wäre mein geschriebenes Wort beständiger und greifbarer als die Erinnerung selbst.

Mein Briefprojekt wurde Teil der Weihnachtszeit und beschäftigte mich oft lange, bevor ich mich an meinen Schreibtisch setzte. Ein gleichbleibender Rhythmus hatte sich in unseren Alltag geschlichen und teilte das Jahr immer wieder in Schul- und Freizeit, in Urlaube in Europa und Spring Breaks in den Staaten. Fast monoton schienen diese Einträge rückblickend in meinem Kalender, und dennoch waren die Tage gefüllt mit Leben. Ich suchte nach Anekdoten, nach kleinen Details, die dieses Leben beschrieben, die mein Gegenüber vertraut machten mit uns und unserem familiären Miteinander, die in Füllfedermomenten eine Intimität schafften, in der sich die Distanz verlor. Sie sollten beleben, was sich fast schablonenhaft in meinen Briefen wiederfand, und mehr als zwischen den Zeilen widerspiegeln, wie es uns ging.

Ich erzählte von Meilensteinen, von kleinen und großen Erfolgen, von dem, was uns zum Lachen brachte und zu Tränen rührte. Zuweilen flossen meine Gedanken so selbstverständlich auf das Papier, als ließe sich Freude ungleich leichter mit Worten wiedergeben. Zuweilen allerdings haderte ich mit jedem Wort und dem Bild, das es zeichnete, um nichts zu beschönigen und doch zu bewahren, was nicht für den anderen bestimmt war. Und mehr als einmal war ich versucht, eine Weihnachtskarte zu schicken, wie das hierzulande so üblich ist.

Rund 1,3 Milliarden solcher Christmas cards werden in den Staaten jedes Jahr verschickt. Sie mischen sich im Dezember zwischen die üblichen Berge von Katalogen, Werbeblättern, Rechnungen und Spendenaufrufen und sind in den Briefkästen leicht an ihrem edlen Papier, den handbeschrifteten Umschlägen und den Briefmarken mit Weihnachtsmotiv erkennbar. Natürlich gibt es im Zeitalter von Facebook und E-Mail einfachere Wege, »holiday cheer« zu verbreiten, als auf die altbewährte Weise. Aber wie meine Nachbarin einmal so schön sagte: »Christmas is all about tradition«, und die Karten gehören eben dazu.

Mal einfach, mal aufklappbar, in horizontaler, vertikaler oder quadratischer Form, mit oder ohne Zierleiste, mit oder ohne schimmernden Glanz, im Tannendesign oder mit Schneeflöckchen im Hintergrund wünschte man Merry Christmas, Happy Holidays oder auch mal Merry everything in Druck- oder Schreibschrift in einem vorgegebenen Textfeld. Der Aufwand, seiner Karte eine persönliche Note zu geben, ist nicht zu unterschätzen, denn trotz all der standardisierten Designmöglichkeiten müssen all diese Entscheidungen erst einmal getroffen werden. Und wenn für das übliche, oftmals professionell geschossene Familienfoto am Strand oder im Schnee niemand zum Posieren Zeit findet, zeigt man seiner Familie, den Freunden und Nachbarn eben mit einem Bild des zum Haus gehörenden Vierbeiners und den Worten »Sorry. No one else came to pose«, dass man an sie denkt.

Weihnachtskarten muss man öffnen. Man kann sie in der Hand halten, immer wieder betrachten und auf dem Kaminsims zur Schau stellen. Sie sind ein Zeichen der Wertschätzung mit mehr als nur Vintage-Charme und bereiten Freude. Doch anders als bei meinem Brief ist das Sichtfenster selbst mit einem knapp gefassten Jahresrückblick auf der Rückseite begrenzt. Es lässt gerade genügend Platz für die Highlights des Jahres, und vielleicht oder gerade deshalb schrieb ich Jahr für Jahr einen Brief.

Diese Briefe begleiten seit bald fünfundzwanzig Jahren die Bilder in unseren Alben und die Adressaten, die sie lesen. Sie suchen wenigstens einmal im Jahr jene Verbindung, die mit der Distanz und der Schnelllebigkeit unserer Zeit in Intensität, nicht in Verbundenheit ins Hintertreffen gerückt ist, und tragen mal mit Blick auf den leicht angefrorenen See, mal mit den weihnachtlichen Klängen in unserem Haus, einem Gedicht oder Zitat mehr als nur meine Handschrift. Sie öffnen immer wieder ein Fenster in unsere Vergangenheit und sind, wie sich heute herausstellt, fast so etwas wie eine Familienchronik in Weihnachtsbriefen.

Hier ist dort ganz anders

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