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Prolog
Vom Leben (und Sterben)
unserer Nahrung

In diesem Buch geht es darum, wie und warum in einem Haushalt Lebensmittel weggeworfen werden, die eigentlich dafür gekauft wurden, dass sie jemand isst. Die Prämisse an sich ist relativ simpel: Ich möchte untersuchen, wie aus Nahrung am Ende Abfall wird. Dazu beginne ich mit einer Geschichte über Brokkoli, und diese Geschichte beginnt wiederum in einem Supermarkt. Dabei ist mein Ansatz ein anderer als z.B. der von Fischer und Benson. Diese verfolgen in ihrer ausgezeichneten Studie von 2006 die Reise des Brokkolis vom Supermarkt aus zurück bis zu den Maya-Bauern im Hochland Guatemalas. Das Ergebnis ist eine wertvolle Analyse der Globalisierung und der damit zusammenhängenden politischen und wirtschaftlichen Machtverhältnisse. Meine Reise aber führt mich in die andere Richtung: Ich folge dem Brokkoli vom Supermarkt aus in den Haushalt des Endverbrauchers – und schlussendlich in den dortigen Abfalleimer.

Brokkoli

Und so beginnt diese Geschichte in einem Supermarkt. Und mit Sadie, die mir dankenswerterweise gestattet hat, sie beim Einkaufen zu begleiten. Sadie ist Anfang 40, verheiratet, und sie hat zwei kleine Kinder. Sie und ihr Mann sind beide berufstätig und teilen sich die Arbeit in der Küche; die Einkäufe erledigt allerdings in der Regel Sadie. Wir betreten die Obst- und Gemüseabteilung des Supermarkts. Sie nimmt einen Brokkoli in die Hand und erzählt mir frank und frei, dass dieser Brokkoli möglicherweise im Müll landen wird, denn sie essen selten all das auf, was sie einkaufen. Dann legt sie den Brokkoli in ihren Einkaufswagen. Ich finde es erstaunlich, dass sie sich jetzt schon Gedanken darüber macht, dass sie dieses Lebensmittel (oder überhaupt irgendwelche Lebensmittel) später wegwerfen wird und es dennoch kauft. Ich weise sie auf diesen Widerspruch hin, und das führt zu einer Diskussion darüber, wie wichtig es ist, Brokkoli zu kaufen, da dieser doch überaus gesund sei und „etwas ist, das man essen soll“. Sadie nimmt den Brokkoli noch einmal in die Hand und sagt, schon wenn man ihn sich bloß ansehe, dann sei doch klar, dass er frisch, gesund und einfach gut für einen sei. Wie sich herausstellt, geht es ihr nicht nur um ihre eigene Gesundheit, sondern auch um die ihres Mannes und ihrer Kinder. Sie legt den Brokkoli zurück in den Wagen, und weiter geht es mit unserem Einkauf.

Drei Tage später. Ich befinde mich in Sadies Küche. Sie hat mich eingeladen, sie zu begleiten und zuzusehen, wie sie das Abendessen für ihre Familie vorbereitet. Sie dünstet etwa die Hälfte der Brokkoliröschen zusammen mit ein paar Karotten und Blumenkohl, dazu gibt es Frühkartoffeln und überbackenen Lachs mit Zitronensaft, Petersilie und einem Hauch Knoblauch. Es duftet ganz wunderbar. Der Rest der Brokkoliröschen wird – genau wie etwa die gleiche Menge an Blumenkohl und der Rest der Karotten – in Plastikfolie verpackt und wandert zurück in den Kühlschrank. Eine Bemerkung am Rande: Sadie nimmt den Stiel des Brokkolis, obwohl er essbar ist, nicht als Nahrung wahr. Hier ist also kein Verständnis dafür vorhanden, dass sie ein Lebensmittel wegwirft. Damit geht es ihr übrigens wie den meisten Menschen.

Eine Woche darauf befinde ich mich wieder in Sadies Küche. Wir kommen direkt vom Supermarkt, und sie verstaut die gerade gekauften Lebensmittel. Dazu muss sie ein wenig Platz im Kühlschrank schaffen. Sie räumt einiges um, aber ein paar Dinge werden auch weggeworfen. Den von letzter Woche übriggebliebenen Brokkoli hat inzwischen niemand gegessen. Er sieht jetzt nicht mehr ganz so frisch, verlockend und gesund aus wie im Supermarkt, sondern eher etwas schlaff und weich, und er scheint sich auch ein wenig verfärbt zu haben. Das Resultat: Er fällt dem Aussortieren zum Opfer und landet im Abfalleimer, was, wie wir noch sehen werden, höchstwahrscheinlich bedeutet, dass er auf der Müllkippe endet.

So wird aus etwas, das noch vor Kurzem als Lebensmittel galt, Abfall, und zwar effektiv zu dem Zeitpunkt, als ein neues, frischeres Pendant gekauft wurde. Sie denken nun vielleicht: „Warum hat sie denn dann überhaupt einen neuen Brokkoli gekauft?“ Wie wir noch sehen werden, gibt es diverse Gründe dafür. Vor allem aber ist die Versorgung der Familie1 für Sadie dermaßen zur Routine geworden – und mit einer ganzen Reihe anderer Zwänge verflochten –, dass bewusste und „rationale“ Überlegungen für sie dabei nur noch selten eine Rolle spielen. Im Moment wollen wir uns aber darauf konzentrieren, dass es hier ganz eindeutig um einen Prozess des physischen Verfalls geht; mit der sozialen Komponente2 werden wir uns später beschäftigen.

Wir sollten an dieser Stelle festhalten, dass alle Lebensmittel ein „physisches Leben“ haben, das sich nach und nach auflöst und – um zum Thema dieses Buches zurückzukommen – mit dem „Tod“ endet. Aller Wahrscheinlichkeit nach war bereits zu dem Zeitpunkt, als der Brokkoli in Folie eingewickelt wurde und zurück in den Kühlschrank wanderte, klar, dass niemand ihn mehr essen würde, auch wenn sein Schicksal offiziell erst später besiegelt wurde. Doch dadurch, dass er noch eine Weile aufbewahrt wurde, konnten Prozesse physischen Verfalls eintreten, die den alten Brokkoli schließlich so aussehen ließen, als sei er für den Verzehr ungeeignet – oder zumindest weniger geeignet als ein neuer und frischer. Und dies wiederum hilft, ihn in die Kategorie Abfall einzuordnen und den Akt des Fortwerfens zu legitimieren. In Wahrheit war der Brokkoli eigentlich noch gar nicht an dem Punkt angelangt, an dem man ihn nicht mehr hätte essen können. Es hätte allerdings die Zukunft des „guten“ Brokkolis gefährdet, ihn zu retten.

Natürlich hätte jemand diesen Rest essen können zwischen dem Zeitpunkt, an dem der Rest vom Brokkoli im Kühlschrank platziert wurde, und dem Zeitpunkt, an dem er im Abfalleimer landete. Dafür, dass dies keiner getan hat, gibt es mehrere gute und nachvollziehbare Gründe. Zum Beispiel essen Sadies Kinder Brokkoli ausschließlich in Kombination mit überbackenem Lachs, und den will sie nicht öfter als einmal pro Woche zubereiten, damit es für die Kinder nicht langweilig wird und sie sich am Ende generell weigern, Brokkoli zu essen. Hinzu kommt, dass Sadie Brokkoli gerne in einer kleineren Menge kaufen würde, doch das geht nicht, denn der Supermarkt verkauft nur ganze Köpfe Brokkoli. Man könnte natürlich einwenden, dass sie dann vielleicht nicht Brokkoli und Karotten und Blumenkohl hätte kaufen sollen, sondern nur eines der Gemüse, damit sie später weniger hätte wegwerfen müssen. Oder dass es dann doch sinnvoller wäre, Tiefkühlgemüse zu kaufen, da es nicht so schnell verdirbt. Das ist sicherlich alles richtig. Aber die Konvention diktiert, dass Sadie „richtig“ isst und kocht, und darunter versteht man nun einmal meistens, dass man verschiedene und vor allem frische Zutaten verwendet. Ich lege das alles deshalb so ausführlich dar, weil ich die Prozesse herausarbeiten möchte, durch die Lebensmittel zu Abfall werden. Man kann dies nicht einfach auf die Tatsache zurückführen, dass die Menschen unverantwortliche Entscheidungen treffen, weil sie sich keine Gedanken über die Folgen ihres Tuns machen. Tatsächlich möchte ich behaupten (und im Folgenden auch belegen), dass sich die Gründe dafür, dass Lebensmittel weggeworfen werden, selten auf die einzelnen Haushalte reduzieren lassen – geschweige denn auf einzelne Personen.

Litschi oder Mango?

Als Nächstes soll es um einen Tetrapak mit Litschi-Nektar gehen, und auch diese Geschichte beginnt im Supermarkt. Dieses Mal jedoch verfolge ich die Reise des Saftkartons in meine eigene Küche – und dort am Ende in den Ausguss. Ich muss gestehen, dass ich ein paar Vorbehalte hatte, hier im Prolog aus meinem eigenen Alltag zu berichten, wenn ich den wertvollen Platz stattdessen dafür nutzen könnte, ein weiteres Beispiel aus meiner Feldforschung zu bringen. Sicherlich ist es im Prinzip immer besser, empirisches Material vorzustellen, als sich auf eine Nabelschau zu verlegen. Aber als Sozialwissenschaftler muss man hin und wieder der Tendenz entgegenwirken, sich selbst als jemanden zu betrachten, auf den die Phänomene, die er beschreibt, gar nicht zutreffen. Das gilt auch und gerade für Ethnologen und hier vor allem für diejenigen, die über ihre eigene Heimat (oder sogar ihren eigenen Haushalt) forschen, und zwar auch und gerade dann, wenn es um ein so moralisch aufgeladenes Thema wie die Verschwendung von Lebensmitteln geht. Wenn ich also aus meinem eigenen Leben erzähle, dann deshalb, weil mir bewusst ist, dass ich selbst nicht gefeit bin gegen die Prozesse und Praktiken, um die es auf den folgenden Seiten geht.

Ich habe den erwähnten Tetrapak mit Saft nicht aus ähnlich ehrenwerten Gründen gekauft wie Sadie ihren Brokkoli, weil mir also meine Gesundheit am Herzen liegt oder die meiner Familie. Ich habe ihn aus Versehen gekauft. Eigentlich wollte ich nämlich den Mango-Nektar kaufen, den ich ein paar Wochen zuvor beim Mittagessen in einem indischen Imbiss getrunken hatte. Doch so viel Zeit ich im Rahmen meiner Feldforschung auch in Supermärkten verbringe: Wenn ich für mich selbst einkaufe, will ich den Laden so schnell wie nur irgend möglich wieder verlassen. Diesmal griff ich also in meiner Hetze nach einem Litschi- statt einem Mango-Nektar. Dass ich den falschen Saft gekauft hatte, merkte ich eigentlich erst ein paar Tage später, und leider schmeckte mir der Litschi-Saft überhaupt nicht. Ich versuchte ihn an Freunde und Kollegen weiterzuverschenken. Doch wie wir später noch sehen werden, ist es in unserem Kulturkreis ziemlich schwierig, Essen und Trinken zu verschenken oder weiterzugeben. Also stellte ich den Saftkarton in den Kühlschrank, nach dem Motto „Aus den Augen, aus dem Sinn“. In dem Moment, da ich das tat, sagte ich mir noch, ich könnte ja vielleicht eine Bowle damit machen, wenn es draußen etwas wärmer würde, aber daraus wurde nichts. So ganz vergessen konnte ich den Litschi-Nektar aber auch nicht, und es machte mir immer mehr zu schaffen, dass er da war, ich aber nichts damit anstellen konnte. Und als schließlich der Zeitpunkt gekommen war, wo ich wieder einmal im Kühlschrank und Gefrierschrank „aufräumte“, schüttete ich ihn in den Ausguss (er war weder sauer geworden noch verschimmelt) und beruhigte mein Gewissen mit der Feststellung, dass ich zumindest die Verpackung, den Tetrapak, umweltfreundlich entsorgen würde.

Sie sehen: Auch ich werfe Lebensmittel fort, und wie die meisten Menschen habe ich dabei durchaus auch Gewissensbisse. Ich erzähle Ihnen das alles, weil ich im Voraus klären möchte, dass es mir hier und in den folgenden Kapiteln nicht darum geht, irgendwen an den Pranger zu stellen. Stattdessen soll dieses Buch der aktuellen Tendenz entgegenwirken, die Dinge schwarz zu malen bzw. die Moralkeule zu schwingen. Allzu oft wird momentan auf die wachsenden Müllberge hingewiesen, um von dort aus Rückschlüsse darauf zu ziehen, was in den einzelnen Haushalten vor sich geht und warum die Menschen so verschwenderisch mit ihrem Essen umgehen. Ich bestreite überhaupt nicht, dass die schiere Menge der heutzutage weggeworfenen Lebensmittel auf mehreren Ebenen äußerst problematisch ist. Schließlich war es ja nicht nur intellektuelle Neugier, die mich dazu veranlasst hat, auf diesem Gebiet zu forschen. Doch es liegt mir fern, Erklärungen (oder sogar bloße Annahmen) zu akzeptieren, die die ganze Problematik auf das individuelle Konsumverhalten und/oder die Dekadenz von Leuten reduzieren wollen, denen es egal ist, woher ihre Nahrung kommt, was sie wert ist und wie man korrekt mit ihr umgeht. Stattdessen werde ich aufzeigen, dass der Übergang von Nahrung zu Abfall eine mehr oder weniger banale Folge der Art und Weise ist, wie wir heute unseren Alltag und unser häusliches Leben verbringen. Auch spielen verschiedene Faktoren, die bestimmen, wie wir unsere Nahrungsaufnahme organisieren, eine Rolle.

Aber bis ich dahin gelange und die beiden Geschichten, die ich gerade erzählt habe, wissenschaftlich unterfüttern kann, ist noch einiges zu tun. Also blättern Sie bitte um, und lesen Sie weiter.

Verschwendung

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