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Vor-Haut

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Das erste Mal getaucht bin ich, noch bevor ich richtig schwimmen konnte. Wann genau das gewesen ist, könnte ich nicht mehr sagen, aber es muss bei einem dieser todesverachtenden Sprünge vom Beckenrand gewesen sein, wo mein Knaben-Ich mit einem Knall die Wasseroberfläche durchbrochen hat und für den Bruchteil einer Sekunde untergetaucht ist, desorientiert, den Geschmack von Chlor im Mund und vollkommen euphorisch. Wie die anderen Knaben auch, habe ich nichts mehr geliebt als das Wasser. Ich bin mit aufgeblasenen Schwimmflügeln am Beckenrand gestanden, habe wie verrückt geschrien, Ein Hai, ein Hai, hinter euch schwimmt ein Hai, ich rette euch!, und dann bin ich ins Wasser gesprungen, eine Hand an der Nase, die andere an der Badehose. Wie bei den anderen auch, ist meine Hand unweigerlich zur Badehose gewandert, wenn ich aufgeregt gewesen bin. Das Ziehen an der Vorhaut hat eine beruhigende Wirkung gehabt, es ist eine Form der Selbstversicherung gewesen, bevor ich mich ins Verderben gestürzt habe. Ich habe mich gespürt, wenn ich an meiner Vorhaut gezogen habe, bin ruhig geworden, mein Herzschlag hat sich verlangsamt, und von der Stelle hat eine Wärme in meinen Körper ausgestrahlt. Das Gefühl ist vielleicht mit dem vergleichbar, das ein Säugling beim Saugen an der Brustwarze empfinden muss. Nimm deine Hand da weg, hat mein Vater gesagt, wenn mein Knaben-Ich im Freibad vor allen Leuten daran gezogen hat, ohne zu erklären, warum die Hand da nicht hingehört. Der Knabe hat es nicht verstanden, er hat sich dabei nichts Böses gedacht, in Wirklichkeit hat er sich gar nichts gedacht, das Ziehen an der Vorhaut ist unbewusst erfolgt. Erst durch die Interventionen des Vaters ist es ein bewusster, aber heimlicher Akt geworden, der wohlüberlegt sein wollte. Der Vorgang hatte nichts Sexuelles, nichts Ungebührliches an sich, er hat zum Repertoire der Knabenbewegungen gehört, wie der Griff an die Nase vor dem Sprung. Zwar hat er sich ein wenig geschämt, wenn er beim In-die-Badehose-Schlüpfen kurz nackt gewesen ist, aber die Ursache für seine Scham war ihm nicht klar. Die zukünftige Funktion seines Glieds, die es aus dem öffentlichen Blickfeld verbannen würde, ist diesem Knaben noch unbekannt, er ist im Gegenteil ein wenig stolz darauf, weil ihm das Wasserlassen dadurch zum Spiel wird. Dass er als Mann Blut aus sich hinaus zwischen die Beine pumpen und dort anschwellen wird, davon hat dieser Knabe keine Vorstellung. Überhaupt ist sein Konzept vom Mannsein noch unfertig. Er ist sich zum Beispiel nicht sicher, dass er ein Mann werden wird, nur weil er ein Knabe ist. Er befürchtet, er könnte ein Mädchen werden, und mit Sorge observiert er seinen Oberkörper, ob ihm nicht Brüste wachsen. Für eine Weile erscheint ihm das so wahrscheinlich, dass er sich vorauseilend Entschuldigungen dafür zurechtlegt, warum er sich bald in ein weibliches Wesen verwandeln wird. Woher sollte man auch sicher wissen, dass das nicht möglich ist? Aus dem Fernsehen weiß er, dass es Fische gibt, die im Laufe ihres Lebens ihr Geschlecht ändern können. Ein Weibchen wird dann plötzlich ein Männchen, oder umgekehrt. Dass Knaben das nicht können, dass sie unweigerlich Männer werden, weiß er noch nicht. Männer sind für ihn unerreichbare Wesen, er beobachtet sie, wie sie durch das Freibad schreiten, umgeben von einer Aura aus Körperbehaarung, Bizepsen, tiefen Stimmen und dem betäubenden Geruch, der aus ihren Achseln strömt. Sein Knabenkörper schottet ihn von dieser Männerwelt ab, er steckt in seiner knabenhaften Vor-Haut fest. Vielleicht ist sein Blick deshalb besonders auf die anderen Knaben gerichtet. Mädchen interessieren ihn nicht, nur die gleichaltrigen Jungen, und noch mehr die ein wenig älteren, die ein oder zwei Jahre voraus sind, wie sein Bruder, die greifbar scheinen und gleichzeitig um so vieles anders, größer und stärker und mutiger, ausgestattet mit einer unbestreitbaren Autorität. Die an den tiefen Stellen ins Freibad springen, wo man nicht mehr stehen kann, die keinen Schwimmreifen und keine Schwimmflügel mehr brauchen, weil sie schwimmen können, und stolz ihren Freischwimmerausweis vorzeigen. Er steht daneben und sieht den Springern und Freischwimmern zu, fast ohne Neid, mit aufrichtiger Bewunderung und einer Portion Scham.

Als sie alle noch das Alter haben, wo Schwimmhilfen etwas vollkommen Natürliches sind, wo man als Träger dieser orangen Luftklötze noch nicht aus der Gruppe ausgestoßen wird, geht er gerne ins Wasser. Es ist das Selbstverständlichste auf der Welt, sich bei der Ankunft an einem der alten Fischteiche oder im Freibad die Kleider vom Leib zu reißen, die Schwimmflügel überzustreifen und ins Wasser zu springen. Bis zu dem Tag, als sein Bruder plötzlich ohne schwimmt, als hätte er es über Nacht im Schlaf gelernt. Und dem übernächsten Tag, an dem es der beste Freund seines Bruders auch schon kann, und dem darauffolgenden, als es schon vier sind, und dann acht und in exponentiellem Wachstum immer mehr, als wären diese Jungen Einzeller, die ihre Eigenschaften bei jeder Teilung an ihren Klon weitergeben, was dazu führt, dass bald alle in seinem Alter schwimmen können, alle sind sie Freischwimmer geworden, mit Ausnahme von ihm. Er sitzt reglos im Schatten der Freibadsträucher, das Wasser in seinem Körper zu Gallert gestockt, und sieht ihnen zu, studiert ihre Bewegungen, ahmt sie in Gedanken nach, und wenn sie untertauchen, hält er mit ihnen die Luft an, bis sie wieder nach oben kommen. Hineingehen und ohne Schwimmhilfen schwimmen, dazu ist er nicht in der Lage. Er ist sich sicher, dass er dann ertrinkt. Mit der Zeit merkt er allerdings, dass ihm das Luftanhalten leichtfällt und dass, wenn die anderen auftauchen, er noch einige Sekunden länger ohne Atem auskommen kann. Also übt er die Luft anzuhalten, solange es geht, dabei immer die anderen im Auge, sie werden seine Zeitmesser, der eine taucht ab und wieder auf, dann der Nächste, ein Weiterer steigt prustend an die Oberfläche, und er behält immer noch denselben Atemzug in sich, triumphiert über sie alle. Das Atemanhalten wird seine geheime Superheldenkraft. Niemand merkt etwas davon und er verrät es auch niemandem, aber bei sich selbst weiß er, dass er besser ist als sie alle. Bald schon interessiert es ihn nicht mehr, was die anderen im Wasser machen, er sitzt auf seinem Handtuch und hält den Atem an. Kommst du mit ins Wasser?, fragt manchmal einer der Gleichaltrigen, Den brauchst du gar nicht zu fragen, sagt dann sein Bruder, der geht sowieso nicht rein, der kann nicht schwimmen, und er wartet wortlos, bis sie weg sind, damit er ungestört trainieren kann.

Er treibt es so weit, dass ihm schwarz vor Augen wird. Mit Gewalt unterdrückt er das Zucken im Bauch und das Würgen im Hals. Dabei wird er von seinem Bruder ertappt, sein Bruder kniet über ihm, rüttelt ihn an der Schulter und schreit seinen Namen, Was ist mit dir, was ist mit dir? Er antwortet nicht und tut so, als hätte er nur geschlafen, setzt sich von nun an abseits, damit er ungestört bleibt. Das Luftanhalten gibt ihm trotz der gelegentlichen Ohnmacht ein Gefühl von Kontrolle, ganz anders als bei den epileptischen Anfällen später, die sich seiner Kontrolle entziehen und manche Nächte in reale Albträume verwandeln.

Eines Tages, noch im selben Sommer, ist es so weit. Vielleicht liegt es an der Hitze oder an dem Anblick der im Wasser tobenden anderen, oder es ist das Wasser selbst, die Bewegung der Wellen, sein Glitzern, das Geräusch, wenn es gegen die Betonwände des Beckens schwappt, jedenfalls steht er auf, geht zum Kinderbecken, das sich ein paar Meter abseits vom großen Becken befindet und so seicht ist, dass man nicht darin ertrinken kann, und legt sich mit dem Gesicht nach unten hinein, zwischen die plantschenden Kleinkinder und die Beine ihrer Mütter. Er legt sich einfach ins Wasser und bleibt so, für eine halbe Minute vielleicht, vor ihm der Boden mit dem abblätternden Lack, der vortäuschen soll, dass das Wasser blau sei, wo es in Wahrheit keine Farbe hat. Er betrachtet die vorbeigehenden Füße um ihn herum, bis ihn eine der Mütter an den Schultern hochzieht und fragt, ob alles in Ordnung sei. Ich übe tauchen, sagt er nur und taucht wieder unter, und von da an wird er nicht mehr gestört. Im Gegenteil wird er bald schon bestaunt. Noch am selben Tag bemerken ein paar von den anderen, was er da macht, sie stellen sich an den Rand des Kinderbeckens, um ihm zuzusehen. Eine Minute, sagt einer mit Uhr, als er von einem seiner Versuche auftaucht. Am nächsten Tag bildet sich schon eine Traube von Menschen um das Kinderbecken, nicht nur Kinder, auch Jugendliche und Erwachsene sind dabei, fasziniert von seiner Superheldenkraft. Ein paar Gleichaltrige und sogar der eine oder andere Jugendliche legen sich neben ihn ins Wasser, versuchen mitzuhalten, aber sie scheitern alle schon nach wenigen Sekunden. Sie sind chancenlos. Einmal steigt sogar ein Erwachsener, ein richtiger Mann mit Muskeln und Haaren auf dem Rücken, ins Wasser, um sich mit ihm zu messen. Die Ohren knapp unter der Wasseroberfläche, kann er das schallende Gelächter der Umstehenden hören, als der Mann nach kurzer Zeit aufgeben muss. Ein ekstatisches Gefühl überschwemmt ihn, und er schafft eine neue Bestzeit. Nicht dass er mitstoppen würde, aber die anderen tun es, und sie notieren die Zeiten auf der Schiefertafel der Freibadkantine, wo sonst die Getränke angepriesen werden.

Am Ende der Woche dann, es ist Samstag oder Sonntag, reißt ihn sein Vater aus dem Kinderbecken, Schämst du dich gar nicht, presst er zwischen den Zähnen hervor, wie alt er eigentlich sei, sagt er, und ob er sich vor gar nichts grause, und die umstehende Menge geht rasch auseinander. Er weiß nicht, ob sein Vater gerade zufällig in der Kantine auf ein Bier ist, oder ob es ihm sein Bruder erzählt hat. Vielleicht haben sich auch die Mütter beschwert, weil ihre Kinder, wann immer er zu seinen Versuchen angetreten ist, von einem Mitbewerber oder den umstehenden Zusehern aus dem Becken geräumt wurden. Widerspenstig wie er ist – Trotzig bist du, sonst nichts, sagt sein Vater oft, du glaubst, du weißt alles besser, aber nichts weißt du –, gibt er das Treiben unter Wasser nicht auf, sondern wechselt in das große Becken. Obwohl die Angst vor dem Ertrinken in seinem Nacken sitzt, ist er entschlossen, nicht aufzuhören. Außerdem hat er im Kinderbecken bemerkt, dass er auf dem Wasser treibt, ohne unterzugehen, solange er sich nicht bewegt. Also hält er sich in dem Bereich auf, wo das Wasser nur bis zur Hüfte reicht und schwebt dort ohne Schwimmflügel reglos auf der Oberfläche. Die Angst vor dem Ertrinken führt allerdings dazu, dass sein Herz schneller schlägt, und er schafft es nur noch halb so lange unter Wasser zu bleiben wie davor.

Schon am ersten Tag ohne neuen Rekord verschwinden die Zeiten von der Schiefertafel und machen wieder den Getränkepreisen Platz. Außerdem hat den anderen das Einschreiten seines Vaters gezeigt, dass er angreifbar ist. Sie springen nun direkt neben ihm mit angezogenen Beinen ins Wasser, um ihn zu sabotieren, was ihnen anfangs auch gelingt. Mit Bedacht zieht er sich Stück für Stück in noch seichteres Wasser zurück, bis sich einer der Jungen, die aus Begeisterung über das wehrlose Ziel ihrer Attacken die Vorsicht vergessen, beim Wasserbombenangriff das Knie blutig schlägt. Ab dann hat er wieder seine Ruhe. Schon bald wird er vom ganzen Freibad ignoriert, selbst der Bademeister achtet nicht mehr auf ihn, er ist wieder so ungestört wie zuvor, als er mit angehaltener Luft abseits auf seiner Decke gesessen ist. Nun werden seine Zeiten wieder besser. Mangels einer wasserfesten Uhr kann er sie nicht messen, aber er spürt es. Überhaupt potenziert das Liegen im Wasser sein Gespür. Nicht dass seine Sinne geschärft würden, eher treten sie in den Hintergrund. Dafür bildet sich das Gefühl für seinen Körper und die Umgebung immer stärker aus. Ein Zustand kontrollierter Ruhe tritt ein, wie er ihn an Land nie erlebt hat. Noch verstärkt wird dieser Zustand, wenn er die Augen schließt, was er schon deshalb tut, weil das Freibad damals noch keine biologische Filteranlage hat und das Chlor in den Augen brennt.

So vergeht im Wasser treibend der Juli. Im August kommen die Wolkentage, im Hochland wird es früh Herbst, es kommt der kalte Regen, der das Freibad leer wäscht. Es kommt der Tag, an dem sein Vater trotz der Wolken sagt, So, heute fahren wir an den Aichingerteich, und dann lernst du schwimmen, du brauchst gar nicht so zu schauen.

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