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2 Der Betrachter ist gut

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Wie gesagt: Ich möchte die Frage »Ist das gut?« nicht mehr stellen. Lassen Sie uns doch lieber fragen: Wie nehmen andere unsere Bilder wahr? Dies ist eine berechtigte Frage, da sehr viele von uns die Fotografie als Ausdrucksmittel nutzen und hoffen, dass andere dadurch die Welt auf neue Weise sehen. Sie wirft auch eine weitere Frage auf: »Spielt es überhaupt eine Rolle, wie andere dieses Foto erleben?« Aber dazu kommen wir im nächsten Kapitel.

Zunächst sollten wir zur Kenntnis nehmen, dass eine gewisse Alchemie am Werk ist, wenn unsere Bilder ein Publikum jenseits unseres eigenen Blicks finden. Das Foto, das zuvor nur ein zweidimensionales Bild war, wird zu einer Erfahrung, wenn es von anderen Menschen betrachtet oder interpretiert wird.

Diese gehören zu den vielen Milliarden Menschen auf diesem Planeten. Es ist mehr als wahrscheinlich (und ganz sicher, wenn das Foto den Weg ins Internet findet), dass viele dieser Menschen Ihnen unbekannt sein werden. Sie werden aus verschiedenen Kulturen und, wenn Ihre Arbeit eine gewisse Beständigkeit hat, aus verschiedenen Epochen stammen. Sie werden ein ganzes Leben voller Erfahrungen, Einflüsse, Erinnerungen, Vorlieben und Sichtweisen auf die Welt mitbringen. Das gilt sogar für die Menschen, die Ihnen nahestehen. Wenn Sie Ihrer Mutter, Ihren Kindern oder Nachbarn Ihre Fotos zeigen, werden Sie nie vorhersagen können, wie diese Ihre Bilder erfahren werden.

Dies ist kein Defizit der Kunst, kein Schwachpunkt Ihrer Fotografie. Es ist die Alchemie, die beginnt, wenn Ihre Intention durch Ihr Handwerk ausgedrückt und zu einem Foto wird, das von dieser einen Person interpretiert wird. Sie können beschließen, dass Ihnen diese Dynamik nicht behagt, und versuchen, sie so gut wie möglich zu kontrollieren, aber die Ergebnisse werden wahrscheinlich nicht authentisch sein und gekünstelt, plump oder konstruiert wirken. Oder Sie können das Mysterium begrüßen. Für Künstler ist es bestimmt positiv, sich mit Zwischentönen und Zweideutigkeit vertraut zu machen. Ungewissheit ist nichts Schlimmes.

Schlimm wäre es hingegen, sich mit dem Gedanken abzufinden, dass Ihre eigene Sichtweise keine Rolle spielt, weil Sie die Erfahrungen, die andere mit Ihren Fotos machen, nicht kontrollieren können – und deshalb achselzuckend sagen: »Wozu die Mühe?« Aber das bringt Sie nicht weiter, denn Ihre Sichtweise kommt in Ihrem Bild vielleicht nicht so zum Ausdruck, wie Sie es sich erhofft haben, aber sie ist dennoch wichtig für dieses Bild, für jede Entscheidung, die Sie treffen – von dem Augenblick an, in dem Sie die Kamera in die Hand nehmen, bis hin zu Ihrer Wahl von Bildausschnitt, Objektiv, Komposition und sämtlichen Einstellungen, die Ihnen zur Verfügung stehen, ganz zu schweigen von Ihren Entscheidungen bei Bildauswahl und Nachbearbeitung. Ihre Absicht oder Sichtweise ist in jedem Schritt von Bedeutung, bis Sie Ihre Fotografie oder Ihre Werke dem Publikum präsentieren, damit es diese auf seine eigene Weise erfahren kann.

Diese Erfahrung ist ein Zusammenwirken Ihrer zahlreichen Entscheidungsmöglichkeiten, des tatsächlichen fotografischen Ergebnisses und der vielen verschiedenen Menschen, die sich das Bild ansehen. Diese Kombination ist magisch oder grenzt zumindest an ein Mysterium. Und wenn nicht – dann ist sie zumindest unerforschlich, unvorhersehbar.

Warum sollen wir uns also überhaupt fragen, wie andere unsere Fotografie erleben? Und wo sollen wir anfangen, wenn wir nicht einmal wissen, wer diese anderen sind?

Im College belegte ich Beratungskurse, und vor allem eine Lektion des Seminarleiters blieb bei mir hängen: Wir sind zwar alle verschieden, aber auch alle gleich. Im Besonderen liegt das Universelle. Und auch wenn es nur wenige Übereinstimmungen gibt, haben wir viele Gemeinsamkeiten. Dies ist der Ursprung der Empathie, und Empathie ist auf jeden Fall ein kraftvoller Ausgangspunkt für die Entwicklung und Verbesserung Ihrer Fotografie.

Niemand weiß, was ein anderer Mensch denkt, auf jeden Fall nicht mit Sicherheit. Aber Sie können sich in seine Lage versetzen und fragen: »Wird jemand, der in diesem Augenblick nicht an diesem Ort anwesend ist, verstehen, was ich ihm zeigen will? Muss ich bestimmte Elemente weglassen, um das zu verdeutlichen? Muss ich bestimmte Elemente in das Bild einschließen oder sie hervorheben? Mit welchen visuellen Elementen könnte ich die Stimmung verstärken und die Szene verdeutlichen (vorausgesetzt, dass Deutlichkeit oder eine bestimmte Stimmung mir wichtig sind)?

Wie meistens in diesem Buch sind nicht die konkreten Antworten hilfreich, sondern die Fragen und die Suche nach den Möglichkeiten und jenem wunderbaren Punkt, an dem das Motiv seinen optimalen Ausdruck findet – zuerst für Sie und dann für den Betrachter des Fotos.

Der letzte Satz enthält große Worte. Ich will den gewichtigen Begriff »optimaler Ausdruck« fürs Erste beiseitelassen, stattdessen kurz auf das Konzept des Betrachters eingehen und erklären, warum wir uns meiner Ansicht nach nicht so viele Gedanken über ihn machen sollten. Die folgenden Sätze vertreten eine Theorie, also genießen Sie sie mit Vorsicht: Wenn Sie Ihr eigenes Werk schaffen, das Werk, das Sie lieben, das Werk, das dem Motiv den optimalen Ausdruck verleiht (mit der Definition werden wir uns noch beschäftigen, also bitte noch etwas Geduld) und das auch empathisch ist, dann wird es genau diejenigen Betrachter ansprechen, die auf dieses Werk reagieren. Ihre Arbeit sucht sich in gewisser Weise ihr Publikum selbst aus. Menschen, die sich nicht von Ihnen oder Ihrer Arbeit gesprochen fühlen, werden nicht zu Ihrem Publikum. Sie müssen sie bei Ihrer Arbeit deshalb nicht berücksichtigen. Sie müssen nicht versuchen zu erraten, was sie denken oder wie sie Ihr Werk interpretieren werden. Ihre Arbeit wird sie entweder ansprechen oder eben nicht. Und wenn sie sich angesprochen fühlen und damit zu der Gruppe Menschen gehören, die Ihnen durch Ihre Arbeit zuhören will, bedeutet dies gleichzeitig eine gewisse Verständnisebene, weil Sie auf derselben Wellenlänge funken. Wenn Ihr Publikum auf einer bestimmten Ebene so ist wie Sie selbst, fällt es Ihnen leichter, ein Werk zu schaffen, das bei ihm ankommt: Sie fotografieren in erster Linie für sich selbst, und – ich wiederhole mich – Ihr Publikum ist bei allen Unterschieden wie Sie selbst.

Ich frage mich also nicht, ob meine Arbeit anderen gefällt und ob sie darauf ansprechen, sondern fotografiere für mich selbst. Ich bin mein erstes Publikum. Dann stellt sich die Frage: Welche Aspekte eines Fotos sprechen uns an? Gibt es bestimmte Gestaltungstechniken, die uns interessieren? Schriftsteller verfügen über eine Vielzahl literarischer Mittel, die sie einsetzen können, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Können wir in diesem Sinne mit der Erforschung unserer fotografischen Mittel beginnen, sie uns als Werkzeuge oder Elemente der visuellen Sprache bewusst machen und sie nutzen, um unsere Motive bestmöglich auszudrücken?

Ich schrieb in meinem Buch »Die Seele der Kamera«, dass es an uns liegt, unseren Bildern Leben oder eine Seele zu verleihen, wenn sie denn eine Seele haben sollen. Tatsächlich wollte ich damit sagen, dass wir selbst die Seele der Kamera sind und dass wir uns die Rolle des Fotografen bei der Entstehung von Bildern viel stärker bewusst machen sollten. Diesen Gedanken möchte ich hier weiterführen: Wenn unsere Fotografien dem Motiv den bestmöglichen Ausdruck verleihen und den Betrachter berühren sollen, dann liegt es an uns, jedes notwendige Mittel zu nutzen, um dieses Ziel zu erreichen. In »Die Seele der Kamera« frage ich: »Welche Eigenschaften ermöglichen es dem Fotografen, ein stärkeres Bild zu schaffen?« Und in diesem Buch frage ich: »Welche Eigenschaften machen ein Foto stärker, intensiver und für den Leser besser erfahrbar? Auf welche Weise können wir das Motiv optimal zum Ausdruck bringen?«

Im zweiten Teil geht es darum, was ich mit »das Motiv optimal zum Ausdruck bringen« überhaupt meine. Und im dritten, dem wichtigsten Teil dieses Buchs, geht es um die Instrumente, die uns zur Umsetzung dieses Ausdrucks zur Verfügung stehen. Der vierte Teil rundet das Buch ab und führt alles zusammen. Aber so weit sind wir noch nicht, und bevor wir uns dorthin vortasten, müssen wir über Sie, den Fotografen, sprechen.

Sie können nicht genau wissen, wie eine Person Ihr Bild interpretieren wird – genauso wenig können Sie genau wissen, wie eine Person einen Witz auffassen oder eine Seite aus der Bibel auslegen wird. Wenn dieser einen Person (oder vielen Personen) Ihr Bild nicht gefällt, sagt das nicht unbedingt etwas darüber aus, ob Ihre Arbeit lohnenswert, wertvoll oder gar Kunst ist – genauso wenig wird Sushi als eigenständige kulinarische Kunst oder Jackson Pollocks Werk disqualifiziert, nur weil viele Menschen Sushi oder Pollocks Gemälde nicht mögen.

Es geht hier nicht um Gewissheiten, sondern um Möglichkeiten, und bis zu einem gewissen Grad müssen Sie sich dieses Mysterium immer zu eigen machen, wenn Sie Kunst schaffen – die Möglichkeit, dass Sie eventuell missverstanden, nicht gemocht oder einfach ignoriert werden, besteht. Denken Sie jedoch daran, dass es immer um neue Wege geht, die möglichen Reaktionen auf ein Foto zu verstehen, sich mit diesen Möglichkeiten auf spielerische Weise und bewusst auseinanderzusetzen, wenn Sie Kunst zunächst für sich selbst und dann für ein Publikum schaffen, das sich entschieden hat, Ihre Arbeit zu erleben, weil es zu ihr und zu Ihnen eine Verbindung aufgebaut hat.

Das Herz der Fotografie

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