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5WO BIN ICH NUR MIT MEINEN GEDANKEN?

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Ich starre wie gebannt auf das Loch im Sitz, das der Ast gerissen hat. Er hätte genau mein Herz getroffen, das gerade auf und ab hüpft wie ein Shih Tzu auf dem Trampolin.

Um ein Haar wäre ich gestorben.

Aus irgendeinem Grund schockiert mich das nicht so, wie man meinen könnte. Erneut blitzt ein Bild auf: das meiner Leiche auf einer Bahre in einer Leichenhalle … Ich spüre in meiner Kehle, dass sich mein Frühstück wieder auf den Weg nach oben macht – wie Ratten, die aus einem überlaufenden Abflussrohr fliehen.

«Geht’s? Alles in Ordnung?» Der Busfahrer ist blass, und die Hand, die er mir auf die Schulter gelegt hat, zittert.

Ich nicke, obwohl es mir schlecht geht und nichts in Ordnung ist.

Der Fahrer teilt uns mit, dass ein neuer Bus geschickt wird und der Krankenwagen unterwegs ist. Er möchte, dass ich auf die Sanitäter warte, aber ich will nur noch hier weg – fort von meinem ramponierten Sitzplatz. Ich starre auf die Polsterung, die aus dem Loch quillt, auf das gesplitterte Holz und den zerfetzten Stoff. Wenn ich noch dort säße, würde es auch aus mir herausquellen …

«Ich muss zur Arbeit!», platze ich heraus, taumle die Stufen hinunter und halte mich am Geländer fest, weil meine Beine wie Wackelpudding sind.

Die Türen sind offen, und draußen auf dem Bürgersteig stehen Fahrgäste und Passanten, die den Unfall beobachtet haben und helfen oder vielleicht auch nur Fotos machen wollen.

Ich dränge mich hindurch und zwinge meine Beine, mich aufrecht zu halten und so lange weiterzugehen, bis ich die Unfallstelle hinter mir gelassen habe.

Beinahe wäre ich gestorben, aber es macht mich auch fertig, dass ich wusste, es würde irgendetwas Schlimmes passieren. Das war mir schon beim Aufwachen klar.

Soll ich das vielleicht lieber mal erklären?

Einen klassischen Horrorfilm hat ja wohl jeder schon gesehen. Und diese Szene ist auch bekannt: Mitten in der Nacht bleibt ein Auto auf einer einsamen Straße liegen. Ein paar Freunde steigen aus und gehen zum nächstgelegenen unheimlichen Häuschen, um Hilfe zu holen. Während sie darauf zugehen, sagt einer von ihnen: Äh, Leute, ich habe ein schlechtes Gefühl. Die anderen fallen über ihn (oder sie) her, weil er oder sie Angst hat, aber man weiß schon, dass sie am Ende des Films alle tot sein werden.

Tja, dieser Typ beziehungsweise dieses Mädchen bin ich. Die Szene spielt sich in Dauerschleife in meinem Kopf ab und tauscht immer wieder die Location aus, je nachdem, was ich gerade machen will. Es fühlt sich wie ein eingebauter Sabotage-Mechanismus an. Sobald ich etwas vorhabe, macht mich meine bösartige Fantasie verrückt, bis ich von einer nahenden Katastrophe derart überzeugt bin, dass ich eine Panikattacke bekomme und nicht mehr in der Lage bin, das Haus zu verlassen.

Der heutige Morgen war eine Warnung – die Kopfschmerzen, die Übelkeit … Auf die Art und Weise hat mein Körper mir geraten, wieder ins Bett zu gehen und mich unter der Decke zu verstecken.

Nur weil ich Tash so dringend sehen wollte, habe ich nicht darauf geachtet. Und das kommt dabei heraus.

Erst am Tor von Haus Ulmenblick fällt mir auf, dass ich immer noch den Ring der Harry-Potter-Leserin umklammere. Ich hatte ihn mir vorher gar nicht angesehen, doch jetzt erkenne ich, wie hässlich er ist. Der eingefasste Stein besteht aus einem grüngesichtigen Wasserspeier, der die Zunge rausstreckt. Wie kann man nur so etwas tragen?

Doch wenn die Frau ihn nicht aus Versehen fallen gelassen hätte …

Wenn ich nicht am Boden herumgekrochen wäre, um ihn zu suchen …

Wäre ich jetzt tot.

Mit einem Mal ist dieser abscheuliche Ring das schönste Ding auf der ganzen Welt.

Ich sollte ihn zurückgeben, das wäre das Mindeste. Wenn ich das nächste Mal in der Stadt bin, gebe ich ihn am Busbahnhof ab. Bis dahin muss ich ihn sicher aufbewahren.

Als ich den Ring tief in die Jeanstasche stecke, flackert erneut das Bild meiner Leiche auf einer Bahre auf.

«Ja, ich hab’s verstanden!», sage ich laut. «So hätte es laufen können. Ist es aber nicht, also halt die Klappe!»

Doch was mich wirklich verstört, ist die absurde Annahme, es sei kein Unfall, dass der Ast den Sitz durchbohrt hat, auf dem ich normalerweise gesessen hätte. Das ergibt keinen Sinn, ich weiß, aber die Idee klebt wie Kaugummi in meinem Hinterkopf.

Ich rede mir gut zu, dass ich sonst einfach Pech gehabt hätte, dass es purer Zufall war.

Auf keinen Fall konnte es sich um einen Mordversuch handeln.

Allein die Vorstellung ist total lächerlich.

Oder?


Meine Hand zittert, als ich den Mitarbeiterausweis ans Tor von Haus Ulmenblick halte. Es ist sowieso schon unheimlich, im Dunkeln hier anzukommen, an der perfekten Location für einen Horrorfilm. Gruselig, wie das alte Haus am Ende der verschatteten Auffahrt lauert, umgeben von turmhohen Ulmen, die im Wind rauschen.

Darum fluche ich wahrscheinlich auch ausführlich und mache beinahe mir in die Hose, als mir eine Gestalt aus der Finsternis entgegentorkelt.

Ein Hausbewohner im Schlafanzug läuft mit nackten Füßen über den Rasen und schlurft auf mich zu.

Augenblicklich kommt meine umfassende Pflegeaus bildung für Senioren zum Einsatz, und ich schließe messerscharf, dass der Mann nicht hierhergehört. (Beeindruckt? So soll das sein.)

«Äh … Hallo?»

Beim Klang meiner Stimme zuckt er zusammen.

Ich lächle. «Geht es Ihnen gut?»

Der Rentner runzelt die Stirn und senkt den Blick auf seine Füße. «Ich bin auf dem Rasen», sagt er mit verwirrter Miene.

«Das stimmt. Ohne Pantoffeln ist es bestimmt sehr kalt.»

Ich überlege, ob er ein Demenzpatient ist. (Stellt euch euren Verstand wie ein Zimmer vor, in dem eure Erinnerungen ordentlich auf Regalen gestapelt sind. Eines Tages platzt die Demenz wie ein ungezogenes Kleinkind herein und wirft alles auf den Boden. Das ganze Zeug gerät durcheinander, wird mit Buntstiften bekritzelt und verschwindet in einem Spalt im Fußboden.)

«Wir dürfen nicht auf den Rasen.» Jetzt klingt der Mann beunruhigt.

Ich muss ihn wieder ins Haus schaffen, bevor er sich eine Lungenentzündung holt.

«Dann gehen wir besser rein, oder? Ich mache Ihnen einen schönen heißen Tee zum Aufwärmen.» Sanft fasse ich seinen Ellbogen.

Es ist, als würde eine Falle zuschnappen. Wahrscheinlich will er gar nicht zuschlagen, sondern mich nur abschütteln. Wie auch immer, das Ergebnis ist das gleiche: Ich habe eine dicke Lippe und schmecke Blut.

Fluchend schaue ich ihm hinterher, als er erneut über den Rasen torkelt.

Ernsthaft? Ich wäre im Bus beinahe zu Kebab geworden, da hat mir das hier gerade noch gefehlt!

Aber ich kann den Mann nicht einfach frei herumlaufen lassen.

Ich folge ihm in sicherem Abstand und hoffe, dass er die Kraft verliert und ruhig zurückkommt. Ein Plan B fällt mir gerade nicht ein.

Dieser erscheint in Gestalt meiner Chefin.

Ich höre sie schon kommen, bevor ich sie sehen kann – mit klimperndem Schmuck und einem neonblauen Seidenschal, der sich wie ein Umhang hinter ihr aufbauscht, kommt sie angerauscht. Marianne ist sehr klein, knapp einsfünfzig, doch was ihr an Größe fehlt, gleicht sie mit Breite, Farbe und Lärm aus.

«Wollen wir vielleicht ausbüxen, Derek?» Keine Sirene könnte den alten Mann ruckartiger zum Stehen bringen als Mariannes Stimme.

Derek wirkt regelrecht geschockt, als wäre er gerade aufgewacht und wüsste nicht, wo er ist.

«Wir können doch nicht zulassen, dass Sie weggehen und in Schwierigkeiten geraten, oder?» Marianne spricht mit allen, als wären sie fünf Jahre alt. Auch wenn sie schimpft, lächelt sie wie in einer Fernsehsendung für Kinder.

Derek schüttelt wenig überzeugt den Kopf.

«Gut, dass du da warst, Alexandra!» Marianne schenkt mir ihr typisches Lächeln, doch dann runzelt sie die Stirn. «O je, du blutest ja an der Lippe! Das war doch nicht etwa Derek, oder?»

«Nein! Ich, hm, mein Bus ist gegen einen Baum gefahren, gerade eben, auf dem Weg hierher. Ich bin mit dem Gesicht auf den Vordersitz geschlagen.» Was soll ich machen? Einen verwirrten alten Mann verpetzen? Ich habe gesehen, wie Marianne die Bewohner behandelt, wenn sie sich unbeobachtet glaubt.

«Dein Bus!» Sie reißt die Augen auf und ist die Fürsorge in Person. «Ach du meine Güte! Bist du sicher, dass du heute arbeiten kannst?»

Einen Augenblick lang bin ich in Versuchung … Seit ich aufgewacht bin, habe ich ein schlechtes Gefühl, was diesen Tag angeht, und bisher hat sich die Vorahnung mehr als bewahrheitet. Aber ich muss dringend mit Tash sprechen.

«Ja, geht schon», antworte ich. «Ich helfe Ihnen, Derek ins Haus zu bringen.»

Sie lächelt. «Ach, das schaffe ich schon allein. Geh lieber nach oben. Natasha fragt sich bestimmt, wo du bleibst. Wir verstehen uns gut, Derek und ich, nicht wahr, Derek?»

Der alte Mann gibt keine Antwort. Sein Blick schweift in die Dunkelheit, als hätte er dort etwas vergessen und könnte sich nicht mehr daran erinnern, was es war oder wo er es hingelegt hat.

Ich habe ein schlechtes Gewissen, weil ich ihn mit ihr allein lasse, aber sie ist die Chefin, was soll ich machen?

Tod.Ernst

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