Читать книгу WALTAUCHEN - David Bröderbauer - Страница 8
Fertigteilhaus
ОглавлениеIch sitze im Arztzimmer und atme im blauen Licht der Lavalampe. Ich fülle den Bauch mit Luft, den Brustkorb, den Hals bis hinauf zum Kehlkopf, wie ich es damals im Tauchkurs gelernt habe. Ich bin voll mit Luft. Dann atme ich langsam aus, doppelt so lange, wie ich eingeatmet habe, damit der Puls sinkt. Entspannung ist der Schlüssel. Ohne Entspannung keine Erregung, ohne Erregung keine Erektion. Das Telefon am Empfang läutet. Niemand hebt ab. Ich atme wieder ein.
Wer lange die Luft anhalten will, darf nicht verkrampfen. Unter Wasser macht sich jede Verspannung sofort bemerkbar, verspannte Muskeln zehren am Sauerstoffdepot. Der Knabe sitzt reglos in seinem Kinderzimmer und versucht krampfhaft, so lange wie möglich die Luft anzuhalten. Der Tag am Aichingerteich ist tatsächlich der letzte Badetag gewesen. Der Regen ist eine Woche geblieben und hat den Herbst dagelassen. Jetzt übt er das Luftanhalten in seinem Zimmer. Er verschließt die Tür, damit er ungestört ist, auch wenn der Vater das nicht gerne sieht.
Ganz langsam atme ich aus. Das Ausatmen ist das Wesentliche, loslassen und sich fallen lassen, innen hohl werden und Platz machen für die Erregung. Ich höre das Telefon am Empfang nicht mehr, ich bin ganz bei mir, bin ganz leer und warte darauf, dass Begierde in mir hochsteigt. Ich denke an nackte Frauen und halte die Luft an.
Das neue Schuljahr beginnt, es wird bald kalt, wie es für das Hochland üblich ist. Nächstes Jahr fahren wir nach Jugoslawien, an die Adria, sagen die Eltern mit verheißungsvollem Unterton, Dort ist es immer warm. Was das ist, Jugoslawien, Adria, versteht er nicht. Bedrohlich klingt es, ein möglicher Hinterhalt. Er will nächsten Sommer nur zurück in das Freibad, tauchen will er, so lange wie möglich unter Wasser bleiben, länger als jeder andere Mensch auf der Welt. Bis dahin will er in seinem Zimmer sitzen und die Luft anhalten.
Schritte nähern sich der Tür – habe ich sie wirklich verschlossen? Das Geräusch von Hausschuhen schlurft am Türspalt vorbei – meine tätowierte Arzthelferin in ihren Gesundheitssandalen? Ich verkrampfe und muss Luft holen. Es geht nicht. Ich bin noch nicht bereit. Ich nehme einen der Bildbände aus dem Regal und klappe ihn auf. Das Lichtspiel der zerfließenden Wachskugeln wandert über die Seiten und lässt die Haut der Frauen schimmern.
Stundenlang sitzt der Knabe hinten in seinem Zimmer am Ende des langen Gangs, der die Räume des Hauses mehr trennt als verbindet, er versucht so lange wie möglich die Luft anzuhalten. Regentropfen schlagen gegen die Scheibe. Sein Zimmer ist das einzige im Haus mit einem Fenster nach Osten. Bei schönem Wetter sieht er die Sonne aufgehen. Ihres ist das erste Haus in der Siedlung gewesen. Die Pioniere sind sie gewesen, eine Vorhut auf verlorenem Posten, in einem Hochland voller Menschen, die Häuser bauen, um sich darin einzuschließen. Rundherum hohes Gras, ein Sandweg zur Baustelle, am Morgen Hasen, die vor dem Auto herlaufen und abends Rehe, die stumm am Waldrand stehen und auf die Baustelle herabblicken. Eine Baustelle mit Sandhaufen, zwei Brüder im Sand mit Knieschonerhosen. Am Wochenende graben sie Tunnel für ihre Matchboxautos. Sticht die Schaufel des Vaters zu, stürzen die Tunnel ein. So manches Auto landet im Beton. Ein unfreiwilliger Pionier ist sein Vater. Das Haus ist eines der ersten Fertigteilhäuser im Ort. Ein leistbares Haus für die kleine Börse des kleinen Mannes. Ein grundloser Mann ist sein Vater, die Großeltern noch Kleinhäusler, die sich bei der Grafschaft verdient haben, aber der Vater arbeitet sich hoch, zumindest im kleinen Maßstab. Die Fertigteilhausfirma baut das Haus in Windeseile, der Vater hilft. Von den Kollegen, von den Freunden, erntet er schiefe Blicke, Ein Haus baut man selber, wozu hat ein Arbeiter seine Hände, wer lässt denn für sich bauen? Aber die Kosten sprechen dafür, die Teile sind schon fertig, man muss sie nur noch zusammenstecken, genauso wie die Knie des Vaters dafür sprechen, die schon immer kaputt sind, die ihn früh schon in einen Bürostuhl der Regionalbahn setzen, an eine Schreibmaschine, wo er mit seinen Händen nicht viel anzufangen weiß.
Das Fertigteilhaus wird alles haben, was man braucht, einen Keller für die Geräte, das Erdgeschoß für die Familie, einen Dachboden für die Staubluft und zum Rasenmähen einen Garten. Bald folgen weitere Pioniere, die Siedlung wächst, am Morgen hört man ihre Autos auf den asphaltierten Straßen, am Abend sieht man ihre Schemen in den Lichtquadraten der Häuser.
Der Vorteil seines Zimmers ist, neben dem Fenster nach Osten, die Ruhe. Es ist am Ende des Gangs gelegen, nach den Türen zum Keller und zum Abstellraum, der Gang ist fensterlos und verschluckt nicht nur das Licht, sondern auch die Geräusche von vorne. Fest wie ein Pfropfen sitzt er auf der Zimmertür und dämpft die Stimme des Sportkommentators im Fernseher, das Rauschen des Küchenabzugs und das Zufallen von Türen, er dämpft auch die Stille im Haus, die oft ganze Tage einnimmt. Das Zimmer ist wie gemacht dafür, ungestört das Luftanhalten zu üben, das Zimmer ist seine Taucherglocke.