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DREI: DAS ZEICHEN

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Gerry legt mir sanft eine Hand auf den Arm. «Oh, so darfst du das nicht sehen! Du musst niemanden eigenhändig ermorden, du musst nur einen … aussuchen.» Das Gefühl der Zuwendung wird durch das Funkeln in seinen Augen ein wenig beeinträchtigt.

«Und der- oder diejenige stirbt dann an meiner Stelle?»

Gerrys Zähne glänzen im grellen Lampenlicht.

«Aber dann bin ich ja doch schuld! Auch wenn ich nicht selbst abdrücke!»

Er strahlt mich an. «Betrachte es als Selbsterhaltungstrieb – so wie wenn man nach rechts und links schaut, bevor man die Straße überquert. Man springt ja auch nicht ohne Fallschirm aus einem Flugzeug. Du sorgst einfach für dich, das ist vernünftig.»

Fast hat er mich so weit, aber noch nicht ganz. «Trotzdem würde ich nur überleben, weil ein anderer stirbt. Es wäre, als ob man jemandem den Fallschirm klaut und ihn aus dem Flieger schubst!»

«Hmm», erwidert er stirnrunzelnd. «Hauptsache, du sorgst vorher dafür, dass das Opfer das hübsche pinke T-Shirt überzieht.»

«Was?»

«Das pinke T-Shirt.» Er zeigt auf das tote Mädchen. «Das ist das Zeichen.»

Sprachlos sehe ich ihn an.

«Ich muss erkennen können, wen du ausersehen hast, statt deiner zu sterben», sagt Gerry. «Einige Kollegen bevorzugen etwas Dunkleres – einen schwarzen Fleck auf einem Zettel oder Krähen auf einem Fenstersims, aber das ist alles so trostlos und schaurig! Ich favorisiere etwas, das mehr Pfiff hat, aber mein Humor ist vielleicht ein wenig abgründig.» Er grinst.

«Noch mal zum Mitschreiben: Wenn ich möchte, dass jemand mich ersetzt und für mich stirbt, soll ich ihm oder ihr das pinke T-Shirt geben?»

«Du musst natürlich schon dafür sorgen, dass es auch angezogen wird.»

«Und wie soll ich das genau machen?»

«Wie genau, kann ich dir auch nicht sagen, aber dir wird schon etwas einfallen. Es geht hier ganz akut um dein Leben und deinen Tod, Darling! Wenn du selbst im äußersten Notfall keine Lösung findest, hast du es offen gesagt nicht verdient zu leben!»

Vor lauter Panik ziehe ich die Schultern hoch und kann kaum noch atmen. Ich spüre, wie mein Herz sich windet und gegen den plötzlichen Druck ankämpft.

Dann ermahne ich mich, dass das Ganze nicht real sein kann. Das ist doch der Beweis: Ich soll jemanden auswählen, der sterben soll, und ihm dafür ein pinkes T-Shirt überziehen! Ein klassisch unsinniger Traum, oder nicht? Deshalb gibt es auch keinen Grund zur Panik. Ich muss einfach weiter mitspielen und abwarten, bis der typische Albtraummoment kommt, in dem ich in den Abgrund springen soll und vor Schreck aufwache.

Als ich den Blick wieder hebe, lacht Gerry.

«Was ist so lustig?»

«Wenn du dein Gesicht sehen könntest!» Er wischt sich eine Träne von der Wange. «Eine Minute lang bist du mir auf den Leim gegangen, nicht wahr? Das pinke T-Shirt ist das Zeichen – als ob!» Er lacht bellend und schlägt mit der Hand auf den Rollwagen aus Edelstahl. «’tschuldigung, Darling. Hier unten gibt es nicht viel zu lachen – wir müssen uns amüsieren, wenn wir können.»

Ich weiß nicht, ob ich sauer oder erleichtert sein soll. «Ich muss also keinen Ersatz für mich finden?»

«O doch, der Teil stimmt. Wie gesagt, Alex: Jemand muss sterben. Und wenn du es nicht sein willst …», er tippt sich an die Nasenspitze, «wäre es eine hervorragende Idee, eine andere Person dafür zu finden.»

Mir wird erneut eng um die Brust.

«Aber du kannst dir das Zeichen aussuchen – es mag sein, was immer du willst. Du musst sie dem oder der Glücklichen nur überreichen. Es spielt keine Rolle, ob die Person den Gegenstand dann wegwirft oder zurückgibt – das Zeichen steht nach der ersten Berührung.»

«Das T-Shirt hat nichts damit zu tun?»

«So kann man das auch nicht sagen. Vergiss nicht, je mehr du veränderst, umso besser – diesem T-Shirt würde ich an deiner Stelle dringend aus dem Weg gehen.» Gerry lächelt. «Was soll es nun sein? Was hast du denn so?» Er zeigt auf das tote Mädchen.

Ich kann den Blick nicht von ihm losreißen. Schlägt er gerade wirklich vor, was ich vermute?

«Es muss etwas sein, das du dabeihattest, als du gestorben bist», sagt Gerry und weist mit dem Kinn zur Bahre. «Schau mal nach, was du in deinen Taschen findest.»

Das ist hoffentlich wieder ein Scherz, doch ich fürchte, Gerry meint es todernst. «Mir kann nichts passieren, oder? Wenn man die Taschen der eigenen Leiche durchsucht, ist es schließlich eher so, als würde man seinem früheren Ich begegnen, nicht wahr?»

Gerry kichert kurz und schrill. «Deine Fantasie möchte ich haben! Eine Begegnung mit seinem früheren Ich! Wirklich unmöglich!»

Klar, und ansonsten läuft alles völlig normal ab, was?

Ich gehe vorsichtig auf die Leiche zu und hoffe, dass sie sich als unecht erweist – eine raffiniert ausge stattete Schaufensterpuppe oder eine Wachsfigur –, doch je näher ich komme, umso menschlicher wirkt sie. Mein Kopf fühlt sich mit einem Mal schwer und schwebend zugleich an, und ich muss mich seitlich an der Bahre festhalten. Als ich den kalten Stahl berühre, wird es jedoch schlimmer, realer.

Ich wende den Blick von dem schrecklich vertrauten, aber leblosen und grauen Gesicht ab und strecke die Hand zu der Jeanstasche des Mädchens aus. Fast glaube ich, dass die Gestalt ruckartig aufwacht und mich packt, sobald ich sie berühre. Doch vielleicht ist das eben der Moment, auf den ich die ganze Zeit warte und der mich aus diesem wahnsinnigen Albtraum reißt?

Nachdem ich tief Luft geholt und mich gewappnet habe, zittert meine Hand so sehr, dass es mir erst beim dritten Versuch gelingt, die Finger hineinzustecken.

Das Mädchen bewegt sich nicht.

Weil sie tot ist.

Und ich stehe gezwungenermaßen immer noch hier und hole mein Handy aus der Tasche meiner eigenen Leiche. (Ernsthaft – kann es noch gestörter werden?) Ich tippe aufs Display, aber es bleibt dunkel und reagiert nicht.

Obwohl ich weiß, dass ich ein Zeichen finden soll, suche ich insgeheim auch nach möglichen Hinweisen auf die Todesursache oder zumindest darauf, was in den letzten Stunden passiert ist.

In der Handyhülle steckt, wenig überraschend, eine Busfahrkarte zu meinem Wochenendjob, hin und zurück. Weiter hole ich meinen Honiglippenbalsam, ein Taschentuch und einen gelben Post-It-Klebezettel aus der Tasche. Wenn das kein Hinweis sein soll! Aber als ich das Papier entfalte, finde ich nur einen blauen Kulikrakel, als hätte jemand überprüft, ob der Stift funktioniert.

Ganz unten in der Tasche ertaste ich einen runden Klumpen und muss die Hand ganz hineinstecken, um ihn herauszuholen. Ich spüre durch den Stoff, wie fest das Bein des Mädchens ist, hart und schrecklich kalt. Erschauernd packe ich den Gegenstand und ziehe meine Finger schnell zurück.

Als ich die Hand öffne, ist es ein Ring, den ich nicht wiedererkenne. Er ist scheußlich – ein grünes wasserspeierartiges Wesen, das die Zunge herausstreckt – und gehört bestimmt nicht mir. Keine Ahnung, warum sich jemand so etwas zulegen sollte oder was zum Teufel es in meiner Hosentasche macht. Gleichzeitig erscheint mir der Ring wiederum nicht als besonders bedeutsam oder hilfreich, um zu beleuchten, wie ich gestorben bin. Es sei denn, der Ring ist verflucht? Vor einer Stunde hätte ich darüber noch gelacht, aber jetzt bin ich mir nicht mehr sicher.

Als ich mich über die Leiche beuge, um die andere Tasche zu untersuchen, weht mir etwas entgegen, das mich an den Obdachlosen an der Bushaltestelle erinnert. Einen schrecklichen Moment lang fürchte ich, es wäre der Geruch von verwesendem Fleisch, doch dann registriere ich den Alkohol – mein totes Ich stinkt nach Schnaps!

Dabei trinke ich nicht mehr. Seit dem letzten Mal. Aber vielleicht ist das der Grund, warum alles den Bach runtergegangen ist? Kürzliche Erfahrungen haben Folgendes ergeben:

Alkohol + Alex = komplette Katastrophe.

Bierbedingte Blindheit würde auch den schlechten Geschmack bei der Wahl des T-Shirts erklären.

«Ich will dich ja nicht drängen, Darling», sagt Gerry. «Aber die Zeit ist heute Nacht nicht auf unserer Seite.»

Ich bin schwer in Versuchung zu erwidern, dass er eben noch bestritten hat, es gebe so etwas wie Zeit überhaupt, aber ein rötliches Mal auf dem linken Handrücken des Mädchens lenkt mich ab. In meinen Augen sieht es wie ein Hase aus, mit einem Klecks als Gesicht und zwei langen Ohren. Zunächst halte ich es erschrocken für verschmiertes Blut, doch so eine kleine Wunde konnte nun wirklich nicht tödlich sein.

In der anderen Tasche finde ich nur meinen Schlüssel mit dem Schlüsselring in Form eines Drachens, der Flagge von Wales.

«Perfekt!» Gerry klatscht in die Hände. «Der Drache des Schicksals. Wie überaus passend!»

«Das soll das Zeichen sein?»

«Warum nicht?»

Ich betrachte den roten Filzdrachen mit den großen Augen und dem albernen Lächeln. «Und das gebe ich nun der Person, die meinen Platz einnehmen soll, und die stirbt dann?»

Gerry lässt die Zähne aufblitzen. «Einfach, oder?»

Grauenhaft einfach und total wahnwitzig. Gott sei Dank ist es nur ein dämlicher Traum.

«Jetzt kommt noch etwas Wichtiges, Alex.» Gerry packt meine Schultern und zieht ein ernstes Gesicht. «Du musst dich daran erinnern, was hier geschehen ist. Du musst daran glauben

Meine Wangen werden heiß. «Ja, natürlich!» Obwohl ich bereitwillig nicke, ist mir das alles plötzlich sehr unangenehm. «Äh … und wenn es mir kurz entfällt oder wenn ich beim Aufwachen glaube, es sei alles nur ein Traum?»

«Echt? Ich hätte dich für klüger gehalten.» In seiner Stimme klingt nun eine gewisse Schärfe mit. «Dieses Traumding ist ein blödes Klischee, Alex. Wenn du es vergisst oder verdrängst, wirst du höchstwahrscheinlich genau das Gleiche tun wie vorher und das gleiche Ergebnis erzielen.» Er weist mit dem Kopf auf das tote Mädchen.

«Aber das kann ja eigentlich nicht passieren, oder? Das kann ich doch gar nicht vergessen!»

«Es gibt leider keine Garantie, denn das hängt davon ab, wie dein Gehirn mit einem eventuell noch vorhandenen Sterbetrauma umgeht.» Gerry zeigt auf das Glas, das ich in der Hand halte. «Trink das Wasser lieber aus. Der Flüssigkeitspegel kann in Bezug auf die Schmerzen bei einem Neustart viel ausmachen.»

«Schmerzen?»

«Du bist gestorben, Darling. Da geht’s nicht einfach ohne Nebenwirkungen weiter.» Er lächelt. «Hattest du schon einmal einen Kater?»

Ich nicke und zucke bei der Erinnerung zusammen.

«Tja, ich muss gestehen, so wird es im Allgemeinen wahrgenommen. Wenn du aufwachst, fühlst du dich wie nach einer sehr harten Nacht!»

«Na super!»

«Besser als die Alternative, das kann ich dir versichern. Oh, und noch etwas: Beim Aufwachen hast du die ersten fünf Stunden nach dem Neustart bereits verschlafen, also würde ich mich an deiner Stelle ranhalten. Bist du bereit?»

«NEIN!»

Wie eine Flut rauscht Schwärze von allen Seiten auf mich zu. Als Letztes sehe ich ein blendend weißes Lächeln in der Luft hängen, das unmittelbar von dem Gefühl begleitet wird, als hätte mir jemand voll ins Gesicht geschlagen.

Tod.Ernst

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