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KEINE ZEIT FÜR KAFFEEKLATSCH

Nichts ist gemütlich in einer immer in Bewegung scheinenden Gesellschaft. Wie gelingt es, in einem anderen kulturellen Umfeld den gleichen Grad an Wohlbefinden zu erreichen?

Das Wort Gemütlichkeit ist schwer zu übersetzen. Es gibt in der englischen Sprache keinen treffenden Ausdruck für diesen »subjektiv empfundenen Gemütszustand des Wohlbefindens«, und vielleicht lässt er sich gerade deshalb nur schwer in unser dem nordostamerikanischen Pendelschlag folgendes Leben integrieren.

Es ist das Bedürfnis nach einem Moment Geborgenheit, nach einem Moment der Ruhe in unserer schnelllebigen Zeit, nach der heimeligen Atmosphäre, die Wärme, Herzlichkeit und Wohlbehagen vermittelt. Ob bei einem Gläschen Wein oder eher zünftig im Biergarten, ob mit Glühwein auf dem Weihnachtsmarkt oder beim Latte Macchiato im Café – Gemütlichkeit ist aus unserer deutschen Kultur nicht wegzudenken. Es ist ein tragender Bestandteil geselligen Beisammenseins, unserer Ess- und Trinkkultur und für mich ein Stück Lebensqualität.

Für meine amerikanischen Freunde ist das Konzept eher befremdlich. Die Idee, gemütlich bei Kaffee und Kuchen zusammenzusitzen, verliert sich meist schon beim Gedanken an die Kalorien. Mit der hier zeitgemäßen To-go-Mentalität trinken viele Amerikaner den Kaffee lieber unterwegs, zwischen Workout und Supermarkt, beim Hundespaziergang und am liebsten im Auto. Das nicht zweckgebundene »am Tisch sitzen« ist in einer scheinbar immer in Bewegung befindlichen Gesellschaft auch ein Problem. Da werden Muße und Gemütlichkeit schnell zum Müßiggang, den nur wir Europäer uns leisten können, und der gedeckte Tisch weicht dem Stelldichein an der Kücheninsel mit Minimuffins und Obst.

Ein solches zwangloses Kommen und Gehen hat zur Folge, dass die enthusiastischen Zusagen zu »coffees« oft nicht das Erscheinen garantieren. Und als wäre es nicht genug, dass unser Leben zunehmend »busy« ist: Es ist in, es selber auch zu sein und dies optisch zum Ausdruck zu bringen. In sportlichen »live a sweat life ready gear«-Outfits demonstriert man einen gesundheitsorientierten, dynamischen und erfolgreichen Lebensstil und ist mit seinem Fitnesstracker am Handgelenk nicht nur salonfähig, sondern immer auf dem Sprung. So richtig gemütlich wird es dabei kaum.

Ist uns Deutschen die Gemütlichkeit in die Wiege gelegt? Suchen wir diese Stunden des Wohlbehagens als Ausgleich in unserem bewegten Leben? Wäre es nicht einfacher, in Bewegung zu bleiben, als anzuhalten, die Seele baumeln zu lassen?

Tatsache scheint zu sein, dass das Gemütliche eine gewisse Gelassenheit mit sich bringt und uns Deutschen – wie sich mir an einem gemeinsamen Spa-Wochenende mit Freundinnen zeigte – mehr als den Amerikanern ein inneres Bedürfnis ist.

Zu diesem Verwöhnwochenende der amerikanischen Art auf der renommierten Canyon Ranch in den Berkshires waren wir zu fünft angereist. Wir beiden Europäerinnen richteten uns erst einmal ein und studierten für den Rest des Nachmittags die Fülle des Angebots mit Kursen drinnen und an der frischen Luft: wandern, radeln, Kanu fahren, meditieren, tanzen, kochen und natürlich essen. Von sechs Uhr morgens bis spät in die Nacht konnte man sich hier im Stundentakt fordern, Neues ausprobieren, medizinisch untersuchen und kosmetisch inspirieren lassen. Das Programm war überwältigend, und so entschieden wir uns, am Morgen erst einmal auszuschlafen, gemütlich zu frühstücken, nach dem Spaziergang an einer Spin-Klasse teilzunehmen und uns den Rest des Tages im Wellnessbereich von den Strapazen zu erholen. Unsere amerikanischen Freundinnen hingegen waren nicht zu bremsen. Nach dem Ranch-Motto »Take a break. Make it count.« rasten sie das ganze Wochenende von früh bis spät verschwitzt und begeistert von einem Kurs in den nächsten, freuten sich zwischen dem Bootcamp-Training und den Kickboxing-Klassen über ihren Muskelkater und balancierten das tagesfüllende Programm mit Yoga und Thai Chi aus.

Angesichts dieses wahrhaft bewundernswerten Tatendrangs und all der »such a great class«-Kommentare regte sich natürlich ab und zu mein schlechtes Gewissen. Als wir den Wein am Abend vor dem Kaminfeuer dann allerdings allein tranken, da der amerikanische Teil der Truppe geschafft im Bett lag, stellte ich mit Befriedigung fest, dass ich nach all den Jahren in den Staaten dem amerikanischen Twist des lateinischen »Carpe diem« noch nicht erlegen bin. Bestens erholt fuhren wir ein paar Tage später alle wieder heim, und es war nicht wirklich überraschend, dass wir aufgrund unserer Erzählungen den Eindruck erweckten, als hätte die eine Gruppe am Wochenende den Mount Everest bestiegen, während die andere vom Basecamp aus nur entspannt die Aussicht genoss.

Gemütlichkeit bringt Ruhe in unseren hektischen Alltag und begleitet das befreiende Gefühl, in Einklang mit sich und seinem sozialen Umfeld zu sein. Ob geschminkt oder ungeschminkt, unterhaltsam oder müde, albern oder nachdenklich … gemütlich wird es erst, wenn es erlaubt ist, sein wahres Selbst zu leben. Da verlieren sich Selbstdarstellung und Erwartungen in einer Woge urteilsfreier Akzeptanz und Ausgeglichenheit. Wir suchen und wertschätzen diese Aura des Wohlbefindens mal zu Hause auf dem Sofa mit einem Buch in der Hand, mal in der Gesellschaft von Familie und Freunden. Ist es möglich, in einem ungewohnten kulturellen Umfeld den gleichen Grad an innerer Zufriedenheit zu erreichen? Sind Details wie das Bestreben, sich in ein Gespräch einzubringen, ohne die Grenze politischer Korrektheit zu überschreiten, hinderlich? Führen sie nicht eher zu An- als zu Entspannung?

In all den Jahren habe ich beobachtet, dass ich mich in der Gesellschaft von Amerikanern je nach Vertrautheit immer leicht außerhalb meiner Komfortzone bewege. Bei Diskussionen mit den Damen meiner Büchergruppe beispielsweise bemühe ich mich oft so lange um die richtige Wortwahl, dass ich Mühe habe, meine Gedanken zu den Themen im Fluss der Unterhaltung rechtzeitig zu äußern. Und so gelingt es mir nur selten, den Grad an Gemütlichkeit zu erreichen, wie ich ihn beispielsweise im Kreis meiner deutschen Frühstücksrunde empfinde. Einmal im Monat treffen wir uns, die Einladungen gehen reihum und finden immer zu Hause statt. Woher wir uns alle im Einzelnen kennen, kann ich schon gar nicht mehr sagen. Jede von uns hat es aus ganz unterschiedlichen Gründen in diesen Teil der Erde verschlagen, und es ist eigentlich auch nicht wichtig, ob uns unsere Lebenswege auch in Deutschland zu Weggefährten gemacht hätten. Hier sind wir Seelenverwandte durch unsere deutschen Wurzeln, sind uns durch unsere langjährigen Tafelrunden verbunden und fühlen uns verstanden. Und einfach so verstärkt sich mit dem Klang des fröhlichen Gelächters und trauten Geplappers zwischen dem Aroma von frisch gemahlenem Kaffee und aufgebackenen Brötchen das Gefühl von Heimkehr.

Hier ist dort ganz anders

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