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Die Nahrung, die wir wegwerfen

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Dass es, wie oben erwähnt, kaum eine nennenswerte Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Lebensmittelverschwendung in der Sozialwissenschaft gibt, ist umso überraschender, wenn man bedenkt, wie oft das Thema in öffentlichen Debatten auftaucht, bei denen es um die Themen Nahrung, Kultur und Umwelt geht. Dieses Buch möchte mit sozialwissenschaftlichen Mitteln die Prozesse analysieren, die dafür sorgen, dass wir so viele Lebensmittel wegwerfen, und zwar auf eine möglichst objektive, aber dennoch einfühlsame Art und Weise. Es ist keine Kampfschrift, und es soll auch nicht dazu dienen, zu enthüllen, wie viel Abfall wir produzieren36. Natürlich soll das nicht heißen, dass ich die Probleme herunterspielen möchte, die die Verschwendung von Lebensmitteln in sozialer und ethischer Hinsicht darstellt. Dieser Punkt führt uns aber weg von der Wissenschaft und mitten hinein in die Politik.

In einem kürzlich veröffentlichten Bericht schätzt die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen37, dass weltweit jedes Jahr ein Drittel aller zum Verzehr bestimmten Lebensmittel weggeworfen wird oder auf andere Weise verloren geht – insgesamt 1,3 Milliarden Tonnen. Diese Verluste und Abfälle beziehen sich auf die gesamte Nahrungskette: von der landwirtschaftlichen Produktion über Verarbeitung, Vertrieb und Einzelhandel bis hin zum Endverbrauch. Erst kürzlich veröffentlichte die britische Institution of Mechanical Engineers einen Bericht mit dem Titel Global Food: Waste Not, Want Not38. Darin heißt es, dass schätzungsweise 50 Prozent aller produzierten Lebensmittel nie in den Magen eines Menschen gelangen. Zahlen wie diese sind zweifellos erschreckend, doch gerade an dieser Stelle sollten wir innehalten und uns überlegen, warum uns diese Tatsache so sehr beunruhigt.

Zunächst einmal gibt es rund 870 Millionen unterernährte Menschen auf der Welt39, und dass gleichzeitig eine so immense Menge an Nahrung verschwendet wird, ist zweifellos pervers. Natürlich können wir mit den verschwendeten Lebensmitteln nicht einfach die Hungernden ernähren. Doch wie Tristram Stuart schreibt, sind die Verbindungen zwischen Nahrungsüberfluss, Lebensmittelverschwendung und Unterernährung trotz allem durchaus „real“40. Betrachten wir das Ganze ein wenig eingehender. Es ist nicht weniger pervers, dass wir momentan endliche Ressourcen (Boden, Wasser, Energie) verwenden, um Lebensmittel zu produzieren, die niemand isst. Es wäre gerechter und effizienter, diese Ressourcen zur Produktion von Lebensmitteln zu nutzen, mit denen man die Ärmsten der Armen vor dem Hungertod bewahrt. Diese Erkenntnis führt uns zur allgemeinen Frage der Ernährungssicherheit, denn es gibt ganz reale Forderungen danach, die globale Lebensmittelproduktion weiter auszubauen, um den Bedürfnissen einer wachsenden – und immer wohlhabenderen – Weltbevölkerung gerecht zu werden. Die Produktion ausreichender und nahrhafter Lebensmittel stellt eine echte Herausforderung dar, und es ist eine vollkommen logische Schlussfolgerung41, dass die Reduzierung der Lebensmittelverschwendung eine Priorität darstellen muss, wenn es darum geht, die Nahrungskette effizienter zu machen und den Druck auf die endlichen Ressourcen zu mindern.

Mit der Frage der Ernährungssicherheit gehen Bedenken hinsichtlich der Auswirkungen der weltweiten Lebensmittelproduktion und der Lebensmittelverschwendung auf die Umwelt einher. Im Moment werden die endlichen Ressourcen unseres Planeten in einem so hohen Maße beansprucht, dass die Umwelt dadurch äußerst stark belastet wird. Sobald Landfläche in landwirtschaftliche Nutzfläche umgewandelt wird, zerstört dies ein bestehendes Ökosystem. Werden Wälder abgeholzt, so geht nicht nur biologische Vielfalt verloren, sondern es werden auch noch CO2 und andere Treibhausgase freigesetzt. Diese gelangen schließlich in die Atmosphäre, wo sie wiederum zum Klimawandel beitragen. Zudem stört die Landwirtschaft die Wasserkreisläufe und beeinträchtigt die Bodenqualität. Das geht so weit, dass solche Agrarflächen (makabrerweise) nicht langfristig produktiv sind. Auch hier gilt das Argument, dass wir die Umwelt eigentlich nicht in diesem Maße zerstören müssten, um die Weltbevölkerung zu ernähren. Um noch einmal Tristram Stuart zu paraphrasieren: Wenn wir nicht so viele Lebensmittel wegwerfen, können wir einen Großteil des Drucks mindern, dem die verbleibenden Ökosysteme ausgesetzt sind, und dem Klimawandel entgegenwirken. Hinzu kommt, dass weggeworfene Lebensmittel ihrerseits zu einer unnötigen Umweltbelastung führen: Neben der CO2-Emission bei ihrer Produktion werden schädliche Treibhausgase (vor allem Methan) freigesetzt, wenn diese Lebensmittel auf einer Deponie verrotten. Man sieht: Bereits der Umweltaspekt sollte ausreichen, um sich ernsthaft mit der Frage zu beschäftigen, wie wir dafür sorgen können, dass weniger Lebensmittel weggeworfen werden. Addiert man zu dem ökologischen Aspekt noch die zuvor dargestellten sozialen Auswirkungen (ganz zu schweigen vom wirtschaftlichen Wert, der hier verloren geht), so wird deutlich, dass die Verschwendung von Lebensmitteln nichts weniger als skandalös ist. Selbst wenn es einem widerstrebt, in die Sprache der Panikmacher zu verfallen, und man nicht von einer Krise reden möchte, so kann doch niemand leugnen, dass es sich lohnt, über diesen Punkt nachzudenken: Was kann man dagegen tun, dass so viel Essen im Müll landet?

Immerhin befassen sich Regierungen und Bürger seit ein paar Jahren zunehmend mit dem Thema Lebensmittelverschwendung. Ein präziser Überblick über die aktuelle Debatte und ihre Entstehung würde den Rahmen dieser kurzen Einführung sprengen42. Doch allein die Tatsache, dass die FAO (Food and Agriculture Organization of the United Nations) sich mit dem Problem beschäftigt, signalisiert seine globale politische Bedeutung, und der Erfolg von Aktivisten wie Stuart und Bloom weist auf seine wachsende Relevanz im öffentlichen Bewusstsein hin. Darüber hinaus sollte man erwähnen, dass sich die Europäische Union intensiv mit der Lebensmittelverschwendung beschäftigt: Das EU-Parlament hat am 19. Januar 2012 die Europäische Kommission aufgefordert, das aktuelle Volumen weggeworfener Lebensmittel bis 2025 um die Hälfte zu reduzieren (Schätzungen der Europäischen Kommission zufolge werden in der EU jährlich 90 Millionen Tonnen Lebensmittel weggeworfen), und 2014 wurde sogar zum „Europäischen Jahr gegen Lebensmittelverschwendung“ ausgerufen. Die EU steht hier nicht allein da: Auch in den USA, Australien, China und vielen anderen Ländern wird man aktiv. Außerdem sollte man nicht vergessen, dass auch in weniger entwickelten Ländern viele Lebensmittel auf dem Müll landen. Dort geht es jedoch weniger um Verschwendung als vielmehr um den „Verlust“43 von Lebensmitteln nach der Ernte aufgrund mangelhafter Technologie und fehlerhafter Planung.

Ein solcher Verlust trägt natürlich nicht dasselbe Stigma moralischer Verwerflichkeit, das dem Wegwerfen von Essbarem in den Industrienationen anhaftet. Daher gilt er auch nicht so sehr als „Verbraucher-Problem“. Ich will nicht bestreiten, dass Verluste entlang der gesamten Nahrungskette interessant sind und es wert wären, eingehender untersucht zu werden. Doch dieses Buch beschäftigt sich nun einmal explizit mit den Akteuren am Ende der Nahrungskette.

Speziell geht es hier um die Verschwendung von Lebensmitteln in europäischen Haushalten, da ich hier das empirische Material gesammelt habe, das meiner Analyse zugrunde liegt. Es ist gar nicht schwer, überraschende Statistiken oder Analysen zu finden, die Haushalte und Verbraucher (im wohlhabenderen Teil der Welt) im Herzen der globalen Lebensmittelkrise verorten. Eine einflussreiche Studie des Waste and Resources Action Programme (WRAP), einer gemeinnützigen britischen Organisation, die im Jahr 2000 als Reaktion auf die EU-Deponierichtlinie von 1999 gegründet wurde und von den vier nationalen Regierungen Großbritanniens finanziert wird, gibt Aufschluss darüber, wie viele Speisen und Getränke in privaten Haushalten entsorgt werden, und setzt diese Mengen in Kontext. Den dortigen Schätzungen nach44 landeten im Jahr 2010 in britischen Haushalten 7,2 Millionen Tonnen Lebensmittel und Getränke im Müll bzw. im Ausguss, und 4,4 Millionen Tonnen davon hätten vermieden werden können. Auch hier sind die ökologischen und sozialen Folgen von Bedeutung. Zum Beispiel betragen die CO2-Emissionen, die mit der vermeidbaren Lebensmittelverschwendung im Zusammenhang stehen, 17 Millionen Tonnen. Das entspricht in etwa einem Viertel der Emissionen aller Autos auf britischen Straßen. Genauso schlimm ist, dass in ein und demselben Land so viele Lebensmittel weggeworfen werden, während immer mehr Bürger Gefahr laufen, keinen ausreichenden Zugang zu Nahrung zu haben. So berichtet der Trusell Trust, eine gemeinnützige Organisation, die das größte Netzwerk von Lebensmittelbanken in Großbritannien betreibt, dass sich die Anzahl der Lebensmittelpakete für Bedürftige binnen eines Jahres (von 2011 bis 2012) verdoppelt hat. Zusätzlich zu den sozialen und ökologischen Auswirkungen ist da aber auch noch der wirtschaftliche Verlust: Das WRAP schätzt den Wert der in Großbritannien jährlich weggeworfenen Nahrung auf umgerechnet 14,4 Mrd. Euro – das entspricht 580 Euro pro Haushalt.

Aus anderen Ländern gibt es ganz ähnliche Zahlen. Wie die Institution of Mechanical Engineers berichtet, werden in den Industriestaaten 30 bis 50 Prozent der gekauften Lebensmittel „vom Käufer“ weggeworfen. Insgesamt, so schätzt man, treten etwa 40 Prozent der Lebensmittelverschwendung in den Industrienationen gegen Ende der Nahrungskette auf – im Einzelhandel und beim Endverbraucher45. In der Bevölkerung und in der Politik gilt die Verschwendung von Lebensmitteln daher als „End-of-pipe“-Problem, mit dem Schwerpunkt auf Haushalten, Verbrauchern und öffentlicher Abfallwirtschaft46. Wie wir noch sehen werden, ist diese Sicht der Dinge zwar nicht ganz unproblematisch, aber im Moment soll es genügen festzuhalten, dass private Haushalte – vor allem auf der Nordhalbkugel der Erde – derzeit in eine geradezu skandalöse Verschwendung von Lebensmitteln verwickelt sind, wir zugleich aber noch sehr wenig darüber wissen, welche Praktiken im Haushalt dazu führen, dass Nahrung weggeworfen wird. Bulkeley und Gregson weisen darauf hin, dass sich derzeit noch eine Kluft auftut zwischen der Abfallpolitik und -forschung auf der einen Seite und denjenigen Zweigen der Wissenschaft, die sich mit der Dynamik des Haushalts und Konsumprozessen beschäftigen, auf der anderen Seite. Wenn wir die Menge der Lebensmittelabfälle in den Haushalten wirklich reduzieren wollen, dann muss sich an dieser Situation unbedingt etwas ändern. Es gibt einen großen Bedarf danach herauszufinden, was „hinter verschlossenen Türen“47 vor sich geht und man möchte nachvollziehen können, warum eigentlich so viel Nahrung im Müll landet. Es war meine Hauptmotivation, diese Wissenslücke zu schließen, und die empirischen Erhebungen durchzuführen, auf denen meine Analyse fußt.

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