Читать книгу Helmholtz - David Cahan - Страница 20

Оглавление

In den Alpen und in Italien

Helmholtz machte sich von Zürich auf, um in der Rigi zu wandern, wo er zufällig Peter Leopold von Schrenck traf, einen Zoologen, der in Dorpat und Berlin studiert hatte, um danach in Königsberg zu promovieren. Die beiden wanderten eine Weile zusammen. Auf diesen ersten Ausflug Helmholtz’ in die Alpen folgten im Laufe seines Lebens unzählige weitere. Er war überwältigt von der Rigi und beschrieb sie Olga, besonders ihre Gletscher, in allen Einzelheiten. Die Aussicht hatte es ihm angetan, und den Sonnenuntergang fand er äußerst imposant. Ihm fehlten die Worte, um die Berg- und Gletscherlandschaft zu beschreiben und wie sich Sonne und Wasser auf sie auswirkten. Allein, er war enttäuscht, als er den Gipfel erreichte, wo er »eine große Menschenzahl, meist scheußliches Touristenpack« vorfand. Schrenck und er stiegen ab und nahmen einen Dampfer nach Luzern. Wie schon die Region Zürich beeindruckte ihn auch Luzerns Landschaft und Umgebung, er fühlte sich an Schillers Wilhelm Tell erinnert. Von Luzern aus schauten sie sich das nahe gelegene Flüelen am Vierwaldstätter See an. Den müsse sie allerdings unbedingt mit eigenen Augen sehen, so schrieb er an Olga, um seine Schönheit zu begreifen.51

Er beschrieb weiter begeistert und in allen Einzelheiten die Umgebung Berns mit ihren Berglandschaften, Tälern und Gletschern. Diese romantische Szenerie war ganz nach seinem Geschmack. Vier Tage lang hatten er und Schrenck die »wilden Gebiergsparthien bereist«. Sie besichtigten die Ortschaften, wo Tell gelebt hatte. In Realp tranken sie zwei Flaschen italienischen Wein mit einem Kapuziner-Wirt. Die Menschen im Kanton Bern kamen Helmholtz ganz anders vor als die Züricher, er sah sich gezwungen, sein früheres, voreiliges Urteil über die Schweizerinnen »vollkommen [zu] widerrufen«. Die beiden wanderten viel, oft regnete es, und er büßte Olgas Schirm ein, wofür er sie brieflich um Verzeihung bat.52

Sie wanderten nach Rosenlauibad, dessen Gletscher laut Helmholtz über »das reinste Eis von allen Schweizer Gletschern« verfügte. »Alles was man in Mährchen von Eispalästen liest, wird hier realisirt.« Sein »fehlendes Malertalent« hinderte ihn nicht an der Anfertigung einer Skizze. »Wie eine Schildkröte« kroch er mit Schrenck auf den Gipfel des Faulhorns (fast 2700 Meter über dem Meer). »Es ist der Hauptaussichtspunct für die Alpenkette, und die Aussicht wirklich ganz gewaltig großartig.« Obwohl er »ohne Rock und Hut« in die »brennendste Sonnengluth« ging, war er bei bester Gesundheit. Der Aufenthalt auf dem Gipfel des Faulhorns sei jedoch »höchst ungemüthlich« gewesen, da es kalt und windig war und er die Nacht zuvor schlecht geschlafen hatte (er hatte zu viel Kaffee getrunken, um sich zu wärmen). Die Engländerinnen, die ebenfalls in der Herberge übernachteten, schafften es nicht einmal aus ihren Zimmern. Helmholtz und Schrenck warteten begierig darauf, am nächsten Morgen wieder absteigen zu können.53

Ein Schneesturm zwang sie jedoch zum Verweilen. Also ruhten sie sich aus, spielten Schach und arbeiteten an Helmholtz’ Text zum Augenspiegel. Letzten Endes machten sie sich doch auf den Weg, weil sie nicht weiter dort festsitzen wollten. Sie liefen durch Schnee und Regen, bis sie einen Einspänner fanden, der sie nach Interlaken mitnahm. Die schöne Landschaft um Interlaken bedeutete Helmholtz weit weniger als Olgas Brief, der dort auf ihn wartete und »welcher mir erzählte, daß es ihr gut geht und daß sie mir ihr liebes Herz immer noch bewahrt«. Von seiner Frau erfuhr er Neues von Käthe, was ihn stolz machte – wenn er auch fürchtete, dass Vater und Tochter sich bei seiner Rückkehr nicht wiedererkennen würden. An jenem 31. August, seinem 30. Geburtstag, gratulierte er seiner Frau dazu [!], wie auch zu ihrem Hochzeitstag fünf Tage zuvor. Helmholtz gesteht in dem Brief, er habe das Datum nicht parat gehabt und daher nicht gefeiert, aber auch so an sie gedacht, »was für eine liebe Seele sie sei, und wie glücklich sie ihren Mann mache«.54

In Interlaken lebte er »sehr nobel«. Die meisten anderen Touristen waren Engländer, die wenig an Kontakten interessiert waren. Helmholtz speiste gut. Es gab drei Esstische, zwei für englische Gäste und einen für Deutsche. Zur deutschen Runde gehörten »ein alter Frankfurter Banquier (Jude) mit seiner gebildeten Judendame«, die Familie des estnischen Nikolai Baron von Dellingshausen und zwei alleinstehende Damen. Helmholtz stellte überrascht fest, dass Dellingshausens Sohn »eifrig schwere philosophische und physicalische Studien betrieb, und in diesem Sommer eine Schrift über speculative Physik hat drucken lassen, welche er mir verehrte, und worin einzelne ganz gute Gedanken vorkommen neben vielem Unsinn aus dem Hegelschen System«. Da es ohne Unterlass regnete, saßen die Gäste bei den Mahlzeiten länger zusammen und unterhielten sich gut. Im Gasthaus gab es ein Lesezimmer, wo Helmholtz, während die Engländer sich um den Kamin scharten, Band III von Humboldts Kosmos (1851) las, der sich um Astronomie drehte. Als er einmal einen nahe gelegenen Berg bestieg, stieß er zufällig auf die »Heil- u[nd] Erziehungsanstalt für Cretins« und besichtigte diese Einrichtung.55

Von Interlaken reisten Helmholtz und Schrenck mit dem Schiff nach Giessbach am Brienzersee, wo sie ihre Wanderung fortsetzten. In Thun kapitulierte er und kaufte einen neuen, guten Regenschirm: »Die billigeren waren zu unanständig.« Wie immer hatte er die Preise im Blick und hasste es, zu viel zu bezahlen. Die beiden Männer reisten weiter nach Kanderthal, wo der Regen sie zwang, in einem Dorfgasthof einzukehren. Sie vertrieben sich die Zeit mit Schachspielen auf einem improvisierten Brett. Am nächsten Tag war das Wetter besser, und sie nahmen den Gemmipass, der sie mehr beeindruckte als alle anderen zuvor. So gelangten sie nach Leukerbad mit seinen großen, warmen Bädern, wo die Gäste spezielle Badekleidung trugen und seltsame Dinge taten, wie zweimal am Tag vierstündige Bäder nehmen und sich dabei mit Brettspielen auf schwimmenden Tabletts vergnügen. »Es sieht höchst lächerlich aus«,56 ließ ein entspannter Helmholtz verlauten.

In Leukerbad trennten sich die Wege der beiden Männer schließlich, Helmholtz wanderte allein durch das Rhonetal weiter. Nach fünf Stunden Wanderung bemerkte er, dass er sich wundgelaufen hatte. Am Nachmittag hatte er so große Schmerzen, dass er nicht mehr gehen konnte und zu Pferde weiterreisen musste (mit einem Treiber). Sechs unangenehme Stunden lang ritten sie durch die Hügellandschaft. Am nächsten Tag bestieg er den Monte Rosa an der Grenze zwischen der Schweiz und Italien. Als Helmholtz die 4600 Meter Höhe bis zum Gipfel hinter sich gebracht hatte, war er »müde, frierend, mit nassen Stiefeln« und es schneite so heftig, dass er weder Italien noch die Schweiz zu Gesicht bekam. Wieder unten angelangt, gab es immerhin einen Umzug zu bestaunen, »wo die Frauen in den italienischen weißen Schleiern erschienen«. Dann machte er sich auf zum Lago Maggiore.57

Einen Teil des Weges nach Ceppo Morelli ritt er, aber dort angekommen hatte er genug von dem Pferd und ging zu Fuß weiter (im Regen). Zwei Tage mit je sieben Stunden Wanderung lagen vor ihm. Die Gegend sei »sehr italienisch« und die Mädchen »auffallend hübsch, aber noch deutscher Typus in Gesicht und Kleidung«. Er versuchte, sich mit den Einheimischen zu unterhalten. »Ich spreche mit größter Ungenirtheit italienisch, und finde meine Aussprache besser als die der Eingeborenen. Sie verstehen mich, und wissen nicht zu unterscheiden, ob das fremdartige meiner Aussprache nicht gerade Italienisch sei; ich verstehe sie aber ebenso wenig wie das Deutsch der Walliser.« Da er fließend Deutsch sprach, hielt man ihn für einen Schweizer. »Daß man auch in anderen Ländern das könne, ging über ihren Horizont.« Die Gegend sei »pikkatholisch«, überall an den Häuserwänden Heiligenbilder und Kruzifixe. Abends war schöne Kirchenmusik zu hören und das eindrucksvolle Läuten der Kirchenglocken – wobei er sich doch wunderte, dass sie teils untereinander verstimmt waren.58

Auf dem Weg zum Lago Maggiore passierte er Dörfer und Kirchen, die ihm »poetischer« erschienen als alles, was er in der Schweiz gesehen hatte. Die Schneemassen auf dem Land ließen ihn sprachlos zurück, »es ist der brillanteste Lichteffekt«, aber die öden Bergtäler gaben ihm nichts. Seine Reise sensibilisierte ihn für ein Wahrnehmungsproblem: »Die Massen allein imponiren höchstens einen Augenblick, und sind so fürchterlich groß, daß wir es mit unserem Augenmaaße gar nicht auffassen, sondern erst merken, wenn wir hinaufklettern.«59 Die Natur versorgte ihn mit Inspirationen für künftiges wissenschaftliches und philosophisches Nachdenken.

Mittlerweile konnte er kaum noch laufen. »Leider war die letzte Meile, eine halbfertige Chaussee mit Steinen bestreut, Gift für meine Füße.« Am Ende der Wanderung hatte er ein Loch im Stiefel und an der Stelle eine neue Blase am linken Fuß (zusätzlich zu den schon vorhandenen). Auf diesem Teil seiner Reise büßte er (kurzfristig) sein jugendliches, bourgeoises, professorales Wesen ein und ging »wie ein lahmer alter Mann«. Seit Interlaken hatte er sich nicht rasiert, seine Hände waren von der Sonne gebräunt wie Kaffee, das Haar ungeschnitten, was ihn »sehr verführerisch« aussehen ließ.60 Man sah ihm die körperliche und geistige Entspannung an. Er war wie ein moderner Tourist aus einer dunklen Stadt im Norden, der in den sonnigen Süden fährt, um braun zu werden und zu relaxen. Die Sehnsucht nach körperlicher Erneuerung, Schönheit und Freiheit zog ihn in die Sonne und in die Berge. Auf seiner Alpentour ließ er den Stress des vergangenen, intellektuell fordernden akademischen Jahrs hinter sich und konnte den Romantiker in sich herauskehren. Die Berge und Seen hauchten seinem Interesse an Naturphänomenen neues Leben ein: an Licht, Farbe, Luft, Wolken, Bergen, Schnee und Eisformationen, an den wechselnden Wetterverhältnissen, an Wasserfällen und Gletschern. Er begann, mehr über optische Illusionen und die wechselhafte Natur der Perspektive nachzudenken.

Helmholtz war von Italien ganz begeistert: » [H]ier in Italien giebt es fürchterlich viel zu erleben.« Als sich zwei Mailänder Pärchen mit einem Kutscher nicht auf den Preis für die Fahrt von Luino nach Lugano für sich und Helmholtz einigen konnten, beschlossen alle fünf kurzerhand, zu laufen. »Es war ein herrlicher Mondabend, ich ging mit; sie waren von sehr liebenswürdigen Manieren, und wir unterhielten uns so gut es mein Italienisch, und das Französisch zuließ, welches die hübschere der jungen Frauen sprach.« Später bekamen sie »einen sehr billigen Wagen«, der sie nach Lugano brachte. »Meinem Vater wünschte ich wohl, hier einmal zu spazieren, der Mann würde vor Entzücken ganz entzwei gehn.«61 Er hatte seinen tagträumenden Vater weit hinter sich zurückgelassen.

Helmholtz setzte seine Reise per Boot fort und überquerte den »sehr schönen« Luganersee nach Como, dort nahm er einen Dampfer nach Bellagio. Der traumhafte Comersee mit seinen luxuriösen Villen und Statuen erschien ihm als der »schönst[e] Sommeraufenthalt«, den man sich nur denken könne. Besonders beeindruckend fand Helmholtz die Skulpturengalerie in der Villa Carlotta mit Albert Thorvaldsens berühmtem Marmorfries Der Triumphzug Alexanders des Großen in Babylon. Aber die »Perle darunter, und überhaupt von allem neuerer Sculptur, was ich gesehen habe, ist [Antonio] Canovas Amor der die Psyche weckt [Amor und Psyche], ein Werk von der wunderbarsten Schönheit und Innigkeit.« Von der Villa Serbelloni bei Bellagio aus sah er im Sonnenuntergang die drei Teile des Sees und »fing an die Zauber Italiens zu fühlen«.62

Früh am nächsten Morgen nahm er das Dampfschiff zurück nach Como und bestieg dort einen Zug nach Mailand, »eine große prächtige Stadt mit allem Glanz u[nd] Lärm des italienischen Lebens«. Zwar hielt er den Mailänder Dom für das Highlight der Stadt, jedoch »[a]n Schönheit der Form steht er den gothischen Domen Deutschlands bei weitem nach«. Die gotischen Elemente seien hier nur »willkührliche Verzierungen«, wenn auch »geschmackvoll angewendet«. All diese Spitzsäulen, Strebebögen und Statuen »aus weißem Marmor gegen den blauen Himmel zu sehen« war ihm ein Anblick, »dessen Pracht man sich gar nicht vorstellen kann«. Zum Sonnenuntergang bestieg er mit ein paar Mitreisenden den Dom, unter ihnen ausgebreitet die »unerneßliche [sic] Ebene der Lombardei«, die Tyroler und Berner Alpen, der Monte Rosa, der Mont Blanc und die Apenninen. Sie aßen Eis – »in Italien lächerlich billig« – und gingen ins Theater, um sich die Oper Atala und das Ballett Le Corsaire anzusehen. »Ich habe zwar einzelne bessere Sänger gehört, aber noch nie ein Ensemble so schöner und so schön gebildeter Stimmen wie hier. Der Gesang war so frisch und so voll, daß es eine Freude war. Das Ballet war weniger schlecht als das Berliner, hatte aber den Vorzug, daß alles ungeheuer schnell ging.«63

In Mailand sah Helmholtz außerdem da Vincis Abendmahl und die Kunstsammlung im Palazzo di Brera. Er war enttäuscht, dass man dort gerade nur die neueren Bilder und nicht die klassische Sammlung zeigte. Zwar sei die schiere Menge der Werke beeindruckend, doch hielt er die letzte Ausstellung moderner Werke in Königsberg der im Palazzo di Brera für überlegen, die Porträts ausgenommen. »Die Bilder waren schrecklich dürftig; dagegen die Sculpturen größtentheils vortrefflich; von den alten Bildern sah man wenig schönes.«64

Am frühen Morgen des nächsten Tages setzte Helmholtz seine Reise nach Venedig fort. Unterwegs zog die fruchtbare Ebene der Lombardei mit ihren üppigen Gärten und Feldern an ihm vorbei, aber sie langweilte ihn. In Verona besichtigte er das alte Amphitheater und die Casa di Giulietta (konnte aber nicht ausmachen, welcher Julias Balkon war). »Venedig ist die Stadt der Wunder, ein lebendes Mährchen«, so Helmholtz. »Trotz allem, was man an Bildern gesehen, an Beschreibungen gehört hat, der Anblick übertrifft alles. Der Marcusplatz mit seiner Moscheenartigen bunten Kirche, zwischen den Palastreihen eingeschlossen, mit zahllosen Gaslichten, darüber der tiefblaue Mondscheinhimmel, und einige Schritte weiter das tiefblaue Meer, dazu die wogende wie zu einem Fest versammelte Menschenmenge, das ist ein unbeschreibliches Bild.« Den restlichen Tag verbrachte er mit Sightseeing und war überwältigt: »Die historischen Erinnerungen, die ungeheuren Reichthümer, welche Venedig aus der halben Erde zusammengeschleppt hat, diese Kunstschätze, welche größtentheils in voller Farbenfrische noch prangen, sind gar nicht zu übersehen.« Er entschloss sich, noch einen dritten Tag dranzuhängen, um »die hiesige Bildergallerie mit Muße durch[zu]studieren. Denn während man sich in Deutschland nur spärlich Begriffe von der italienischen Kunstblüthe machen kann, schöpft man hier aus dem vollen.« Den verbleibenden Tag und den Abend ließ er es sich mit Wein, Austern, Eis und anderen Köstlichkeiten gutgehen – kein Obst jedoch, das er generell nicht aß oder nicht essen wollte (und selbst wenn er üppig speiste, entgingen ihm nie die Preise). Am nächsten Tag wollte er mit dem Boot nach Triest weiter.65

Mitte September war es mit Olgas Geduld zu Ende: »Ich muß meinen lieben eigenen Mann bald wieder haben, denn ich fühle mich oft fremd und bange nach meiner Selbstständigkeit nach meinem zu Hause, nach Dir.« Sie sehnte sich nach ihm und danach, Zeit mit ihm und Käthe in Königsberg zu verbringen. Zudem bereiteten ihr die Löcher in seinen Schuhen und die wunden Füße Sorge. Sie hatte seine Eltern in Potsdam aufgesucht, um sie auf den neuesten Stand zu bringen, und Ferdinand ein paar Briefe aus Italien gezeigt, mit denen er nun vor anderen angab. »Er ist so stolz auf Dich daß er neulich sogar sagte, wenn Dich die Berliner Herrn wie [der Augenheilkundler Johann Christian] Jünken usw. sprechen wollten könnten sie ja zu Dir nach Potsdam kommen.« Dennoch seien alle – besonders Ferdinand und Marie – ziemlich verstimmt gewesen, dass Olga nicht früher gekommen war. Sie blieb acht Tage dort und konnte so die Wogen glätten. Olga gestand, dass es mit seiner Familie alles andere als entspannt war – besonders, wenn es um deren Ratschläge zu Käthe ging, die Fieber hatte und kränkelte. Olga fragte sich, wie Lina, die doch ständig am Kochen sei, sechs Kinder hatte großziehen können. Dennoch hielt Olga sich vor ihren Schwiegereltern zurück – »es lag alles an ihrer unglücklichen Eigenthümlichkeit« – und verzieh ihnen schließlich.66

Ihr Mann war ihr dankbar, dass sie sich beherrscht und in der heiklen Situation mit seinen Eltern diplomatisch verhalten hatte: »Daß du in Potsdam so wacker ausgehalten hast, danke ich Dir sehr, und glaube wohl, daß sie es Dir sauer genug gemacht haben.« Er fühlte sich wohl auch etwas schuldig, dass sie sich um seine Familie in Potsdam kümmern musste, während er in Venedig Gemälde und Speisen goutierte, konnte aber nicht wiederstehen, ihr ein paar Kunstwerke zu beschreiben:

Es ist hier eine Sammlung von Meisterwerken der älteren Venetianer, das Hauptwerk Tizians Himmelfahrt Maria, von der ich früher schon Kupferstiche gesehen hatte. Aber hier sind Kupferstiche noch schlechterer Ersatz, als Klavierauszüge von Symphonien, denn die unbeschreibliche Schönheit des Werks liegt in der ordentlich berauschenden Gluth der Farbe und des Lichts. Ähnliches hat[te] ich weder gesehn, noch kann man es sich vorstellen, ohne es gesehen zu haben, weil diese Art der Schönheit unsern deutschen Bildern ganz fern liegt. […] [A]ber viele haben doch immer noch einen wunderbaren Grad dieser Freudigkeit in der Farbgebung, und man begegnet einer großen Zahl der verklärtesten und idealsten Menschenköpfe, die man sich denken kann.

Bevor Helmholtz Venedig verließ, kaufte er ein Andenken für seine Frau. Abends ging er zum Markusplatz, aß ein Eis, lauschte der Musik und nahm schließlich eine Gondel zum Dampfer Richtung Triest. An Bord traf er auf keinen Geringeren als Jüngken, einen federführenden, wenn auch konservativen Augenheilkundler. Jüngken, der von Helmholtz’ Augenspiegel gehört hatte, begegnete diesem »äußerst aimable«. Helmholtz’ Erfindung hatte mittlerweile große Kreise gezogen. In Triest wollte Helmholtz Rudolph Wagner und Johannes Müller aufsuchen, aber keiner war anzutreffen. Die moderne Handelsstadt Triest und ihr Markt faszinierten ihn. Er trat die sechzehnstündige Zugfahrt nach Wien an, wo er um sechs Uhr morgens ankam, »sehr zerstoßen und lendenlahm«.67

Mit Brücke in Wien

Helmholtz machte sich in einem Gasthof frisch und suchte dann Brücke auf, der ihn freundlich empfing. Kurz darauf kam Wagner an und ungefähr einen Tag später auch Robert Bunsen, »einer der genialsten unserer Chemiker, so daß wir hier eine ganze gelehrte Gesellschaft bilden«.68 Diese glückliche Begegnung in entspanntem Umfeld mit Bunsen, der in Breslau lehrte, aber im folgenden Jahr nach Heidelberg ging, sollte sich für Helmholtz noch als äußerst nützlich erweisen. Die Sehenswürdigkeiten und Wanderungen in der Schweiz und Italien lagen hinter Helmholtz, er machte sich wieder an die Vermarktung seiner Ideen und ans Netzwerken.

Brücke hatte sehnsüchtig auf Helmholtz’ Besuch gewartet. Sie waren gute Freunde, nicht nur, weil sie beide Ärzte waren und physikalisch orientierte Physiologen, die unter Müller gelernt hatten. Dazu verband sie ein tiefes, beständiges Interesse für die wissenschaftlichen Grundlagen – also Anatomie, Physiologie und Physik –, für Gemälde (Ästhetik) und Sprache, was sie wiederum zu psychologischen und philosophischen Fragestellungen führte. Sie beide waren Gelehrte, keine Fachidioten. Brücke war Helmholtz zufolge ganz der Alte. » [S]eine Frau ist ziemlich hübsch und ebenfalls von sehr angenehmem heiterem Wesen.« Die beiden Gäste schliefen in Brückes Studierzimmer, und Helmholtz wurde gleich in die Familie mit aufgenommen. Er lernte auch Brückes Arbeitsstätte und das physiologische Institut, eine »recht hübsche Einrichtung«, sehr gut kennen, da es ohne Unterlass regnete und sie sich hauptsächlich drinnen aufhielten, um wissenschaftliche Gespräche zu führen. Helmholtz zeigte dem Freund seinen Augenspiegel, worauf der zweifelsohne schon gespannt gewartet hatte. Allzu überrascht war er indes kaum von dieser Entdeckung, schließlich hatte er 1846 selbst erfolglos an einem ähnlichen Gerät gebastelt.69

Außer Brücke traf Helmholtz noch weitere Leute. Er suchte das bekannte Wiener Allgemeine Krankenhaus auf und begab sich ins Leichenschauhaus, um sich dem dortigen Professor für pathologische Anatomie, Karl Rokitansky, vorzustellen, der an der Wiener Universität lehrte und zu den bekanntesten Medizinern der Stadt gehörte. Danach zeigte er Wagner, Bunsen und anderen seinen Augenspiegel. Später am Tag legte er Brücke seine Arbeit zur Induktion vor. Den Abend verbrachte er bei dem Philosophen Franz Karl Lott; Wagner und einige weitere Wiener Professoren waren ebenfalls dort. »Es war ein angenehmer gemüthlicher Ton, aber zuweilen gab es Reihen etwas trivialer Anekdoten.«70

Noch ein weiteres Mal besuchte er Rokitansky und begutachtete (zusammen mit anderen) seine »höchst ausgezeichnete Sammlung der pathologisch anatomischen Präparate«, darunter »die weltberühmte Sammlung der Wachspräparate«. Später machte er sich mit Brücke und Wagner auf, um »zwei berühmte Bildwerke von Canova, ein Grabmal einer Princessin [Erzherzogin Marie Christine] in der Augustinerkirche, und die Statue des Theseus im Volksgarten« zu besehen. Diese Werke hielt er für weitaus schwächer als das, was er in Italien gesehen hatte. Sie spazierten über den Stadtwall, wo es Helmholtz recht gut gefiel, und unterhielten sich ausgiebig mit Wagner. Helmholtz schrieb später an Ludwig, dass Wagner ihn um seine Einschätzung zum Zusammenhang von Körper und Seele und betreffs »andere[r] dunkle[r] Punkte der Physiologie« gebeten habe. Seiner Meinung nach könne man, zumindest nach gegenwärtigem Stand der Physiologie, nichts dazu sagen. Auf Wagner machte Helmholtz’ »ganze Persönlichkeit« auf jeden Fall »einen höchst angenehmen Eindruck«, und Brücke ging es ganz ähnlich.71

Die wissenschaftliche Szene ausgenommen, fand Helmholtz die Stadt »schrecklich langweilig und drückend geistarm«. Auch in baulicher und architektonischer Hinsicht sei sie nicht mit Berlin zu vergleichen. Die meisten Straßen seien kurz und eng, »mit vielen großen, aber äußerst geschmacklosen Kunstüberraschungen gespickt«. Überhaupt, fand er, liege alles einfach viel zu weit voneinander entfernt. Er ließ sich Giacomo Meyerbeers große Oper Le prophète und Vincenzo Bellinis Norma entgehen, weil er lieber drei Kunstgalerien besuchen wollte. Mittlerweile hatte er jedoch keine große Lust mehr auf Sehenswürdigkeiten und wünschte sich heim zu Olga: »Halt fest noch diese Woche, dann bin ich wieder bei Dir, und verlasse Dich so bald nicht mehr.« Ende September 1851 war er wieder mit ihr und Käthe in Dahlem vereint.72

Helmholtz’ achtwöchige Reise war ein Wendepunkt in seinem Leben und seiner Karriere. Seine Reiselust, die sich schon während seiner Gymnasialzeit in Form von Ausflügen in die Umgebung angedeutet hatte, zog ihn nun nach Europa. Dank des Ausbaus des Eisenbahnnetzes konnte er Kontakte mit Wissenschaftlern in der ganzen deutschsprachigen Welt knüpfen, alte Freundschaften wiederaufleben lassen und neue Freunde gewinnen, außerdem seine neurophysiologischen Erkenntnisse, seinen Augenspiegel, seine wissenschaftlichen Standpunkte und nicht zuletzt sich selbst geschickt vermarkten. Mit seinem Ophthalmoskop und seiner Rundreise im Sommer 1851 wurde er zum Leitstern der Physiologie und der Medizin. Er verschaffte sich aus erster Hand ein Bild von den physiologischen Instituten führender Universitäten und brachte, allgemeiner gesprochen, sich persönlich und die Wissenschaft international voran. Nebenbei besuchte er einige der besten Kunstgalerien und Museen Europas und mehrte seine Kenntnis der europäischen Kunst in der direkten Sinneserfahrung. In den darauffolgenden Jahren wusste er sein Netzwerk für sich zu nutzen. Helmholtz war auf dem Weg nach oben und kannte sich nicht nur mit der Wissenschaft aus, sondern auch mit wissenschaftlichem Networking.

Helmholtz

Подняться наверх