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4BITTE BLEIBEN SIE SITZEN, BIS DER BUS VOLLSTÄNDIG ZUM HALTEN GEKOMMEN IST

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Um 6:38 Uhr an einem Samstagmorgen ist der Bus Nummer Drei so gut wie leer. Sechs weitere Zombies, die sich vor dem Morgengrauen aus dem Bett gequält haben, sehen mir beim Einsteigen zu.

So dämlich, um diese Zeit wach zu sein, sind nur geistesabwesende Clubber, die verschwitzt und mit glasigem Blick nach Hause fahren, während sie immer noch zu dem langen Ausklang des letzten Songs dieser Nacht nicken. Und außerdem die arbeitende Bevölkerung – Mindestlohnsklaven der Friedhofsschicht. Reinigungspersonal und Krankenhauspförtner, Lagerarbeiter und Fabrikmalocher. Allen steht die gleiche Frage auf die Stirn geschrieben: Was mache ich hier eigentlich?

Eine Frau in einem Putz-Overall blickt von ihrem Buch auf und grüßt mit einem verhaltenen Lächeln. Ich nicke zurück und stelle fest, dass sie Harry Potter liest – eine kurze Flucht in eine andere Welt, in der man Besen zum Fliegen benutzt statt dazu, den Dreck anderer Leute aufzufegen.

Nachdem ich mir im oberen Deck einen Fensterplatz in der Mitte ausgesucht habe, klingelt auch schon mein Handy. Tash, wer sonst?

«Hey, Süße, wo bist du?»

«Im Bus.» Ich rede leise, weil ich es peinlich finde, wenn man im Bus in sein Handy schreit. Aber das dürfte heute kein Problem sein, weil Tash nicht fürs Zuhören geboren ist.

«Geht’s denn? Du hättest dich besser krank melden sollen.»

«Ich konnte das doch nicht alles dir überlassen.» (Seht ihr’s? Also stimmt für Alex, sie ist die Beste!)

«Wow, Danke! Ich bin echt mega aufgeregt.» Aus den Hintergrundgeräuschen schließe ich, dass sie ebenfalls auf dem Weg zur Arbeit ist. «Was für ein Abend! Du hättest mitkommen sollen, Süße.»

Sie hat recht, das hätte ich besser gemacht.

«Val hat uns doch tatsächlich umsonst ins Pandemonium geschleust!»

«Wow!»

«Kann man wohl sagen!» Tash sprudelt Emojis in die Leitung. «Val kennt den Türsteher. Echt, die Frau kennt einfach jeden!»

Ich verkneife mir die naheliegende Bemerkung.

«Und rate mal, wer gespielt hat? Einfach mal Prayer for Halo!»

«Echt.» Ich mag Prayer for Halo. Ich hätte wirklich mitkommen sollen.

«Du ahnst nicht, was Val noch gemacht hat!»

Bestimmt was Tolles.

«Sie ist auf die Bühne geklettert!»

Okay, das würde man von mir tatsächlich nicht zu sehen bekommen.

«Und dann – das glaubst du nicht – ist sie geradewegs zu Marco gegangen und hat die Arme um seinen Bauch gelegt, während er gespielt hat!»

«Marco?»

«Marco Lee!» Ich höre ihr an, wie fassungslos sie ist. «Der geilste Bassist auf unserem Planeten!»

«Ach, der Marco. Ich dachte, du meinst den anderen Marco, der bei Coop arbeitet.»

Tash schnalzt missbilligend mit der Zunge, aber sie ist viel zu begeistert von ihrer Geschichte, um aufzuhören. «Egal, Val tanzt da oben hinter Marco, und dann kommen die Leute von der Security und schleppen alle von der Bühne. Ich dachte schon, jetzt wird Val verhaftet oder rausgeworfen, aber sie hat Marco einfach einen Kuss auf die Wange gegeben und ist von der Bühne gesprungen – mitten in die Menge!», erzählt Tash wie ein Fangirl aus der Siebten bei einer Signierstunde von Boys ’R’ Us. «Ich so: Wahnsinn! Und wenn sie sie nicht auffangen?»

Ja, das wäre eine wahre Tragödie gewesen.

«Ich sag’s dir, Süße, du hast was verpasst!»

«Jep.»

«Und du?», fragt Tash. «Hast du gestern noch was gemacht?»

Bevor ich antworten kann, feuert mein Brummschädel eine weitere Salve durch meine Stirn. Als ich vor Schmerzen die Augen schließe, schwimmt ein Bilderfetzen von weißen Kacheln oder auch von Zähnen über meine Netzhaut. Der Anblick kommt mir vertraut vor, als müsste er mir etwas sagen.

«Alex? Bist du noch da?»

Ich öffne die Augen – leicht überrascht, weil ich immer noch im Bus bin. «Ja, ich bin hier.» Ich betrachte mein Spiegelbild in der Scheibe, doch die beleuchteten Fenster der Geschäfte und Wohnungen schieben sich über mein geisterhaftes Gesicht, bis ich mich erst nicht mehr scharf und dann gar nicht mehr sehe.

«Also, was hast du denn nun gestern gemacht?», fragt Tash beharrlich.

Ich könnte ihr sagen, was sie Tolles verpasst hat, weil sie nicht bei mir war, nämlich einen adrenalingesteuerten Abend, an dem ich meine Bücher und CDs neu sortiert habe.

Als ob.

«Heute Abend Tokyo Girl, ja?», sage ich stattdessen und schüttle den eisigen Schauer ab, der mich durchfährt.

«Unbedingt!»


Der Ausblick verändert sich, nachdem wir das Labyrinth der Siedlung verlassen haben, und ich verspüre allmählich eine immer stärkere Beklommenheit. Dem Bus scheint es ähnlich zu gehen. Mit einem Eifer, als müsste er dem Ort entkommen, bevor jemand die Räder abschraubt, rast er den Hügel hoch und kriegt genügend Schwung, sodass er es schafft, die klebrigen Straßen, die ihn anscheinend festhalten wollen, hinter sich zu lassen.

Ich stecke meine Ohrhörer wieder ein und lehne den Kopf ans Fenster. Meine Lider sind schwer und brennen, weil ich zu wenig geschlafen habe, und es schadet sicher nicht, sie ein Weilchen zu schließen.

Es ist dunkel, und ich bekomme keine Luft. Ich will mich bewegen, doch vergeblich. Ein Gewicht lastet auf meiner Brust und drückt mich zu Boden. Ich muss schreien, doch als ich den Mund öffne, geschieht gar nichts.

Ruckartig werde ich wach, peinlich berührt.

Wie lange habe ich wohl geschlafen? Habe ich etwa geschnarcht oder meine Haltestelle verpasst?

Ich wische über die beschlagene Scheibe, bis ich hindurchsehen kann.

Bäume. Große Häuser mit langen Auffahrten und teuren Autos. Also bin ich fast da.

Der nächste Song ist von Tokyo Girl. Ich finde ihn super, aber im Moment möchte ich lieber nicht an heute Abend denken, also fasse ich in die Tasche und drücke auf die Handytaste, mit der der Track übersprungen wird.

Ein Schauer läuft mir über den Rücken, als ich mich an einen Traumfetzen erinnere: an das Gefühl, nicht atmen zu können. Grauenhaft.

Haus Ulmenblick, Heim für Lebenserfahrene (nicht der offizielle Name) liegt auf einer Hügelkuppe mit Aussicht auf die Stadt, als würde es sie beherrschen. Früher war das tatsächlich so, als Hardacre nur aus versprengten Bauernhöfen im Tal und kleinen Häuschen bestand und der Gutsbesitzer mit seiner Familie in Haus Ulmenblick residierte. Am Empfang hängt ein Porträt von ihm, vor dem ich mich wahrhaftig fürchte. Mit den Koteletten und seinem Rüschenhemd wirkt er wie der Teufel in Person, und sein Blick strahlt die Warnung aus: Ihr, die ihr hier eintretet, lasst alle Hoffnung fahren!

Ein dumpfes Geräusch, jemand flucht. Als ich aufschaue, dreht sich die Harry-Potter-Leserin auf ihrem Platz um. Unsere Blicke treffen sich, und sie entschuldigt sich mit einem kleinlauten Lächeln. «Ich habe meinen Ring fallenlassen. Siehst du ihn vielleicht? Ich glaube, er ist unter deinen Sitz gerollt.»

Ich schaue in die trüben Schatten an meinen Füßen, ohne den Ring zu entdecken.

«Moment.»

Ich rutsche herunter, gehe im Gang in die Hocke und leuchte mit dem Handy in das Dickicht aus Schuhen und Taschen. Als wir um eine Kurve biegen, rollt etwas hinter einer weggeworfenen Chipstüte hervor und trudelt Richtung Rückbank.

Ich verfolge den Ring im Krebsgang und schnappe ihn mir, bevor das Ding wieder außer Sicht rollt. «Hab ihn!»

Ich bin immer noch in der Hocke, da macht der Bus plötzlich einen Satz nach vorn und schlingert so heftig, dass ich umfalle.

Nach einem lauten Knall explodiert plötzlich eine Scheibe, und Glassplitter fliegen durch die Luft. Ein dicker Ast schlägt ein Fenster ein, er windet seine Zweige wie hölzerne Fangarme durch den Bus und krallt sich in die Decke. Wehende Blätter, knackendes Holz und Staub wirbeln durch die Luft.

Schließlich kommt der Bus mit einem Ruck zum Stehen und schwankt auf seinen Rädern.

Jemand flucht. Ich wahrscheinlich.

Nach einem Augenblick vollkommener Stille ruft der Fahrer von unten und will wissen, ob jemand verletzt ist. Ich höre die Panik in seiner Stimme, als er mit donnernden Schritten die Treppe hocheilt. Er sagt etwas über ein Motorrad – er musste ausscheren, um auszuweichen, ist dabei auf den Bürgersteig geraten und gegen einen Baum gefahren.

Auf einmal merke ich, dass die anderen Fahrgäste mich anstarren.

«Dein Platz», sagt die Harry-Potter-Frau und streckt einen zitternden Finger aus.

Ich drehe den Kopf dorthin, wo ich eben noch gesessen habe.

Die Fensterscheibe ist zerstört, und ein Ast, dicker als mein Arm, hat sich in den Sitz gebohrt, und zwar mit so viel Wucht, dass er den grünen Bezug, die Kunststoffpolsterung und den Holzrahmen satt durchstoßen hat und auf der anderen Seite hervorsticht.

Hätte ich noch dort gesessen, wäre ich ebenfalls aufgespießt worden.

Tod.Ernst

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