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– EINS – Probenraum

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ICH BRAUCHE NOCH EINEN MOMENT. Ich warte noch, bis sich die Schritte der Arzthelferin entfernt haben. Mir ist die Vorstellung unangenehm, dass sie hört, wie ich die Tür verschließe. Sie hat mich darum gebeten, hat mir den Becher überreicht, verständnisvoll gelächelt hat sie und gesagt, ich möge doch bitte nicht vergessen, die Tür hinter ihr zuzusperren. Aber sie darf nicht hören, wie der Riegel einschnappt. Dann wäre ich nicht mehr imstande, meine Probe zu produzieren.

Das Einzige, was ich seit dem Betreten des Urologenzentrums von mir gegeben habe, war mein Name. Zum Schutz habe ich meinen Doktortitel vorangestellt. Oft glaubt man dann, ich wäre Arzt, und behandelt mich zuvorkommender. Und dass ich zur Probenabgabe komme, habe ich noch gesagt. Die Arzthelferin hat professionell reagiert, genauso, wie man es erwarten würde. Und doch hat man an ihrer Reaktion gemerkt, dass sie sich der besonderen Natur dieser Prozedur durchaus bewusst ist, an dem Blick zu ihrer Kollegin am Empfangsschalter hat man es gemerkt, an der gemessenen Handbewegung, mit der sie mir den Patientenbogen auf die Theke gelegt hat, an ihrer gedämpften Stimme beim Erklären des Ablaufs. Trotz täglicher Durchführung verweigert sich dieser Vorgang der Normalität. Es besteht ein Unterschied zur Abgabe anderer Proben, als wenn beispielsweise Harn oder Blut aus dem menschlichen Körper zutage gefördert werden. Diese Flüssigkeiten sind alltäglichere und gesellschaftlich akzeptiert, ein Mann kann öffentlich bluten oder in ein Gebüsch urinieren, ohne dass es einen übermäßigen Aufschrei gäbe, beim Arzt stellt man den Harnbecher auf ein Tablett im Patienten-WC, die Blutprobe wird von der Arzthelferin bei offener Tür abgenommen. Mit meiner Probe geht das nicht. Wie ich sie unter den gegebenen Umständen produzieren soll, ist mir im Moment noch nicht vorstellbar, oder dass ich in ein paar Minuten mit einem spärlich befüllten Becher in der Hand aus dem Zimmer gehe, den schmalen Gang entlang, vorbei an den wartenden Patienten, und der Arzthelferin den Becher übergebe. Es ist nicht vorgesehen, dass ein Mann so etwas im öffentlichen Raum tut. Trotzdem erwartet man genau das von mir. Auch wenn ich gleich die Tür versperre, kommt das Ganglicht unter der Tür herein, ich höre die Schritte des Personals, das Läuten des Telefons und die Stimmen der Patienten. Vor mir ist ein anderer Mann auf dieser Liege gesessen, und nach mir kommt der nächste. Alles hier ist öffentlich.

Aber es ist nicht nur das. Die Schwierigkeit besteht auch darin, dass alle möglichen Gefühle und Erinnerungen mit diesem Akt verknüpft sind, das Gefühl von Begierde, das Gefühl von Lust, von Ekstase und Glück und Erfüllung, Erinnerungen an Liebe und Sehnsucht, an Geilheit, Not, Wut, Scham und Selbstverachtung. Das alles gehört nicht hierher, ich muss es ausblenden, sonst wird es schwierig. Dazu kommt noch der schlechte Scherz, dass der Raum von dieser Lavalampe beleuchtet wird, die ihr blaues Licht auf die Wände wabert, als wäre das hier eine Meeresgrotte.

Ich kann immer noch abbrechen. Niemand weiß, dass ich hier bin. Ich muss Vera nichts erzählen, muss ihr nicht nachträglich erklären, warum ich es verheimlicht habe. Denn das würde sie fragen. Warum ich denn nichts gesagt habe. Ansehen würde sie mich, und auf die Erklärung warten. Eine Nebenhodenentzündung? Warum ich so etwas verschweige. Ob ich deshalb die letzten Wochen so unnahbar gewesen bin.

Sie würde nicht gleich nach den möglichen Folgen einer Nebenhodenentzündung fragen, sie würde auch nicht fragen, wann das Ergebnis zu erwarten ist. Aber sie würde mich ansehen, würde versuchen, in mich hineinzusehen, wenn sie meinte, ich merke es gerade nicht, sie würde zu verstehen suchen, was in mir vorgeht, und das so lange, bis das Ergebnis da ist und ich damit herausrücke.

Dass wir nie über das Kinderkriegen gesprochen haben, macht es nicht leichter. Bei Vera hat sich von Anfang an alles um ihr Studium gedreht, zuerst der Bachelor, dann der Master. Jetzt ist es der PhD, Vera hat die Ambition, ihn in der vorgegebenen Zeit und mit Publikationen in möglichst guten Journals abzuschließen, damit sie danach eine Stelle an einer möglichst guten Universität bekommt, obwohl solche Stellen seltener sind als Pottwale im Mittelmeer, aber Vera sagt, das wird schon funktionieren. Vera denkt, das Leben könne immer so weitergehen, es wird schon immer alles gut gehen. Bald wird auch Vera die Dinge anders sehen. Wenn man über dreißig ist, bekommt man eine andere Sicht auf das Leben, man begreift, dass die Zeit in Wahrheit rast, dass man trotz Doktortitel mit gebundener Monografie und Publikationen in diesen Proceedings und jenen Letters noch nichts Richtiges zustande gebracht hat, dass allem eine Frist gesetzt ist, dass auch Männer nicht bis an ihr Lebensende zeugungsfähig bleiben.

Vielleicht würde Vera auch einen Scherz machen, wenn ich ihr von diesem Arztbesuch erzähle. Alter Dummkopf, würde sie sagen, würde mir durch das schüttere Haarbüschel über der Stirn fahren und fragen, ob die Arzthelferin zumindest attraktiv gewesen ist, und wie genau sie mir denn bei der Probenabgabe geholfen hat. Und ich würde lügen und ihr nicht sagen, dass die Arzthelferin attraktiv gewesen ist, in meinem Alter oder sogar eine Spur älter, dass sie mich angelächelt und mir mit heruntergelassenem Visier in die Augen gesehen hat, als sie mir den Probenbecher in die Hand gedrückt hat. Ich würde Vera in dem Glauben belassen, dass ich mich nicht für andere Frauen interessiere, was an sich auch stimmt, aber diese Arzthelferin scheint eine interessante Frau zu sein. H. Sitte steht auf dem Schild an ihrer Weste. Ihr rechter Unterarm ist tätowiert, ein Ozean voller Symbole ist aus dem hochgeschobenen Ärmel hervorgetreten, als sie mir den Becher überreicht hat – eine Toga-tragende Frau mit durchscheinenden Brustwarzen auf einem Seepferd reitend, ein Tintenfisch im Kampf mit einem Pottwal, und auf dem Handrücken die Meeresgischt, die sich in den Becher zu ergießen schien. Beim Hinausgehen hat die tätowierte Hand das Dekkenlicht ausgeschaltet, den Raum plötzlich in das blaue Licht der Lavalampe tauchend, dann noch einmal ein Blick von ihr, und ich möge doch bitte nicht vergessen, die Tür zu verschließen.

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