Читать книгу WALTAUCHEN - David Bröderbauer - Страница 5
Sprechstunde
ОглавлениеEs gibt dieses alte Seemannsgarn, wonach ein Matrose von einem Wal verschluckt und für ein paar Tage in die Tiefe verschleppt wurde, bevor das Ungeheuer wiederaufgetaucht ist und ihn ausgespuckt hat. Nackt und vollkommen weiß ist er an Land zurückgekehrt, seine Kleider aufgelöst und die Haut gebleicht von der Verdauungsflüssigkeit des Wals. Wenn ich die Tür jetzt zusperre, treffe ich eine Entscheidung. Ich kann dann nicht mehr mit einem leeren Becher hinausgehen. Er muss weiß sein wie der Matrose, wenn ich die Tür wieder öffne.
Wofür wohl das H. auf dem Namensschild der Arzthelferin steht? Sie scheint etwas für das Meer übrig zu haben. Sonst lässt man sich nicht so ein Tattoo stechen und man schiebt den Ärmel der Weste nicht so weit hoch, dass es jeder sieht. Ich hätte ihr sagen können, dass ich meine Doktorarbeit über die Griechen geschrieben habe, dass ich weiß, welche Nymphe für die Frau auf dem Seepferd Patin gestanden hat. Ich hätte ihr die Geschichte von meiner Begegnung mit den Pottwalen erzählen können, von dem Tag, der mein Leben verändert hat, diese Geschichte beeindruckt jeden. Aber wenn man gerade einen solchen Becher überreicht bekommen hat, erscheint irgendwie alles, was man sagen könnte, unpassend.
Vielleicht ist die Lavalampe ihre Idee gewesen – ein entrücktes Unterwasserreich schaffen, in dem man entspannen kann. Ob sie auch taucht? Sie sieht nicht wie jemand aus, der nur ans Meer fährt, um sich in die Sonne zu legen. Wenn sie tatsächlich taucht, dann hat sie die Lavalampe nicht zufällig gewählt, dann hätten wir darüber sprechen können, wie man sich unter Wasser fühlt, dass man dort ganz bei sich ist. Alles andere löst sich auf. Die Anspannung verfliegt und man wird ganz ruhig, besonders beim Freitauchen. Davon hätten wir sprechen können, ich hätte sie mit meinen Freitauchkenntnissen beeindrucken können. Ein tiefer Atemzug, die Luft anhalten, loslassen und abtauchen ins Blau. Man muss lernen, für Minuten ohne Sauerstoff auszukommen, man muss dem Wasserdruck standhalten, der einem das Trommelfell zerreißen kann, dem Zwang, atmen zu wollen, dem Zucken im Bauch. Der Angst vor der beengenden Weite, der man sich ausliefert. Weil das so schwer ist, taucht kaum jemand frei.
Vera und ich sind schon lange nicht mehr am Meer gewesen. Die vielen Leute, das sinnlose Herumliegen, der Plastikmüll. Obwohl wir am Meer ein Paar geworden sind. Obwohl wir dort das erste Mal miteinander geschlafen haben, an diesem alles verändernden Tag, nach der Begegnung mit den Walen. Vielleicht fahren wir gerade deshalb nicht mehr ans Meer, weil man so etwas nur einmal erleben kann, weil man dieses Übermaß an Gefühlen ein zweites Mal gar nicht aushalten würde, und hielte man es doch aus, würde einen das Erlebnis verändern, und dieses Risiko geht man nicht mehr ohne Weiteres ein, wenn man einmal einen sicheren Stand gewonnen hat. Vielleicht ist das auch der Grund, warum ich seitdem nicht mehr getaucht bin. Gerade das Tauchen habe ich aufgegeben, obwohl es bis zu diesem Tag am Meer eines der wenigen Dinge gewesen ist, die meinem Leben einen Rahmen gegeben haben. Das Tauchen und die Wale.
Mein Vater würde nichts sagen, wenn er von meinem Arztbesuch erführe. Nicht einmal das kann er, würde er vielleicht denken, falls sich herausstellt, dass ich zeugungsunfähig bin. Ob er überhaupt traurig wäre, dass er von dieser Seite keine Enkel erwarten kann, von dem Sohn, der ständig in Fachtermini spricht, der immer alles hinterfragen und besser wissen muss, der sich schon als Knabe immer gegen alles gewehrt hat? Von dem Sohn, der sich nach seiner Schablone zu bilden versucht hat. Vielleicht wäre es nur folgerichtig, wenn ich keine Kinder zeugen kann. Ich schaffe es ja nicht einmal, diese Tür zuzusperren. Steht die Arzthelferin noch davor? Ich höre nichts. Bald muss ich abschließen. Ich werde nicht unbegrenzt Zeit haben. Eine Stunde höchstens. Die sollte ich nicht für Selbstgespräche verwenden. Der Nächste sitzt vielleicht schon im Wartezimmer, liest ein Magazin und wartet darauf, dass ich fertig werde. Ob es einem anderen Mann leichter fällt als mir? Unwahrscheinlich. Er muss sich ebenso ausliefern wie ich, muss sein Innerstes nach außen kehren, während zur gleichen Zeit jemand die Apparaturen vorbereitet, um ebendieses Innerste umgehend zu analysieren, es unter ein Mikroskop zu tropfen und auszuzählen, wie viel davon fertil ist, wie viel von der Norm abweicht, was deformiert und schlichtweg unbrauchbar ist. Wie kann es einem da anders gehen als mir? Aber ich will nicht verallgemeinern. Nicht allen Männern muss diese Situation unangenehm sein. Mancher empfindet vielleicht keine Scham dabei, schließlich ist der Akt an sich nicht schändlich. Und mancher wird auch keine Schwierigkeit damit haben, es zu tun. Diese Männer gibt es, die einfach Dinge können, sie können Fahrzeuge steuern, schwere Gegenstände heben, Frauen erobern und sie können kommen, wann und wo sie wollen, das alles können sie und tun es auch. Der eine oder andere schließt vielleicht nicht einmal ab. Es gibt auch die, man hat auch das Bild von diesen Männern im Kopf, die mit einer solchen Situation problemlos zurechtkommen, die problemlos in der Gegenwart anderer den verlangten Akt bewältigen, die von der Gegenwart Zusehender beflügelt werden, die dabei lachen und ohne Umschweife liefern. Mir ist das nie vorstellbar gewesen, es ist mir immer undenkbar gewesen, diesen intimen Akt unter anderen, wie auf einer Bühne, aufzuführen. Der Jugendliche hat sich immer hinter eine verschlossene Tür begeben und immer darüber geschwiegen, was hinter dieser Tür passiert.
Zugegeben, manchmal beneide ich die Könner. Besonders früher, als Heranwachsender, wollte ich gerade ein solcher Mann werden. Einen anderen hat die jugendliche Vorstellung gar nicht bereitgehalten. Mein Teenager-Ich hat versucht, in die Form hineinzuwachsen, die andere Jugendliche – wie der Bruder – so mühelos angenommen haben, aber es wollte ihm nicht recht gelingen.
Irgendwann ist mir dieser vorgestellte Mann verloren gegangen, ich bin vom Weg der eingebildeten Mannwerdung abgekommen, ich habe mich in der Person eingerichtet, die ich eben war – weder besonders groß noch besonders behaart noch besonders selbstbewusst oder zielstrebig, kurzum, kein besonders männlicher Mann. Ganz ohne Planung ist das passiert, eine allmähliche Gewöhnung ist es gewesen, ein Ergebnis, zustande gekommen ohne ausgeklügelte Rechenoperationen. Unscheinbare Additionen und Subtraktionen sind es gewesen, eine simple Mengenlehre, die zur Anhäufung einer Summe geführt hat, einem Ich, mit dem sich leben ließ, ohne dass seine Aufrechterhaltung zu viel Aufwand erfordert hätte. Jetzt steht eine weitere solche Operation an. Eine kleine Menge wird abgezogen – sie misst sich in Millilitern. Dafür wird das Ergebnis umso folgenreicher sein. Falls ich hier in diesem schummrigen Raum überhaupt dazu imstande bin, das erforderliche Volumen zutage zu fördern. Mir bleibt nichts anderes übrig, als die Tür zu verschließen und es zu versuchen.