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2MEIN HELD

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Das dürfte Dad sein, der hören will, ob ich die Nacht überlebt habe. Wenn er auswärts arbeitet, ruft er morgens sofort an. Er macht sich Sorgen, wahrscheinlich weil wir nur noch zu zweit sind und ich, wie er andauernd betont, sein Ein und Alles bin. Die Frau zu verlieren ist schlimm genug, aber Frau und Tochter – das würde er wohl nicht überleben.

«Hey, Dad!» Ich lege meine beste Good-Day-Sunshine-Stimme auf, aber heute Morgen klingt sie ein wenig wolkenverhangen. Vielleicht merkt er es nicht.

«Ich wollte nur mal sehen, ob du auch aufgestanden bist. Nicht dass du zu spät zur Arbeit kommst.» Ich höre sein Grinsen durchs Telefon. «Alles in Ordnung?»

«Jep, alles bestens. Damit du es weißt, ich bin schon seit fünf Minuten wach.»

Er lacht. «Geht es dir wirklich gut? Du hörst dich nicht so an.»

Ich fühle mich, als hätte mir jemand eine Axt in den Schädel gerammt, Dad, was möglicherweise zu einem Aneurysma führen wird, wäre die ehrliche Antwort darauf, aber Ehrlichkeit ist nicht automatisch die beste Strategie. «Ich bin noch nicht richtig wach … So in der Übergangsphase.»

Noch ein Lachen. «Das Gefühl kenne ich. Ist Tash schon auf?»

«Ja, sie duscht gerade.» Ich werfe einen schuldbewussten Blick auf den stummen Duschkopf über der Badewanne – wie gesagt, Ehrlichkeit ist nicht immer das einzig Wahre. Trotzdem habe ich ein schlechtes Gewissen, wenn ich lüge, und eigentlich habe ich meinem Vater auch nicht ausdrücklich gesagt, dass Tash bei mir übernachten würde. Er geht einfach davon aus, weil wir das normalerweise so machen, wenn er auswärts arbeitet. Natürlich brauche ich keinen Babysitter mehr, zu zweit macht es eben mehr Spaß. Und, auch klar, Dad fühlt sich besser, wenn er weiß, dass ich nicht allein bin.

«Und wie ist Nantwich so?», frage ich, um das Thema zu wechseln.

«Ach, weißt du, wie das Paradies mit einem Billig-hotel.»

«Schön! Und weißt du schon, wann du zurückkommst?»

«Wieso? Damit du alle rechtzeitig rausschmeißen kannst, wenn du eine Party gibst?» Er gluckst, aber darin schwingt ein Hauch von Wehmut mit, als wünschte er sich beinahe, ich würde genug Leute für eine Party kennen, selbst wenn die Wohnung darunter leiden müsste.

«Ha, klar! Also, weißt du zufällig, wie man Blutflecken vom Teppichboden entfernt? Ich frag nur so.»

«Ich denke, bis Sonntagnachmittag sollte ich es schaffen», sagt er. «Damit bleiben dir noch gut sechsunddreißig Stunden, um das Blut rauszuwaschen! Um wie viel Uhr fängt das Konzert heute Abend noch mal an?»

Meine Schultern verkrampfen sich.

«Kommt drauf an, wie lange Tash braucht, um sich schönzumachen. Sie würden es nicht wagen, ohne sie anzufangen.»

Diesmal lacht er nicht. Ich spüre, wie seine Angst die Entfernung überbrückt und wie er unsichtbar die Arme nach mir ausstreckt. «Du weißt, ich bin nicht gerade glücklich, dass ihr in diesen Club gehen wollt.»

«Das ist doch nur ein Konzert, Dad. Außerdem spielt Tokyo Girl!»

«Ich weiß, aber pass auf dich auf, ja?»

Fast wünsche ich mir, Dad würde es mir verbieten. Und das würde er wohl selbst liebend gern tun, aber gleichzeitig denkt er, dass ich etwas unternehmen und rausgehen soll – wie eine glückliche normale Jugendliche, falls es so was überhaupt gibt.

«Vergiss nicht, was Dr. Hiaasen gesagt hat», meint Dad. «Wenn du einen Anflug von Panik spürst …»

«Ich weiß, Dad! Mir passiert schon nichts, außerdem ist Tash dabei. Sie weiß, was sie tun muss.»

«Ruf mich an, wenn ihr wieder zu Hause seid. Wann ist es zu Ende?»

«Keine Ahnung, ich schätze mal, so gegen halb zwölf.» Ich weiß selbst nicht, warum ich das gesagt habe, denn in Wirklichkeit habe ich keinen Schimmer, wann wir da rauskommen. «Aber es kann etwas dauern, bis wir wieder hier sind, also mach dir keine Sorgen, wenn ich vor Mitternacht noch nicht angerufen habe.»

«Nehmt ein Taxi», sagt Dad. «Ich habe dir Geld hingelegt.»

«Okay, danke. Es ist wirklich alles gut, kein Grund zur Sorge.» Während ich mich das sagen höre, bin ich nicht sicher, ob ich damit meinen Vater oder vielleicht mich selbst überzeugen möchte. Was bescheuert ist. Schließlich geht es nur um ein Konzert.

Tokyo Girl ist unsere Band – sie gehört zu Tash und mir. Ihretwegen haben wir uns überhaupt erst angefreundet, als wir feststellten, dass wir beide auf Tokyo Girl stehen. Sobald Tash erfahren hat, dass die Band in unserer kleinen Popelstadt auftreten, war klar, dass wir hingehen müssen – nicht einmal ich habe auch nur eine Sekunde darüber nachgedacht. (Oh, jugendlicher Leichtsinn …)

«Dad, ich muss mich langsam mal beeilen und Tash aus der Dusche holen.»

Doch mein Vater ist noch nicht bereit, die Verbindung zu kappen. «Funktioniert der Boiler einigermaßen? Denk bloß dran, das Fenster aufzulassen!»

Seit Wochen drängt Dad den Vermieter, dass er den Boiler reparieren lässt. Das Teil fällt andauernd aus, und seit Kurzem ist Dad überzeugt, dass Kohlen monoxid austritt. Vor zwei Wochen sind wir beide vor dem Fern seher eingeschlafen und mit schrecklichen Kopfschmerzen aufgewacht. Seitdem läuft Dad durch die Wohnung, schnüffelt wie ein Bluthund und besteht darauf, dass die ganze Zeit die Fenster aufstehen.

«Geht schon, Dad. Du glaubst nicht, was wir zu hören bekämen, wenn bei Tash das Wasser plötzlich kalt würde!»

Er lacht und legt endlich auf.

Ich weiß, ich habe Glück, weil sich jemand um mich kümmert, aber manchmal macht es mir zu viel Druck, dass sein Glück und seine geistige Gesundheit von mir abhängen! Deshalb denke ich viel über meinen Vater nach: wie sich das, was ich tue, auf ihn auswirkt. Wenn ich zum Beispiel sterben würde – damit würde er nicht gut zurechtkommen.

Andererseits ist es leicht, anderen die Schuld für die eigenen Probleme in die Schuhe zu schieben. Ohne Dad wäre ich nicht einmal hier, und das meine ich keineswegs rein biologisch. Um diese lange und traurige Geschichte kurz zusammenzufassen: Meine Mutter hat uns praktisch sitzengelassen, gleich nachdem sie mich rausgepresst hat. Dad hat alles aufgegeben, um mich allein großzuziehen.

Als ich klein war und versuchte, mit den ersten grundsätzlichen Dingen klarzukommen – also zum Beispiel mehr als zwei Schritte zu machen, ohne auf den Po zu fallen, aufs Klo zu gehen, solche Sachen –, da war mein Vater mein Held. Ich schäme mich keineswegs, das zuzugeben. Gut, ich hatte keine Vergleichsmöglichkeiten, aber ich begriff, dass der Mann sich viel Mühe gab und mir einen Großteil seiner Zeit opferte. Ich war glücklich, das Leben mit Dad war gut.

Doch die Jahre vergehen, man wird älter, und die Dinge verändern sich. Das geschieht nicht über Nacht, eher ganz allmählich, bis einem eines Tages dieses alberne Zeug, die Kosenamen und die Witze, die nur Insider verstehen, auf den Wecker gehen. Plötzlich merkt man, dass der Held auch nicht auf alles eine Antwort hat und nicht jedes Problem lösen kann, ja, dass er nicht einmal dafür sorgen kann, dass einem nichts passiert.

Diese unliebsame Erkenntnis kam mir ungefähr zur gleichen Zeit, als mir auffiel, dass die Welt außerhalb meiner gemütlichen kleinen Kindheitsblase groß und erschreckend war und nicht alle automatisch mit mir befreundet sein wollten – oder wenn doch, dann nicht unbedingt aus den richtigen Beweggründen.

Aber als sich langsam alles, worauf ich vertraut und woran ich geglaubt hatte, in Luft auflöste, gerade da erschien Tash auf der Bildfläche.

Ich entdeckte sie eines Abends vor unserer Siedlung, wo sie wie ein schlecht gelaunter Gartenzwerg auf der Mauer saß. Da es eiskalt war und ich sie von der Schule kannte, fragte ich sie, ob sie mit reinkommen wollte. Tash meinte, ich solle mich verziehen, doch ich sah, dass sie geweint hatte, und setzte mich einfach neben sie. Nach einer Weile brach sie ihr Schweigen.

Sie erzählte mir, dass sie nicht nach Hause wollte, weil es dort ständig Streit mit ihrer Mutter und ihren Schwestern gab. Schließlich konnte ich sie doch überreden, mit zu mir zu kommen, aber Tash brauchte vor allem jemanden, der ihr zuhörte. Wir bildeten so etwas wie unsere eigene kleine Therapiegruppe – wir schimpften, jammerten und machten Pläne, aus der Stadt abzuhauen … Das Übliche eben. Wir waren so verschieden, dass unsere Mitschüler nicht kapierten, warum wir uns angefreundet hatten. Dabei ist genau das der Grund, weshalb es funktionierte: Wir hatten beide etwas zu bieten, was die andere jeweils brauchte.

Unsere Wohnung bot Tash einen freundlichen Unterschlupf, während ihre unverdrossen lodernde Wut meine aufkommende Paranoia und meine Angstvorstellungen zurückdrängte. Sie verdrehte die Augen oder wütete, sie würde sie es mit der ganzen Welt aufnehmen, und zwar mit links, und schon fühlte ich mich stärker, nur weil sie bei mir war. Tash war wie ein Lagerfeuer in der Wildnis. Selbst wenn ich dort draußen tausend unbekannte und ungesehene Dinge spürte, die mich quälen wollten, fühlte ich mich sicher, solange ich in ihrer Nähe war.

Es war wie früher mit meinem Vater.

Ich will in keiner Weise kleinreden, was Dad für mich tut, und ihm nicht zu nahe treten, aber es ist nun mal eine Familienbeziehung, und er hat die Aufgabe, mich zu lieben. Tash dagegen ist einfach meine Freundin, ohne Verpflichtungen, ohne Blutsbande, und wir sind Schwestern, weil wir es so wollten, was etwas vollkommen anderes ist.

Ich schließe den Toilettendeckel und greife endlich zum Handy. Normalerweise schreibe ich Tash morgens direkt als Erstes, aber heute ist mir etwas dazwischengekommen.

Eine Nachricht wartet schon auf mich. Sie wurde kurz vor ein Uhr heute Morgen abgeschickt:

Was für ein Abend

Val ist wirklich der Wahnsinn

Muss dir total viel erzählen.

Nacht, Süße

Tash steht total auf kleine Bildchen.

Tief in meinem Bauch rührt sich die Schlange der Eifersucht. Das war bereits das dritte Mal in dieser Woche, dass Tash mit Val weg war. Ich scherze schon, dass sie Tashs neue beste Freundin wird, nur ist das leider gar nicht lustig.

Jetzt verdränge ich den Gedanken und setze meine Daumen in Bewegung:

Schön, dass ihr es schön hattet

Vielleicht sollte ich ein Emoji mit zwei Gesichtern suchen? Haha!

Ich schreibe Tash weiter:

Ich bin krank

Kotze voll

Schwanger vielleicht?

Fühle mich total irre.

Ehrlich, das mein ich todernst.

XO.

Todernst. Angeblich sagt ein Bild mehr als tausend Worte, aber dieses eine Wort wird Tash mehr sagen als tausend Emojis.

Tash und ich haben die Regel aufgestellt, dieses Wort niemals zu gebrauchen. So werde ich in der Schule gehänselt. Mein Nachname ist Ernst – man muss kein Genie sein, um «Tod» voranzustellen und es lustig zu finden.

Womit ich das verdient habe? Tja, vielleicht weil ich alles immer extrem tragisch nehme. Auch die Panikattacke vor ein paar Monaten während der Vollversammlung in unserer Aula könnte etwas damit zu tun haben. Aber es liegt wohl vor allem daran, dass ich bei einer Party betrunken ausgeflippt bin und dann einen auf sterbenden Schwan gemacht habe. Das ist der eigentliche Grund, warum sie mir das für den Rest meiner Zeit an der «Hardacre-Anstalt für Analphabeten» (nicht der richtige Name) nachrufen werden.

Aber es ist wirklich sonderbar. Nicht nur die Kopfschmerzen und das Kotzen, da ist noch etwas. Das Gefühl, als hätte ich die Welt noch schlechter im Griff als sonst – als würde die Schwerkraft nicht so gut funktionieren wie sonst.

Irgendwie fühlt es sich an, als wäre meine Situation nicht nur beschissen, sondern tatsächlich todernst – das ist das einzige Wort, das diesen Zustand treffend beschreibt.

Tod.Ernst

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