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Geleitwort

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von Nathalie von Siemens

Meine frühste Erinnerung an Hermann von Helmholtz ist die Beerdigung meiner Großmutter. Ich war sechs Jahre alt und mein Vater erklärte mir leise, an wen die anderen Grabsteine der Familiengrabstätte in Berlin-Wannsee erinnern. Die auch architektonisch überragende Figur ist die meines Ur-Urgroßvaters Hermann von Helmholtz, nach dessen Tochter, meiner Urgroßmutter, ich mit erstem Vornamen Ellen heiße. Mein Vater, selbst Physiker, ließ mich schon als kleines Kind mit für mich aufgebauten Experimenten eigene wissenschaftliche Entdeckungen machen. Über Funken und schmelzendem Draht erzählte er vom Augenspiegel, von zuckenden Froschschenkeln und dem Nachweis der Energieerhaltung. Der Name Helmholtz war verbunden mit Ehrfurcht und Staunen.

Mein Ur-Urgroßvater war neugierig auf alles, was seine Lebenswelt und -wirklichkeit ausmachte. Leidenschaftlich strebte er nach Erkenntnis. Es ging ihm darum, Wahrnehmungen in ihren kausalen Zusammenhängen zu verstehen und begrifflich zu fassen. Bloße Meinungen von selbst ernannten Autoritäten genügten ihm nicht als Referenz. Was der experimentellen Evidenz oder der mathematischen Beschreibbarkeit widersprach, lehnte er ab.

Zeitgenössische Physiologen suchten beispielsweise nach einer geheimnisvollen »Lebenskraft«, die die organische von der anorganischen Natur unterscheiden könnte. Helmholtz argumentierte, dass eine solche »Lebenskraft« allen Lebewesen die Eigenschaften eines Perpetuum mobile verleihen würde. Dessen Möglichkeit widerlegte er durch den Nachweis der Energieerhaltung, also einer Erkenntnis aus der Physik. Auch bei anderen Entdeckungen wandte er seine Kenntnisse der Physik auf die Physiologie an oder brachte umgekehrt als Mediziner und Physiologe Phänomene in Kontexte, mit denen reine Mathematiker und Physiker nicht vertraut waren. Dieses Denken in Kontexten gehört zum Kern dessen, was wir heute fächerübergreifendes Forschen nennen. Interdependenzen werden sichtbar und Korrelationen helfen, die Wirklichkeit in ihrer Komplexität zu erfassen.

Wir erleben gerade einen Epochenwandel, vergleichbar vielleicht nur mit dem, den die Menschheit im 19. Jahrhundert erfahren hat: zuvor nicht denkbare Beschleunigung, Explosion des Wissens, technologische Paradigmenwechsel, Umbrüche in den Grundlagen des Wirtschaftens, nach der industriellen nun die digitale Revolution. Wie im 19. Jahrhundert bedeutet das auch tiefgreifende gesellschaftliche Veränderungen. In nicht einmal einer Generation hat sich unsere Art, miteinander zu kommunizieren und zu arbeiten, radikal gewandelt. Wir stehen vor drängenden Fragen, geopolitischen Spannungen, globalen Auswirkungen einer Pandemie, der sichtbaren Klimakrise, einer drohenden digitalen Spaltung. Und für viel zu viele Menschen sind Frieden, Nahrung, Bildung, medizinische Grundversorgung, Einkommen durch eigene Arbeit und rechtsstaatlicher Schutz keine Selbstverständlichkeit.

Keine dieser Herausforderungen können wir losgelöst von den anderen betrachten. Lösungsangebote müssen ständig auf ihre Konsequenzen für andere Kontexte geprüft werden. Die Komplexität unserer erlebten Wirklichkeit erhöht sich immer weiter, Kausalitäten sind nicht mehr, und vor allem nicht für jeden, auf den ersten Blick erkennbar. Aber unsere Fähigkeit, als Gesellschaft mit dieser Komplexität umzugehen, wächst nicht mit. Unsicherheit und Vertrauensverlust fördern vermeintlich simple Antworten und Verschwörungsnarrative, populistisch instrumentalisierte Meinungen scheinen wissenschaftlich gesicherten Erkenntnissen den Rang abzulaufen. Das bietet aber keine Basis für ein gutes (Zusammen-)Leben.

Wie anders verhielt sich Hermann von Helmholtz zu den Umbrüchen seines Jahrhunderts! Von ihm können wir lernen, mit Komplexität umzugehen. Er hatte Lust auf alles Neue und verließ sich auf nichts anderes als auf Tatsachen. Er untersuchte die Wirklichkeit aus vielen Blickwinkeln, befasste sich mit Medizin und Physiologie, Optik und Akustik, machte grundlegende Entdeckungen in der Physik und lieferte mathematische Beschreibungen von Naturphänomenen. Er befasste sich intensiv mit Musik- und Erkenntnistheorie, leistete grundlegende Beiträge zur Theorie des Messens. Das noch unvermessene Universum an Wissen, das sich ihm auftat, begeisterte ihn. Diese Begeisterung wollte er weitergeben. Der ursprüngliche Titel seines Manuskripts Über die Erhaltung der Kraft lässt darauf schließen, dass er den Text als Erläuterung für seine geliebte Verlobte Olga geschrieben hatte. Seine Erkenntnisse vermittelte er als engagierter Lehrer und förderte mit größter Freude die eigenständigen Forschungen seiner Schüler.

Mit Wissen wollte er Nutzen stiften, nicht nur als Wissenschaftler, Arzt und Lehrer, sondern auch als Wissenschaftsmanager und Gründer. Dazu nutzte er sein großes Netzwerk, zu dem zahlreiche deutsche und internationale Forscher, Politiker und Industrielle gehörten. Gemeinsam mit seinem Freund Werner von Siemens gründete er die Physikalisch-Technische Reichsanstalt, die als erste außeruniversitäre Institution Deutschlands staatlich finanzierte naturwissenschaftliche Grundlagenforschung betrieb und diese zudem mit technischer Anwendung verband. Heute ist sie als Physikalisch-Technische Bundesanstalt weltweit bedeutend für die Wissenschaft des Messens, der Metrologie, und steht für Präzision und Objektivität in der Messtechnik für Industrie, Gesellschaft und Wissenschaft.

Das Lebenswerk von Hermann von Helmholtz ist nicht nur historisch bedeutend, sondern auch für unsere Gegenwart relevant. Eine Grundlage seiner Schaffenskraft ist eine Eigenschaft, die wir heute Resilienz nennen. Er war sich immer bewusst, dass das Ringen um Antworten harte Arbeit bedeutet, Zeit braucht und man nur selten ohne Momente der Verzweiflung ans Ziel gelangt. Er war bereit, aus Fehlern zu lernen und umzukehren, wenn sich ein Gedankengang als Sackgasse erwies. Kraft und erlösende Inspiration fand er draußen, in der Natur. Resilienz zeichnete ihn nicht nur in seiner Arbeit aus. Er war ein emotionaler Mensch, der mit persönlichen Schicksalsschlägen leben lernen musste. Seine erste Frau Olga starb früh an Tuberkulose. Zusammen mit seiner zweiten Frau Anna erlebte er den Tod des gemeinsamen Sohnes Robert, der nur 27 Jahre alt wurde. Es gibt sehr berührende Briefe von meiner Ur-Urgroßmutter über den Schmerz und die tiefe Trauer der Eltern um ihr Kind.

Trotz seiner herausragenden Leistungen ist Hermann von Helmholtz in der breiten Öffentlichkeit wenig bekannt. Noch weniger bekannt sind seine Lebensgeschichte und sein großes Verantwortungsbewusstsein, mit dem er sich als Wissenschaftler und die Wissenschaft im Dienst an der Gesellschaft sah, auch international. Wissenschaft war für ihn ein »Friedensband« zwischen den Nationen.

Anlässlich seines 200. Geburtstages erscheint nun auch auf Deutsch die Biographie von David Cahan. Ich habe diese unendlich kenntnisreiche Erzählung als Einladung gelesen, mit Hermann von Helmholtz auf die Reise zu gehen und seinen Umgang mit Komplexität in die Gegenwart zu holen. Wir können von seinem Verantwortungsbewusstsein und seiner Resilienz lernen und uns von seiner Menschlichkeit und seiner Liebe zur Natur inspirieren lassen. Wenn wir uns einfach anstecken lassen von seiner unendlichen Neugier, wäre das ein wunderbares Geburtstagsgeschenk an meinen Ur-Urgroßvater.

Es lohnt sich und Energie geht nicht verloren.

Ihre Nathalie von Siemens

Helmholtz

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