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ZWEI: EINER MUSS STERBEN

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Okay, nicht ausflippen! Sicherlich gibt es eine logische Erklärung. Bloß weil mir gerade keine einfällt, heißt es nicht, dass es keine gibt. Ich muss nur ruhig bleiben und atmen. (Aber wie soll das gehen, wenn ich tot bin?)

«Hier, trink das.» Die Hand, die mir das Wasserglas reicht, ist gebräunt und streckt sich aus einem blut roten Ärmel, der von einem Manschettenknopf in Form zweier gekreuzter Sensen zusammengehalten wird. «Flüssigkeitsmangel kann zum Problem werden, also trink möglichst viel Wasser.»

Ich sitze auf einem harten Kunststoffstuhl, wie es sie auch in unserer Schule gibt, und wähne mich kurz im Sanitätsraum. Ich rieche Desinfektionsmittel und andere fremde Gerüche, die nur in Arztpraxen und Kliniken vorkommen, doch in Wahrheit weiß ich, wo ich bin …

«Was ist passiert?»

«Du bist ohnmächtig geworden, Darling.»

Das kommt hin und wieder vor. Außerdem neige ich zu Panikattacken. Und manchmal muss ich mich übergeben. Ehrlich, meine Talente sind unerschöpflich.

Nachdem ich noch einen Schluck getrunken habe, sehe ich auf und blicke in ein gebräuntes Gesicht mit strahlend weißen Zähnen.

«Einfach nur atmen!», sagen die Zähne, und ich spüre eine beruhigende Hand auf meiner Schulter. «Du wirst dich noch ein Weilchen komisch fühlen. Das bringt das Sterben so mit sich.» Als der Mann glucksend lacht, hört es sich an, als würde etwas Festes, Klebriges durch den Ausguss gespült.

Ich nicke. «Geht schon. Ich wache bestimmt gleich auf.» Das wollte ich eigentlich nicht laut sagen.

Der Leichenbestatter seufzt. «Dabei lief es doch ganz gut.»

Mit zusammengekniffenen Augen schaue ich ihn an.

«Leugnung», sagt er. «Das kostet unendlich viel Zeit. Je eher du die Dinge akzeptierst, meine Liebe, umso schneller geht’s weiter.»

«Weiter? Sie haben mir gerade mitgeteilt, ich sei tot! Wo soll ich denn bitte hingehen?»

«Ich habe gesagt, dass du gestorben bist – von Totsein war keine Rede.»

«Da gibt es einen Unterschied?»

Der Mann lacht. «Das will ich meinen! Wenn du tot wärst, wäre unsere Unterhaltung recht einseitig, findest du nicht?»

«Ich bin also lebendig?»

«Und wie.»

Ich sehe an mir herunter, um zu prüfen, ob alles dort ist, wo es hingehört, und ich nicht mittlerweile verblasse oder so. Ich spüre, wie der Sitz aus Hartplastik in meine Beine schneidet und wie glatt und kalt das Wasserglas in meiner Hand ist. Ich kann aufstehen – okay, vielleicht doch nicht so eine gute Idee! – und mich wieder hinsetzen. Ich kann sprechen, und soweit ich das beurteilen kann, atme ich noch. Ich halte kurz die Luft an, nur um zu wissen, wie es sich anfühlt, erneut einzuatmen. Mir scheint, ich bin tatsächlich noch hier.

Aber sie auch, mein totes Ich.

«Und wenn ich lebendig bin, wer oder was ist sie dann?»

«Meine Güte, du stellst vielleicht Fragen!» Wieder lässt der sonnengebräunte Mann seine weißen Zähne aufblitzen. «Darling, ich fürchte, das arme Kind auf dem Rolltisch bist du.»

«Aber Sie haben gerade gesagt … Also, wie kann das Mädchen ich sein, wenn ich doch hier sitze und mit Ihnen rede?»

Das Lächeln schwächelt. «Es tut mir leid, aber ich habe keine Zeit für lange Erklärungen. Belassen wir es dabei, dass es auf der Welt nicht ganz so zugeht, wie man es dir weisgemacht hat.»

Witzig! «Das erklärt aber noch lange nicht, warum es mich doppelt geben kann!»

Der Leichenbestatter seufzt schwer. «Nichts für ungut, meine Liebe, aber du hast noch nicht ganz verstanden, worum es hier geht. An deiner Stelle würde ich mich darauf konzentrieren, dass es noch eine lebendige Ausgabe von dir gibt, und die Frage, die dir auf der Zunge brennen sollte, wäre: Das ist eine wunderbare Neuigkeit, Gerry. Was soll ich jetzt machen?»

«Gerry?»

«Sorry, habe ich mich etwa nicht vorgestellt? Wie unhöflich.»

«Sie heißen Gerry

«Eigentlich Gerald, aber das klingt so offiziell, findest du nicht auch? Ich habe mich nie so richtig wie ein Gerald gefühlt … außer einmal …» Für einen kurzen Moment geht sein Blick glasig in die Ferne, doch dann blinzelt er und sieht mich an. «’tschuldigung! Wo war ich doch gleich?»

«Das ist eine wunderbare Neuigkeit, Gerry. Was soll ich jetzt machen?»

«Fantastisch!» Er klatscht in die Hände. «Du gehörst auf die Bühne! Falls du die nächsten vierundzwanzig Stunden überlebst, heißt das.»

«Wie bitte?»

«Ich gebe dir mehr oder weniger vierundzwanzig Stunden. So lange brauchst du eigentlich nicht, aber es erleichtert den Neustart, und warum sollte man es den Leuten unnötig schwermachen, nicht wahr? Das ist dir doch sicher auch klar. Hey, das ist ja das reinste Gedicht! Ich bin so was von begabt, stimmt’s?»

«Hilfe, jetzt mal langsam! Was heißt das, Sie geben mir vierundzwanzig Stunden? Um was genau zu tun?»

Jetzt funkeln seine Augen. «Du darfst die letzten vierundzwanzig Stunden deines Lebens wiederholen, aber diesmal solltest du versuchen, nicht zu sterben.»

Ich starre ihn an. «Sie meinen … wie eine Zeitreise?»

«Ha! Was für eine Vorstellung!» Gerry schüttelt den Kopf. «Nein – das, was du als Zeit bezeichnest, ist wohl leider nur ein menschliches Gerüst für Ordnung und Begrenzung und außerdem …» Er hält inne, um das passende Wort zu suchen. «Relativ.»

Mein Kopf wird ganz heiß, während ich all diese Informationen verarbeite.

«Gut, wie spät ist es jetzt?» Gerry zeigt auf eine Wanduhr, die mir bisher nicht aufgefallen ist. Meine Freundin Tash hat genau die gleiche in der Küche. Ihre Mutter hat sie bei Ikea gekauft.

«Fünf vor halb zwölf.»

«Aber in New York ist es erst fünf vor halb sieben.» Er lächelt. «Wenn wir nach New York fliegen würden, wäre das tatsächlich eine Zeitreise, weil wir eher ankämen, als wir losgeflogen sind.»

«Aber das sind nur … Uhren!»

Gerry wirkt enttäuscht, doch dann hellt sich seine Miene auf. «Magst du Videospiele?»

«Ja, ich spiele manchmal mit meinem Dad.»

«Dann stell dir das Ganze als Videospiel vor. Du stirbst und bekommst ein Extraleben, damit du auf das letzte gespeicherte Level zurückgehen und von vorne beginnen kannst.»

«Das heißt, ich kehre zum heutigen Morgen zurück und fange noch mal an?»

«Hurra! Sie hat’s begriffen!» Gerry klatscht in die Hände. «Aber diesmal musst du versuchen, deinen Tod zu verhindern, Darling.»

Ich will ihn schon darauf hinweisen, wie lächerlich, um nicht zu sagen unmöglich das ist, doch dann fällt mein Blick auf meine tote Ausgabe, die reglos auf der Bahre liegt, und die Worte verdorren mir auf der Zunge.

«Was ist denn letztes Mal genau passiert? Wie bin ich … nun ja, gestorben?»

«Ach nee», sagt Gerry. «Ich soll aus dem Nähkästchen plaudern?»

«Ja, los, verraten Sie es mir! Wurde ich ermordet? Überfahren? Oder von einem Stier auf die Hörner genommen?» Ich werfe einen Blick auf die Leiche. Äußerlich sind keine Verletzungen erkennbar, aber was heißt das schon?

Gerry schlägt in gespieltem Entsetzen die Hand vor den Mund. «Du meine Güte, was hast du für eine grausige Fantasie!»

«Also? Was ist mir zugestoßen?»

Gerry schwebt zum Spülbecken und füllt mir Wasser aus dem Hahn nach. «Wieso bist du so vom Tod be sessen, Darling?» Er wirbelt herum und reicht mir das Glas. «Konzentriere dich lieber auf das Leben.»

«Sie wissen gar nicht, wie ich gestorben bin, oder?»

«Es würde dir sowieso nichts nützen, das zu wissen», antwortet er mit einem Lächeln, das andeutet, dass er sehr wohl Bescheid weiß, es aber für sich behält.

«Doch. Wenn ich zum Beispiel wüsste, dass es bei einem Verkehrsunfall passiert ist, würde ich mich nicht ins Auto setzen.»

«Ja, aber das würde dich dennoch nicht zwangsläufig retten. Kann sein, dass du beim letzten Mal verunglückt bist und es diesmal etwas ganz anderes ist – dein blutrünstiger Stier zum Beispiel.» Er erschauert. «Einiges ist festgelegt, aber längst nicht alles. Sieh es mal so: Je mehr du diesmal änderst, umso besser. Es geht vor allem um Entscheidungen. Um da zu landen, wo du hingehörst, musst du alles richtig machen. Eine falsche Entscheidung, und du bist wieder hier und hast nichts mehr zu lachen. Da, schon wieder – Reim, Reim, Reim –, ich kann einfach nicht anders!» Kichernd klatscht er in die Hände.

«Aber wenn ich keine Ahnung habe, was ich beim letzten Mal getan habe, wie soll ich es dann ändern? Es könnte passieren, dass ich von Anfang an alles einfach wiederhole!»

«Das ist vollkommen richtig.» Die Vorstellung bereitet Gerry sichtlich Kummer. «Ist dir bewusst, wie viele Entscheidungen der Mensch jeden Tag trifft? Tausend! Zehntausend! Von den kleinen, was es zum Frühstück gibt, bis zu den großen, die das ganze Leben verändern.» Er geht zu der Instrumentenschale und nimmt eine große Edelstahlsäge in die Hand. «Wir sind Gewohnheitstiere, Alex – in neun von zehn Fällen tun wir immer das Gleiche. Wir haben Vorlieben, Vorurteile, Lieblingsfarben, abergläubische Vorstellungen … die alle unterbewusst unsere Entscheidungen beeinflussen.» Gerry hält inne und begutachtet seine Zähne im Spiegel des Sägenblatts. «Also, ja, wahrscheinlich begehst du die gleichen Fehler wieder, aber du hast dennoch die Chance, es besser zu machen. Die wenigsten Menschen bekommen diese Gelegenheit, du solltest dich glücklich schätzen. Auserwählt.»

«Und wieso ich?»

«Wieso nicht du? Schicksal. Schwein gehabt. Manchmal steckt kein Grund, keine Logik dahinter, wer lebt und wer stirbt. Ehrlich gesagt, ist es eine Lotterie, und du, meine Liebe, hast das Glückslos gezogen.» Klirrend lässt er die Säge wieder in die Schale fallen. «Um das Warum solltest du dir keine Gedanken machen.»

«Worum denn dann?», frage ich, ohne zu wissen, ob ich die Antwort wirklich hören möchte.

«Überlege dir, was du mit dieser seltenen und ziemlich wunderbaren Möglichkeit anfängst. Wie oft bekommt man schon eine zweite Chance im Leben, geschweige denn im Tod?»

Obwohl Gerry lächelt, werde ich das Gefühl nicht los, dass er mir etwas verheimlicht.

Ich massiere meine Schläfen, um die Kopfschmerzen zu lindern, die sich hinter meinen Augen zusammenziehen.

«Selbstverständlich kann ich dir nur garantieren, dass du überlebst, wenn du jemanden findest, der deinen Platz einnimmt.»

«Was!?»

«Tut mir leid, Alex, das hätte ich vielleicht eher erwähnen sollen.» Er lächelt kurz. «Einer muss sterben, so ist das Leben beziehungsweise der Tod nun mal!» Er schmunzelt und zuckt mit den Schultern, als hätte er darüber keine Macht. «Außerdem brauche ich eine Leiche, Darling. Ich muss mein Soll erfüllen.»

Ich sehe ihn fassungslos an.

«Kein Grund, so geschockt zu gucken. Ständig sterben Menschen, zwei pro Sekunde sogar. Was glaubst du denn, was passieren würde, wenn niemand mehr stirbt? Man könnte sich kaum noch bewegen, so voll wäre es, und es gäbe weder genug zu essen noch zu trinken. Und im Bus müsste man die ganze Zeit stehen!»

Allmählich sickern die Konsequenzen dessen, was er sagt, durch die Mauer der Verdrängung, die mein Gehirn aufbauen möchte.

«Sie wollen behaupten … Wenn ich nicht selbst sterben will, muss ich JEMANDEN UMBRINGEN?»

Tod.Ernst

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