Читать книгу Die Clans der Wildnis - Amisha - Delia Golz - Страница 4
KAPITEL 2
ОглавлениеZuerst schwelge ich noch eine Weile im friedlichen Halbschlaf, bis ich alarmiert die Augen aufschlage, als mir wieder das Leopardenjunge einfällt. Ängstlich streiche ich über sein Fell und hoffe, Luan noch atmen zu sehen. Ich seufze erleichtert, als er seine goldenen Augen aufschlägt und mich verschlafen anblinzelt. »Du hast überlebt«, sage ich glücklich und kann im nächsten Moment wieder die vertraute Kraft spüren, die von ihm ausgeht.
Voller Energie springe ich auf und suche eine Schüssel mit Wasser sowie einen Brocken Fleisch zusammen. Luan macht sich sofort hungrig darüber her, auch wenn er noch immer Probleme hat, sich auf den Beinen zu halten.
Kurze Zeit später gesellen sich auch meine Eltern zu uns und sind genau so glücklich wie ich, dass Luan überlebt hat.
»Da wird der Clan sehr neidisch sein«, sage ich heiter. »Es kommt sicherlich nicht oft vor, dass jemand einen Leoparden bei sich zuhause hat.«
»Sobald er gesund ist, lassen wir ihn aber wieder frei«, erwidert meine Mutter mahnend. »Wir haben kein Recht, ihn der Natur zu entreißen.« »Das weiß ich doch«, sage ich gut gelaunt.
Obwohl ich nicht im Clanlager aufgewachsen bin, habe ich die gleiche Erziehung wie alle anderen Kinder genossen. Wie sie habe ich am Unterricht teilgenommen, bei dem uns die Ansichten der Clans erklärt wurde. Wenn ich eines Tages einen Gefährten gefunden habe, der anders als ich reinblütig ist, werde auch ich in das Hauptlager ziehen können.
Auch wenn niemand vergessen wird, dass mein Vater aus der Stadt stammt. Ich weiß, dass er insgeheim ein schlechtes Gewissen hat, dass meine Mutter und ich wegen ihm in dem abgelegenen Dorf leben müssen. Vermutlich tut es ihm sogar leid, dass ich vom Aussehen her nach ihm komme, auch wenn er stetig betont, dass ich den Stadtmenschen in keinster Weise ähnlich bin.
Manchmal frage ich mich, wie es wohl wäre, die Familie meines Vaters dort zu besuchen und überlege, ob sie mich überhaupt kennenlernen wollen würden. Doch wenn ich an die Erzählungen über dieses hektische, unpersönliche Leben dort denke, verwerfe ich die Gedanken sofort wieder.
Ich kann mir nichts Schöneres vorstellen, als die endlosen Weiten der Natur und dieses friedliche Gefühl, mit ihr verbunden zu sein. Ich weiß, dass ich hierhergehöre, auch wenn ich das dem Clan noch beweisen muss.
Schon als kleines Kind habe ich davon geträumt, eine angesehene Kriegerin zu werden und war umso enttäuschter, als meine Mutter mir erklärt hat, dass dies nicht möglich sein wird.
Dennoch gebe ich die Hoffnung nicht auf und versuche immer wieder zu beweisen, dass ich mutig genug bin, um den Kriegern ebenbürtig zu sein. Leider gerate ich dadurch immer wieder in Auseinandersetzungen, wie neulich mit Ashok. Er verhält sich, als würde er selbst der Anführer sein. Dabei gibt es kein Ge-burtsrecht, dass er eines Tages diesen Titel tragen wird, denn als Nachfolger kommen nur Clanmitglieder infrage, die sich durch Weisheit, Mut und gute Absichten bewährt haben. Alles Eigenschaften, die auf Ashok nicht zutreffen.
Ein Zwicken an meiner Hand reißt mich aus meinen Tagträumen und ich muss lachen, als ich in Luans vorwurfsvollen Augen blicke.
»Magst du es etwa nicht, wenn ich dir keine Aufmerksamkeit schenke?« Ich stupse ihm spielerisch gegen die Nase, woraufhin er ein protestierendes Miauen von sich gibt.
Ich zucke zusammen, als jemand laut an unsere Tür häm-mert und seufze, als ich die Stimme von Sina, einem Mädchen aus unserer Nachbarschaft, höre.
»Amisha, bist du da? Hast du Lust, mit mir zum Clanlager zu gehen?« Mein Vater wirft mir einen mahnenden Blick zu, also stehe ich widerwillig auf und öffne die Tür.
Sina blickt mich strahlend durch ihre dunkelbraunen Augen an und ich zwinge mich zu einem Lächeln. »Eigentlich habe ich gerade zu tun.«
»Nein, geh ruhig!«, ruft mein Vater von der anderen Seite des Raumes und ich schaffe es gerade noch, ein erneutes Seufzen zu unterdrücken.
»Na gut.« Ich werfe einen letzten Blick zu Luan, ehe ich in meine ledernen Stiefel und in mein ebenfalls ledernes Wams schlüpfe. Meine Wurfmesser stecke ich unauffällig ein, auch wenn ich weiß, dass meine Eltern dagegen sind. In unserem Clan ist es eher üblich, mit Pfeil und Bogen oder einem Speer zu schießen. Mein Vater erwähnte sogar einmal, dass Wurfmesser eine beliebte Waffe vom Clan der Dämonenpferde wären, was ich jedoch stets verdränge. »Dann mal los«, sage ich kaum hörbar und gehe neben Sina her, die nur wenig jünger ist als ich.
Dennoch finde ich sie viel zu naiv und kindisch und versuche darum meist, ihr aus dem Weg zu gehen. Da meine Eltern jedoch gut mit ihrem Vater Eduardo befreundet sind, komme ich meistens nicht drum herum, mit ihr Zeit zu verbringen.
»Ich habe gehört, dass die Vorbereitungen für das nächste Treffen der Räte im vollen Gange ist«, beginnt sie mit ihrer hellen Stimme zu erzählen.
Interessiert horche ich auf. »Es findet diesmal in unserem Lager statt? Müsste es nicht sogar schon morgen soweit sein?«
Sina nickt eifrig, wodurch die bunten Perlen in ihren dunklen Haaren zu klimpern beginnen. Ich konnte mit diesem Schmuck nie etwas anfangen und in meinen hellen Haaren sehen sie ohnehin lächerlich aus.
»Vielleicht können wir uns mit den Leuten aus den anderen Clans unterhalten«, sage ich begeistert. »Schließlich nehmen die Ratsmitglieder auch einige ihrer Krieger mit.«
»Das könnte gut sein«, erwidert Sina mit träumerischer Stimme. »Ob da auch Jungs in unserem Alter dabei sind?«
Ich verdrehe innerlich die Augen. »Mach dir da lieber keine zu großen Hoffnungen.«
»Ach ja, ehe ich es vergessen…«, beginnt das Mädchen nachdenklich. »Als ich vor eurer Hütte stand, überkam mich dieses besondere kraftvolle Gefühl. Du weißt schon, wie dieses Gefühl, wenn sich ein Leopard in der Nähe befindet. Kannst du dir das erklären?«
»Ich weiß nicht, was du meinst«, sage ich unschuldig. Aus irgendeinem Grund möchte ich die Sache mit Luan noch geheim halten, auch wenn sicherlich schon bald noch mehr Leute unseres Dorfes darauf aufmerksam werden.
Mit federnden Schritten nehmen wir eine Abkürzung über einen schmalen Trampelpfad und haben schon bald den Rand des Hauptlagers erreicht.
Tatsächlich herrscht hier ein wildes Treiben. Unzählige Lebensmittel werden in die Vorratskammer gebracht und die Gästezelte hergerichtet. Aus dem Wald kommen Krieger mit drei erlegten Wildschweinen und die Kinder folgen ihnen mit stau-nenden Augen. Sicherlich träumen auch sie davon, eines Tages ein angesehener Krieger oder sogar Anführer zu werden.
Eine Welle von Neid überrollt mich und ich wende mich schnell von dieser Szene ab. Die Kinder wissen nicht, was für ein Glück sie haben, denn ihre Träume könnten in Erfüllung gehen.
Als ich Nevya zwischen den vielen Gesichtern sehe, laufe ich dankbar auf sie zu.
»Na, bist du auch schon mit den Vorbereitungen beschäftigt?«, frage ich mit einer aufgesetzten Fröhlichkeit.
Die Augen meiner Freundin beginnen zu strahlen. »Du glaubst gar nicht, was mein Vater mir eben erzählt hat. Ich darf dieses Jahr bei dem Treffen der Räte dabei sein!«
»Das ist ja wundervoll«, sage ich mit hohler Stimme. Sofort hat mich meine schlechte Laune wieder eingeholt.
Nevya ist die Tochter des Schamanen und wird eines Tages seinen Platz einnehmen. Dadurch wird dann auch sie ein Mitglied des Rates sein, was wohl der Grund dafür ist, dass sie beim nächsten Treffen dabei sein wird. Ich werfe ihr einen verstohle-nen Seitenblick zu. Wie ich, hat auch sie nicht das typische Aussehen vom Clan des schnellen Leoparden. Ihre Haut und Haare sind heller und ihre Augen leuchten in einem satten Grün. Allerdings stammt ihre Mutter vom Clan des weißen Hirschen, also wird sich über Nevyas Aussehen nicht lustig gemacht. Zudem wird ihr wegen ihrem Status als angehende Schamanin großer Respekt entgegengebracht. Ich kann von Glück reden, dass Nevya sich mit mir angefreundet hat, denn dadurch sind die Hänseleien etwas weniger geworden, auch wenn der Preis dafür ist, dass ich völlig in ihrem Schatten stehe.
Doch es macht mir nichts aus, unsichtbar zu sein, solange ich dafür meine Ruhe habe. Nur gelegentlich breche ich aus diesem Dasein aus und begehe solche Dummheiten wie die Prügelei mit Ashok.
Im nächsten Moment sehe ich ihn auch schon wieder und verstecke mich schnell zwischen den Zelten, um nicht wieder von ihm angesprochen zu werden.
»Da bist du ja«, höre ich Sinas nervige Stimme und schließe für einen Moment die Augen. Am liebsten würde ich in den Wald flüchten, wo ich meine Ruhe habe, doch ich weiß, dass ich bei den Vorbereitungen mithelfen sollte.
»Ich gehe auf die Jagd«, sage ich darum schnell. »Und womit?«, fragt das Mädchen mit schiefgelegtem Kopf. »Du hast doch gar keine Waffen dabei.«
Ich muss mich beherrschen, um sie nicht anzublaffen und deute stumm auf meine Wurfmesser. Sofort wird Sinas Blick abweisend und obwohl ich froh bin, dass ich endlich meine
Ruhe vor ihr habe, versetzt es mir einen Stich. »Dann viel Erfolg«, sagt sie hochnäsig und geht mit energischen Schritten davon.
Dann scheint sie es sich jedoch anders zu überlegen und dreht sich nochmal um. »Du solltest dich nicht wundern, dass über dich geredet wird. Vielleicht solltest du dir mal mehr Mühe geben, dich anzupassen.« Sprachlos blicke ich ihr hinterher und balle die Hände zu Fäusten. Dann stapfe ich davon und ignoriere die fragenden Blicke der Clanmitglieder, als ich tränenüberströmt in den Wald laufe.
Ich höre erst auf zu rennen, als ich mich am Rande der Steppe befinde. Frustriert atme ich aus und lasse mich erschöpft zu Boden sinken. Ich beschließe, mich den ganzen Tag nicht mehr im Hauptlager und auch nicht mehr zuhause blickenzulassen.
Dann fällt mir jedoch Luan wieder ein. Ich habe die Verantwortung für ihn übernommen, also werde ich es nicht meinen Eltern überlassen, ihn zu pflegen.
Nachdenklich blicke ich auf die Wurfmesser, die ich vor Jahren einem Händler abgekauft habe, als ich weit vom Lager entfernt auf der Jagd war. Eigentlich sollte es mir egal sein, was Sina über mich denkt, doch allmählich bin ich es leid.
Als ich am Horizont plötzlich etwas entdecke, schirme ich überrascht die Augen mit der Hand ab. Dann erkenne ich, dass es sich um Menschen handeln muss, und zwar um eine großen Anzahl. Zuerst habe ich Angst vor einem Überfall, bis mir klar wird, dass es sich um die erwarteten Ratsmitglieder und Krieger aus den anderen Clans handeln muss. Aufgeregt laufe ich zurück in den Wald, denn ich will nicht in die unangenehme
Situation gelangen, ihnen mit vom Weinen gerötetem Gesicht und schmutzigen Klamotten zu begegnen. Dann kommt mir der Gedanke, mir ein Versteck zu suchen und sie von da aus zu beobachten.
Hektisch blicke ich mich um und entdecke einen hohlen Baum, in den ich mich hineinzwänge. Es dauert lange, bis ich endlich die fernen, heiteren Stimmen vernehme. Neugierig presse ich mein Auge gegen ein schmales Loch und sehe die Gruppe von weitem auf mich zukommen. Schon auf dem ersten Blick bemerke ich, dass es sich um die Mitglieder vom Clan des großen Adlers handeln muss, denn die dunklen Haare und blassen Gesichter deuten sofort darauf hin.
Plötzlich kommt mir wieder der Fremde in den Sinn, der mir vor wenigen Tagen geholfen hat. Sicherlich war er ein Krieger vom Clan des großen Adlers. Ob er wohl auch bei diesen Leuten hier dabei ist? Als die Gruppe wenige Schritte von dem hohlen Baum entfernt vorbeigeht, kann ich ihn jedoch nicht unter ihnen entdecken. Allerdings fällt es mir schwer, aus dieser Entfernung Einzelheiten zu erkennen und zudem war es in jener Nacht so dunkel, dass ich das Gesicht des Unbekannten nicht richtig sehen konnte.
Ich beschließe, meinen Vorsatz zu brechen und doch in das Lager zurückzugehen, um die Krieger näher in Augenschein zu nehmen. Lautlos klettere ich aus meinem Versteck und warte, bis die Stimmen sich weit genug entfernt haben, um ihnen unauffällig zu folgen.
Im Lager angekommen kann ich zuerst niemanden entdecken, doch während ich erneut an den Zelten aus bunten Stoffen vorbeigehe, vernehme ich aufgeregtes Stimmengewirr, welches offensichtlich vom Lagerfeuerpatz kommt. Es scheint mir, als hätte sich der ganze Clan hier versammelt, denn auf dem Platz herrscht ein dichtes Gedränge.
Plötzlich ist die Menge ruhig und ich höre die kräftige Stimme unserer Anführerin. »Seid gegrüßt, Mitglieder vom Clan des großen Adlers. Wir haben euch Zelte hergerichtet, die ihr nun beziehen dürft. Die restlichen Clans werden hier im Laufe des Tages eintreffen. Genießt euren Aufenthalt in unserem Lager.«
Ich höre zustimmendes Gemurmel und plötzlich merke ich, dass die Menge eine Gasse bildet. Schnell mache auch ich einen Schritt zurück und beobachte mit großen Augen die stattlichen Krieger, welche die Räte flankieren, die sich teilweise schon in einem hohen Alter befinden.
An der Spitze geht mit aufrechtem Gang der Anführer, der freundlich in die Menge blickt. Plötzlich fällt sein Blick auf mich und ich könnte schwören, dass er mich einen Moment länger anschaut als die anderen. Dann schweift sein Blick jedoch weiter und so konzentriere ich mich wieder auf die Krieger.
Tatsächlich kann ich den mysteriösen Unbekannten nicht unter ihnen ausmachen, doch das ist auch nicht verwunderlich.
Nur eine kleine Anzahl der Krieger hat die Ehre, die Räte zu den Treffen zu begleiten, die einmal in jeder Jahreszeit stattfinden. Zurzeit ist Winter, doch davon bekommt man in unserem Revier wenig mit. Nur an den dicken Bündeln unserer Besucher kann man erkennen, dass sie noch vor kurzem dicke Pelze und Stiefel getragen haben.
Ich war erst einmal in ihrem Revier, aber kann mich noch lebhaft daran erinnern, wie fasziniert ich von den hohen, schneebedeckten Bergen war und wie sehr ich den Clan des großen Adlers darum beneidet habe. »Da bist du ja«, höre ich Nevyas Stimme neben mir. »Ich habe mitbekommen, was Sina zu dir gesagt hat. Hör nicht auf sie, ich finde du bist gut, so wie du bist.«
Dankbar lächle ich meine Freundin an. Obwohl sie durch ihren Rang hohes Ansehen genießt, spielt sie sich nie als etwas Besseres auf. Sie begegnet mir stets auf Augenhöhe und gibt mir das Gefühl, dazu zu gehören. »Die Krieger sehen wirklich gut aus«, wechselt meine Freundin mit schwärmerischer Stimme das Thema. »Ja, ich habe sogar welche gesehen, die in unserem Alter sind«, füge ich mit einem leichten Lächeln hinzu. Ein solches Gespräch wird mich sicherlich ablenken.
Wir beschließen, uns unauffällig in der Nähe der Gastzelte aufzuhalten, doch wir bemerken schnell, dass wir nicht die einzigen sind, die auf diese Idee gekommen sind.
»Dann lass uns lieber woanders hingehen«, sagt Nevya mit enttäuschter Stimme und zieht mich an der Hand mit sich. »Ich wollte dir ohnehin noch etwas zeigen.«
Als wir auf eine Lichtung gelangen, die sonst als Übungsplatz für den Waffengebrauch genutzt wird, holt meine Freundin ein paar Edelsteine mit eingravierten Runen aus ihrer Gürteltasche.
»Schau, diesen Trick hat mein Vater mir gestern beigebracht.«
Sie schließt ihre Augen und nach kurzer Zeit dringen hellrosa Lichtstrahlen aus der Handfläche, in der sie die Edelsteine hält.
Plötzlich fangen sie an, langsam in die Höhe zu schweben und ich halte fasziniert die Luft an. Dann erlöschen die Strahlen jedoch wieder und damit fallen auch die Steine in Nevyas Hand zurück. Obwohl sie angestrengt keucht, strahlen ihre Augen.
»Das ist ja wundervoll!«, rufe ich begeistert. Bisher hat meine Freundin immer große Schwierigkeiten damit gehabt, Magie auszuüben. Insgeheim habe ich mir schon häufig Sorgen gemacht, dass sie der Stellung als Schamanin nie gewachsen sein wird.
»Vater sagt, dass wir bald damit beginnen können, einfache Heilzauber durchzuführen.« Auf ihren Lippen erscheint ein unsicheres Lächeln und ich weiß, dass sie das gleiche gefürchtet hat, wie ich. »Bald wirst du sicherlich eine mächtige Schamanin sein«, sage ich überzeugt und versuche, meine Sorge zu verdrängen. »Und jetzt bin ich an der Reihe, dir etwas zu zeigen.
Ich habe nämlich auch ein wenig geübt.« Mit einer eleganten Bewegung zücke ich eines meiner Wurfmesser und nehme die Schneide zwischen die Finger. Dann fixiere ich eine der Ziel-scheiben, die normalerweise für das Bogenschießen gedacht sind, und lasse dann das Messer darauf schnellen.
Nevya klatscht begeistert in die Hände und ich bemerke zufrieden, dass ich genau in die Mitte getroffen habe.
»Ich kann mich noch genau an die Zeit erinnern, als du jedes Mal dein Ziel verfehlt hast«, sagt sie glucksend. »Wer hätte gedacht, wie treffsicher du mal sein wirst?«
Wir lachen unbeschwert und albern ein wenig herum. Dann halten wir jedoch inne, als wir jemandem hinter einem Baum hervorkommen sehen. Es ist ein großer, dunkelhaariger Mann, den ich unter den Kriegern vom Clan des großen Adlers gesehen habe. Als er näherkommt, entdecke ich eine Narbe, die seine linke Augenbraue spaltet.
»Sehr beachtlich«, sagt er mit einer angenehm dunklen Stimme und schaut dann Nevya an. »Und auch deine magischen
Fähigkeiten sind nicht schlecht. Du bist vermutlich die Tochter des Schamanen?« Nevya nickt und ich muss ein Lachen verkneifen, als ich sehe, wie rot sie wird. Als er sich jedoch zu mir umdreht, bleibt es mir im Halse stecken.
»Sehr ungewöhnlich, dass du mit Wurfmessern umgehen kannst. Einst waren sie eine beliebte Waffe beim Clan des großen Adlers.« »Ich weiß«, sage ich mit heiserer Stimme.
Und ich weiß auch, dass sie bald schon verpönt waren, als Morigan mit eben dieser Waffe viele seiner ehemaligen Clankameraden umbrachte. »Mit anderen Waffen konnte ich nie richtig umgehen«, füge ich verteidigend hinzu. »Ich habe nichts dagegen einzuwenden«, sagt der Mann schulterzuckend. »Was geschehen ist, kann man nicht mehr rückgängig machen. Sicherlich wurden ebenso viele Menschen mit anderen Waffen von Morigan getötet. Ist ein Ruf jedoch erst einmal ruiniert, ist es schwer, ihn wieder reinzuwaschen.«
Ich runzele die Stirn. Irgendwie kommt es mir seltsam vor, dass ein Fremder hier einfach auftaucht und über solche Sachen redet. »Wir haben uns noch gar nicht vorgestellt«, sagt Nevya strahlend. Mir fällt sofort auf, dass ihre Stimme viel heller als sonst klingt und ihre Wangen noch immer gerötet sind.
»Kyan«, erwidert der Mann knapp.
Nachdem auch wir uns vorgestellt haben, fällt mir endlich auf, was mir an ihm so ungewöhnlich vorkommt.
»Du hast so dunkle Augen«, stelle ich fest und hoffe, dadurch nicht dreist zu wirken.
Kyan lacht jedoch und klopft mir auf die Schulter. »Du bist sehr aufmerksam. Das kommt daher, dass meine Mutter vom Clan des grauen Wolfes stammt. Allerdings bin ich froh, dort nicht aufgewachsen zu sein.« Er blickt sich prüfend um, ob wir nicht belauscht werden. Dann senkt er dramatisch die Stimme.
»Meiner Meinung nach sind sie ein wenig… barbarisch. Die Stadtmenschen sagen das zwar über alle Clans, aber ich finde, dass es auf den Clan des grauen Wolfes wirklich zutrifft.«
»Und was denkst du über uns?«, frage ich herausfordernd und grinse über seinen Gesichtsausdruck.
»Angeblich sollt ihr sehr temperamentvoll sein. Und bei dem, was ich bisher mitbekommen habe, stimmt es wohl auch.«
»Nun ja, Temperament ist immerhin nichts schlechtes«, sagt Nevya und geht unauffällig einen Schritt auf Kyan zu. Dann betritt jedoch plötzlich noch ein anderer Mann die Lichtung.
»Wir haben dich schon gesucht, Kyan. Wir helfen dem Clan des schnellen Leoparden bei der Jagd und könnten deine Hilfe gebrauchen.«
Kyan nickt und zwinkert uns noch ein letztes Mal zu, ehe er seinem Kameraden folgt.
Als er sich außer Hörweite befinden, bricht Nevya in begeistertes Kichern aus. »Das war ja wirklich ein gutaussehender Mann, findest du nicht auch?«
Ich nicke lächelnd. »Vielleicht hast du ihm auch gefallen«, gebe ich zurück und freue mich über das Strahlen auf ihrem Gesicht. Ich habe sie schon lange nicht mehr so unbeschwerter-lebt, da ihr die Last ihrer mangelhaften magischen Fähigkeiten stets auf den Schultern liegt.
»Komm mit zu mir nach Hause, ich muss dir etwas zeigen«, sage ich, als mir Luan wieder einfällt. Das schlechte Gewissen nagt an mir, weil ich ihn kurzzeitig vergessen habe. In unserem kleinen Dorf angekommen, sehe ich bereits von weitem meine
Eltern, die sich mit einer Frau unterhalten. Beim Näherkommen kann ich meinen Augen nicht trauen.
»Shivani!« Voller Freude laufe ich auf sie zu und werfe mich in ihre Arme.
»Meine Güte, bist du groß geworden«, sagt sie lachend und drückt mich fest an sich.
»Warum bist du hier?«, frage ich strahlend und löse mich aus der Umarmung.
»Ich hatte Sehnsucht nach meiner Heimat«, erwidert sie und blickt mich mit schief gelegtem Kopf an. »Du bist richtig er-wachsen geworden und noch dazu sehr hübsch.«
Ich senke verlegen den Kopf und bin mir nicht sicher, ob sie es wirklich ernst meint. »Shivani ist hier, weil morgen beim Rat einige wichtige Sachen besprochen werden«, erklärt meine Mutter. »Wie du weißt, reist sie viel herum, um an Informationen über Morigan zu gelangen. Ich bin sehr gespannt, was sie darüber zu berichten hat.«
Ich blicke mit großen Augen zu Shivani, die mich, als wir uns zuletzt gesehen haben, um einen Kopf überragt hat. Nun bin ich sogar ein kleines Stück größer als sie.
»Es wird Zeit, dass etwas gegen diesen Tyrannen unternommen wird«, sagt sie mit zusammengebissenen Zähnen.
Mir fällt wieder ein, dass auch sie Elian sehr nahestand.
Zwar sind meine Eltern diesem Thema stets ausgewichen, doch ich kann mir schon denken, was dahintersteckt. Seit ich denken kann, hatte Shivani keinen Gefährten und hat stets die Einsamkeit gesucht. Zudem ist ihr Hass auf den Clan der Dämonenpferde ebenso groß wie der meines Vaters. »Ich gehe mit Nevya rein«, sage ich an die Erwachsenen gewandt, als mir meine
Freundin wieder einfällt, die sich etwas verlegen am Rande des Geschehens aufhält.
Als wir die Hütte betreten, zieht Nevya sofort scharf die Luft ein. »Du hast ein Leopardenjunges aufgenommen?«
Ich blicke liebevoll zu Luan hinab, der zusammengerollt auf der Decke schläft.
»Er wurde verletzt«, erkläre ich. »Als ich im Wald war, habe ich eine Gestalt entdeckt, die ihn töten wollte. Glücklicherweise konnte ich sie noch rechtzeitig vertreiben.«
»Meine Güte«, sagt Nevya kaum hörbar. »Dann stimmt es also, was wir beim Rat mitgehört haben.« Ich nicke niedergeschlagen. »Und ich glaube, dass es so weitergehen wird, wenn nicht endlich etwas unternommen wird.« Plötzlich kommt mir eine Idee. »Du bist doch morgen bei dem Treffen der Räte dabei. Könntest du nicht den Vorschlag machen, dass nachts stärker patrouilliert werden sollte?«
Meine Freundin runzelt nachdenklich die Stirn und blickt abwesend zu Luan. »Das ist keine schlechte Idee. Allerdings weiß ich nicht, ob ich mich überhaupt zu Wort melden darf.
Schließlich bin ich noch kein Ratsmitglied, sondern nur dabei, um mir einen Eindruck zu machen.«
»Aber wenn du ihnen die Sache erklärst, müssen sie dir zuhören. Schließlich ist es ein Thema, das auch den Ratsmitgliedern Sorge bereitet.«
»Du solltest vorher mit der Anführerin reden und ihr Luan zeigen«, sagt Nevya ernst. »Dann wird sie mich vielleicht unter-stützen, wenn ich unsere Idee dem Rat mitteile.«
Zerknirscht muss ich ihr recht geben. Ich hätte Luan gerne noch ein paar Tage für mich gehabt und wenn erstmal die Anführerin davon weiß, wird sicherlich bald der halbe Clan vor meiner Tür stehen. Außerdem habe ich die Sorge, dass der junge Leopard in das Lager gebracht werden soll, wo sich der Schamane besser um ihn kümmern könnte. Dennoch ist es wichtig, dass die Anführerin vor dem Ratstreffen informiert wird.
»Dann lass uns zu ihr gehen«, sage ich niedergeschlagen und streichele Luan zärtlich über den Kopf, woraufhin er genüsslich die Augen schließt.
Als Nevya und ich uns auf den Weg in das Hauptlager machen, sehen wir schon von Weitem, dass mittlerweile auch der Clan des weißen Hirsches eingetroffen ist. Ich bin immer wieder fasziniert von der eleganten Erscheinung der Mitglieder, deren Gesichter fast so weiß wie Schnee sind. Mit federleichten Schritten gehen sie durch das Lager und helfen bei dem Herbeischaffen von Beute. Zwischen ihnen entdecke ich auch Kyan, der mit seinen tiefschwarzen Haaren einen seltsamen Kontrast bildet. »Mutter!« Nevya läuft mit strahlenden Augen zu einer Gruppe von hellhaarigen Kriegerinnen.
Eine Frau mittleren Alters mit rotblonden Haaren schließt meine Freundin lachend in die Arme und küsst ihr auf die Stirn. Es ist lange her, seit ich sie zuletzt gesehen habe, denn sie kommt nur selten zu Besuch. Soweit ich weiß, hat sie mit Nevyas Vater kein sehr gutes Verhältnis und darum vermeidet sie so gut es geht, Zeit beim Clan des schnellen Leoparden zu verbringen. Meine Freundin besucht sie jedoch häufig und hat mir versprochen, eines Tages auch dabei sein zu dürfen. Sie ist beim Clan des weißen Hirsches aufgewachsen und hat mir schon viel über das Leben dort erzählt.
Als mir der Grund wieder einfällt, weshalb wir in das Hauptla-
ger gekommen sind, zupfe ich Nevya zaghaft an ihrem Ärmel.
»Ich störe zwar nur ungern, aber wir hatten doch etwas vor.«
Widerwillig löst sie sich von ihrer Mutter und folgt mir zu einem Zelt an den Rand der Feuerstelle. Wir entdecken die Anführerin wenige Schritte von ihrem Zelt entfernt, wo sie gerade mit dem Schamanen vom Clan des großen Adlers redet.
Als wir sie unterbrechen, blickt sie uns leicht genervt an.
»Ich befinde mich gerade in einem Gespräch. Ist es sehr wichtig?« Wir nicken verlegen und so wendet sie sich seufzend von ihrem Gegenüber ab. Dann bedeutet sie uns, ihr in das Zelt zu folgen. Drinnen riecht es angenehm nach den verschiedensten Gewürzen und der seidige orangene Stoff bewegt sich leicht im Wind. »Nun, was habt ihr denn so Wichtiges zu erzählen?«
Nachdem wir uns auf die bunten Sitzkissen gesetzt haben, beginne ich, von dem Vorfall mit Luan zu berichten. Die Augen der Anführerin glänzen interessiert und zwischendurch schweift ihr Blick immer wieder abwesend in die Ferne.
Als ich geendet habe, seufzt sie niedergeschlagen. »Die Situation wird immer ernster. Wie gut, dass ich mich morgen mit den Räten darüber austauschen kann.«
Sie beugt sich vor und blickt mich prüfend an. Ich habe Mühe, dem Blick aus ihren dunkelbraunen Augen Stand zu halten. »Ist der Leopard bei dir gut versorgt?«
Ich nicke und mein Herz klopft wie wild. Ich rechne damit, dass sie jeden Moment die Worte aussprechen wird, vor denen ich mich so fürchte. Dass Luan im Lager besser aufgehoben ist und nicht mehr bei mir bleiben darf. »Ich werde mir heute Abend ein Bild davon machen«, sagt sie jedoch nur und neue Hoffnung keimt in mir auf.