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3MEINE NEMESIS

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Die Versuchung ist groß, wieder ins Bett zu gehen, mir die Decke über den schmerzenden Kopf zu ziehen und abzuwarten, bis das alles vorbei ist. Doch die Vorstellung, den Tag eingemummelt vor dem Fernseher zu verbringen, ist nicht so verlockend wie sonst. Ich weiß nicht, ob es daran liegt, dass ich das Gefühl nicht loswerde, etwas sehr Wichtiges ver gessen zu haben, oder an dieser merkwürdigen Vermutung, nicht richtig hier zu sein.

Albern, ich weiß! Natürlich bin ich hier. Das bin ich, die vom Bad in die Küche geht. Ich bin es, die das Licht anschaltet und den Wasserkocher aufsetzt. Wäre ich nicht hier, könnte ich den kalten Linoleumboden unter meinen nackten Füßen nicht spüren und den Gestank in der Spüle nach totem Dachs, der im Siphon klemmt, nicht riechen.

Trotzdem. Ich fühle mich losgelöst, als würde ich mich selbst durch ein Fenster sehen oder auf einem Bildschirm – jedenfalls nicht im richtigen Leben.

Wie gesagt … komisch.

Ich schalte das Radio ein, um ein bisschen Leben und eine andere menschliche Stimme in die Bude zu bringen. Eigentlich macht es mir nichts aus, allein zu sein, aber ich weiß auch nicht, heute Morgen fühle ich mich aus unerfindlichen Gründen irgendwie … verfolgt. Das liegt teilweise an Tash beziehungsweise daran, dass sie nicht da ist. Ohne sie fühlt sich die Wohnung zu groß und zu leer an, was eigentlich ein Witz ist, denn sagen wir es mal so: Wenn wir eine Katze hätten, könnten wir sie nicht im Kreis schwingen.

Ich stecke zwei Brotscheiben in den Toaster und drehe das Radio lauter.

Der DJ heißt Baz oder Cliff und labert ständig totalen Schwachsinn. Im Moment redet er über Bauarbeiten auf der Umgehungsstraße. Wetten, gleich sagt er so was wie Die stehen da Stoßstange an Stoßstange und spielt dann «Pull up to the Bumper» von Grace Jones. Obwohl, wenn ich so darüber nachdenke, hat er das gestern schon gespielt. (Dad steht auf Musik der Achtziger, und darum kenne ich den Song – falls ihr euch das gefragt habt.)

Aber als ich mir einen Teller aus dem Schrank hole, zieht er das durch – Wort für Wort!

Mein Herz erschauert. Wahnsinn!

Jetzt warte ich, ohne wirklich zu glauben, dass er den Song spielt, und gleichzeitig in dem Wissen, er macht es doch.

Er regelt die Musik leise nach oben und übertönt sie mit seinem Gequatsche: «Der ist für alle, die im Verkehr steckengeblieben sind. Runter vom Stresspedal, Leute, lehnt euch zurück und genießt einen absoluten Klassiker …»

Unmöglich!

Das kann doch nicht wahr sein!

Wie erstarrt lausche ich «Pull up to the Bumper», das in unserer Küche erklingt. Sogar für diesen DJ ist das eine Umdrehung zu viel. Als hätte er seine Sendung von gestern aufgezeichnet und würde sie einfach noch mal abspielen.

Mein Handy reißt mich mit einem Pling aus der Schockstarre. Wahrscheinlich Tash mit weiteren Details von ihrem tollen Abend mit Val.

Val ist mein Racheengel. Mein Todbringer. Meine Nemesis.

Schon gut, ich weiß. Echte Menschen haben keine Nemesisse.

Ist das der richtige Plural, wenn es überhaupt einen gibt? (Wie zum Teufel schreibt man das? Ohne Val würde ich das gar nicht wissen wollen.)

Val – die schwarze Wolke an meinem Toy-Story- Himmel, das Steinchen in meinem Schuh, der Wurm in meinem Apfel. Ihr habt vielleicht schon mitbekommen, dass Val nicht gerade ganz oben auf der Liste meiner Lieblingskontakte steht?

Kein Problem, denn Tash springt hier nur zu gern für mich ein. Ihr solltet sie hören:

Oh, Wahnsinn, Süße, das GLAUBST du nicht, was Val getan / gesagt / angehabt / getrunken hat.

Tash zufolge ist das Mädchen soooooo unfassbar suuuuper. Ein Mädchen, dessen außergewöhn liches Supersein (und ja, ich weiß, das Wort gibt es gar nicht) man nur mit all diesen zusätzlichen Buchstaben beschreiben kann. Aber so ist Val, so einmalig, dass ihr zu Ehren neue Wörter erfunden werden müssen – sie hat’s verdient. Die drei Millionen, die gerade im Umlauf sind, können ihrer unglaublichen Einzigartigkeit nicht Genüge tun.

Das hört sich ganz schön verbittert an, was?

Verbittert und schräg und vielleicht ein kleines bisschen psychotisch? Jep, ich weiß, tut mir auch leid. Keine Ahnung, wen ich mehr hasse: Val, weil sie mir meine beste Freundin abspenstig macht, oder mich selbst wegen dieser Eifersucht.

Das Schlimmste ist – und ihr wisst es hoffentlich zu schätzen, dass ich euch Einblick in die tiefste Finsternis meiner Seele gewähre und Gefahr laufe, mich lächerlich zu machen –, also, was wirklich total ärgerlich ist: Ich verstehe, warum Tash sie mag. Val ist tatsächlich super, sie ist selbstbewusst und lustig, sie hat glänzende lange schwarze Haare und große Augen. Da ihre Familie aus Rumänien stammt, hat sie auch noch einen coolen Akzent à la sexy russische Spionin. Wie soll ich dagegen anstinken?

Ich wappne mich und lese die Nachricht.

Doch Tash ist die Fürsorge in Person.

Süße!

Bleib im Bett &

Du musst heute Abend fit sein

XO XO

Ich will antworten, zögere aber und schaue auf der Suche nach Inspiration für eine interessante oder witzige Entgegnung zum Fenster. Dort sehe ich aber nur mein eigenes Spiegelbild, blass und gespenstisch und mit einem dümmlichen Gesichtsausdruck.

Danke, Schatz

Geht schon bisschen besser

Schleppe meine verfaulende Leiche aus dem Bett zur Arbeit.

Lass dich beim Wickeldienst nicht im Stich.

XO

Ich hänge noch Bilder von einer Windel, einem alten Frauengesicht und einem grünen Teufelsding dran. Ehrlich, bei der Hälfte weiß ich nicht, was sie bedeuten sollen.

Mit Val, dem durchgeknallten Partygirl, kann man vielleicht geil die Nacht durchmachen, aber das ist nicht schwer. Ob man wirklich gut befreundet ist, zeigt sich bei weniger glamourösen Dingen, wie zum Beispiel dann, wenn man einem inkontinenten Rentner eine Erwachsenenwindel anziehen muss. Wenn man vom Totenbett aufsteht, damit die andere ein Heim voller nörgelnder alter Leute nicht mutterseelenallein waschen, anziehen und füttern muss. Das ist echte Freundschaft.

Ich tippe auf «Senden» und bin ganze drei Sekunden lang mit mir zufrieden.

Wem mache ich hier etwas vor? Unsere gemeinsame ehrenamtliche Arbeit im Altenheim wird Tash kaum eine Nachricht an Val wert sein, etwa:

OMG! Was für ein Morgen!

Muss dir unbedingt erzählen, was Alex beim Frühstück gemacht hat.

Hört sich nicht so toll an, was?

Tokyo Girl live im Pandemonium dagegen, das bietet Stoff für einen ganzen Haufen Emojis und die perfekte Gelegenheit, mit Tash wieder in die Spur zu kommen.

Was ist also das Problem?

Es gibt keins. Ich habe ein komisches Gefühl, wenn ich an heute Abend denke. Nicht der Rede wert.

Zwei Sekunden, bevor zwei Scheiben rauchender Kohle aus dem Toaster springen, steigt mir der Brandgeruch in die Nase. Fluchend reiße ich die Fenster auf und wedle den Rauch nach draußen, damit ja der Alarm nicht losgeht. Gestern war es genauso – man sollte meinen, ich wäre lernfähig.

Tod.Ernst

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