Читать книгу Die Clans der Wildnis - Amisha - Delia Golz - Страница 5
KAPITEL 3
ОглавлениеEs dämmert bereits, als ich den Pfad zu unserem Dorf entlanghaste und ich blicke auch nicht auf, als mir eine Gruppe von Kriegern aus verschiedenen Clans entgegenkommt. Bis die Sonne untergegangen ist muss ich unsere Hütte aufgeräumt und geputzt haben, damit die Anführerin kein schlechtes Bild von uns bekommt. Meine Eltern wissen noch nicht von dem hohen Besuch, der uns erwartet, und ich kann mir schon ihre entsetzten Gesichter vorstellen, wenn sie davon erfahren. Durch den Wirbel um Luan und dem bevorstehenden Ratstreffen hatten wir keine Zeit, um uns um Ordnung zu kümmern.
Atemlos stürme ich durch die Tür und halte inne, als ich sehe, dass die Anführerin bereits am Tisch zusammen mit meinen Eltern sitzt. Sofort werde ich hochrot und ärgere mich darüber, noch so lange Zeit im Hauptlager verbracht zu haben.
»Es tut mir leid«, stammele ich und lasse meinen Blick schuldbewusst über die nur notdürftig beseitigte Unordnung schweifen.
Erst jetzt sehe ich, dass Luan auf dem Schoß der Anführerin sitzt und sich eng an ihren Bauch geschmiegt hat. Mir schnürt
es die Kehle zu, als ich mich frage, ob sie ihn nun doch mitnehmen wird. »Setz dich doch, Amisha«, sagt meine Mutter mit undurchschaubarer Miene und deutet auf den Stuhl neben sich.
Zögernd streife ich mir die dreckigen Stiefel ab und folge ihrer Anweisung.
»Wir haben uns darüber beraten, wie wir wegen dem Leoparden weiter vorgehen«, sagt die Anführerin ohne Umschweife und nickt dann meinen Eltern zu.
Mein Vater räuspert sich verlegen. »Zuerst haben wir überlegt, dass es wohl besser wäre, wenn er wegen seiner Verletzungen von dem Schamanen versorgt wird.« Als er mein niedergeschlagenes Gesicht sieht, lächelt er mir aufmunternd zu. »Allerdings sehen die Wunden nicht mehr lebensbedrohlich aus. Also wird es wohl ausreichen, wenn der Schamane einmal am Tag hier vorbeikommt.« Freudiger Jubel bricht in mir aus und ich blicke begeistert zu Luan, den die Anführerin zwischenzeitlich auf den Boden abgesetzt hat.
»Allerdings gilt die Vereinbarung, dass du ihn in die Wildnis zurückbringst, sobald er wieder genesen ist«, sagt sie mit einem strengen Gesichtsausdruck, der keine Widerrede zulässt. Dann steht sie mit einer eleganten Bewegung auf und schreitet majestätisch zur Tür.
»Leider kann ich nicht länger bleiben, da durch unseren Besuch viel Arbeit ansteht. Aber ich bin mir sicher, dass der Leopard bei euch gut aufgehoben ist.« Mit den Worten nickt sie uns ein letztes Mal zu, ehe sie unsere Hütte verlässt.
Nachts wache ich schweißgebadet auf und versuche, mich an den Alptraum zu erinnern, der mich so aufwühlt. Er ist mir jedoch entglitten und lässt nur noch ein kaltes Gefühl in mir zurück. Als ich merke, dass ich nicht mehr einschlafen kann, tappe ich barfuß die Leiter hinunter und setze mich zu Luan.
Er ist wie ich hellwach und seine goldenen Augen leuchten im schwachen Mondlicht, das durch das Fenster fällt. Sein Blick scheint mir etwas mitteilen zu wollen und so lege ich instinktiv meine Hand auf seinen Kopf.
Sofort erscheinen wirre Bilder vor meinen Augen, eine dunkle Gestalt, die sich mit einem schwarzen Messer über mich beugt. Dann ein greller Schmerz und ein Schrei, der aus meiner Kehle dringt.
Keuchend ziehe ich die Hand von Luan weg und lausche in die Stille, ob ich jemanden geweckt habe. Dann wird mir jedoch klar, dass der Schrei nur Teil der Vision war. Ich habe den Angriff auf Luan wieder erlebt, doch diesmal durch seine Augen.
»Warum zeigst du mir das?«, murmele ich nachdenklich.
»Keine Sorge, wir werden die Sache nicht vergessen. Schon morgen wird darüber beraten, was zu tun ist.«
Doch Luan blickt mich noch immer abwartend an und plötzlich weiß ich, was zu tun ist. »Du hast Recht, schon diese Nacht könnte es wieder passieren.«
Entschlossen ziehe ich mir etwas über, stecke die Wurfmesser ein und ergreife dann nach kurzem Zögern das Schwert meines Vaters, welches vergessen in einer Ecke vor sich hin staubt. So leise wie es geht schließe ich die Tür hinter mir und genieße einen Augenblick lang die kühle Nachtluft in meinem Gesicht.
Schon bald fange ich an zu frösteln, doch ich laufe trotzdem entschlossen den Pfad entlang, der mich in den Wald führt.
Zum Glück scheint der Mond groß und rund am Himmel, sodass ich keine große Mühe habe, etwas zu erkennen.
Als ich die ersten Schritte in den Wald hinein mache, fühle ich mich sofort von der Außenwelt abgeschnitten, doch ich genieße dieses Gefühl, der einzige Mensch weit und breit zu sein. All meine Sinne sind geschärft und bei jedem kleinsten Knacken im Unterholz greife ich instinktiv zu den Messern.
Das Schwert habe ich schon völlig vergessen und ich bin mir ohnehin nicht sicher, ob ich mich damit verteidigen könnte.
Mein Vater hat schon häufig versucht, mir die Schwertkunst beizubringen, doch er ist kläglich darin gescheitert.
Auf einmal halte ich inne. Unbewusst haben mich meine Schritte zu der Stelle geleitet, wo Luan angegriffen wurde und plötzlich verspüre ich doch so etwas wie Angst. Dann straffe ich jedoch die Schultern und rufe mir ins Bewusstsein, dass eine gute Kriegerin nicht in Panik verfallen darf. Ich werde dem Clan schon noch beweisen, wie wertvoll ich für ihn bin.
Doch als ich von weitem Schritte höre, sind alle guten Vorsätze wie weggeblasen. Blitzschnell klettere ich einen Baum hinauf, bis ich im Blattwerk Deckung gefunden habe. Atemlos und mit rasendem Herzen blicke ich auf den Waldboden hinab, wo jedoch noch niemand zu sehen ist. Ich wage es nicht, mich zu bewegen und selbst mein Atem hört sich viel zu laut an.
Dann sehe ich plötzlich eine Bewegung und kann die Gestalt eines Mannes erkennen, der sich wie ein Raubtier auf der Lauer bewegt. Im Mondlicht glitzert ein schwarzer Dolch in seiner Hand und lässt mich sicher sein, dass es sich um den Leopardenmörder handelt. Ich überlege fieberhaft, was am besten zu tun ist und stelle mir selbst die Frage, warum ich überhaupt hergekommen bin. Ich taste nach den Waffen an meiner Seite und bin mir plötzlich sicher, dass ich etwas unternehmen muss.
Ich könnte es mir nicht verzeihen, wenn wegen meiner Feigheit noch ein weiterer Leopard umgebracht wird.
Entschlossen presse ich die Lippen zusammen und lasse mich lautlos die Äst hinuntergleiten. Die Gestalt hat sich mittlerweile entfernt und scheint mich noch nicht bemerkt zu haben. Auf leisen Sohlen pirsche ich durch das Unterholz und halte meine Wurfmesser bereit.
Doch gerade, als ich mich in der richtigen Entfernung befinde, um ihn damit anzugreifen, wirbelt der Fremde herum. Mit weit aufgerissenen Augen starre ich in das Gesicht, welches ich sofort wiedererkenne.
»Du«, keuche ich und mache einen unbeholfenen Schritt zurück.
Der Mann, der sich vor wenigen Tagen mit Ashok angelegt hat, um mich zu retten, blickt mich finster an und scheint zu überlegen, wie er reagieren soll.
Dann läuft er jedoch mit fast unnatürlicher Geschwindigkeit auf mich zu und drückt mich gegen einen Baum. Eine Hand hat er fest um meine Kehle gelegt und drückt nun zu, bis ich keine Luft mehr bekomme. Der junge Mann blickt mich mit völlig ausdruckslosen Augen an und beobachtet, ohne mit der Wimper zu zucken, meinen verzweifelten Überlebenskampf.
Ächzend taste ich nach meinen Messern, doch ich muss sie vor Überraschung fallengelassen haben. Dann fällt mir das Schwert wieder ein, doch mein Bewusstsein beginnt bereits zu schwinden. Mit letzter Willenskraft schaffe ich es, das Schwert zu ziehen und es ihm in die Seite zu rammen. Sofort ist der
Druck auf meiner Kehle weg und ich falle kraftlos zu Boden.
Während ich gierig die kalte Luft einatme, höre ich Schritte, die sich hastig entfernen.
Als ich vorsichtig den Blick hebe, entdecke ich eine dunkle Blutspur am Boden, die sich im Unterholz verliert. Bei der Menge des Blutes bin ich mir sicher, dass er es nicht überleben wird, doch aus irgendeinem Grund verspüre ich dabei keinen Triumph.
Ich bemerke kaum, wie ich den Weg zurück ins Dorf hinter mich bringe und taumele, immer noch unter Schock stehend, durch die Tür unserer Hütte. Alles wirkt so friedlich, was überhaupt nicht zu der tobenden Unruhe in meinem Inneren passt.
Wie in Trance erklimme ich die Leiter in mein Zimmer und lasse mich in das Bett fallen.
Noch lange starre ich mit weit aufgerissenen Augen an die Decke und murmle immer wieder in die Dunkelheit, dass es nur ein schlimmer Traum gewesen ist.
Bald schon dringt erstes Tageslicht durch das milchige Fenster und schenkt mir genug Sicherheit, sodass ich endlich einschlafen kann.
»Geht es dir nicht gut? Du siehst so blass aus«, sagt meine Mutter besorgt und legt ihre Hand auf meine Stirn.
»Es geht schon«, entgegne ich mit krächzender Stimme und löffle schweigend den Haferbrei in mich hinein. Das Schlucken tut höllisch weh und ich muss an die Würgemale an meinem Hals denken, die ich heute Morgen erschrocken im Spiegel entdeckt habe. Schnell hatte ich mir ein Tuch umgebunden und gehofft, dass niemand wegen meines furchtbaren Aussehens Fragen stellt. Nun kommt mir die Erklärung meiner Mutter, dass ich mich wohl erkältet haben muss, sehr gelegen. Sie schickt mich sofort wieder ins Bett, wo ich mich dankbar in die warme Decke einwickele. Am liebsten würde ich das Haus tagelang nicht mehr verlassen, doch ich bin zu neugierig auf Nevyas Erzählungen über den Rat. Wir hatten uns zum Abend im Lager verabredet und so hoffe ich, dass ich mich bis dahin wieder besser fühle.
Obwohl ich durch Luans Anwesenheit ungewöhnliche Kräfte verspüren müsste, fühle ich mich völlig ausgelaugt. Immer wieder erscheint das Gesicht des Fremden vor meinen Augen und ich frage mich, warum er sich noch vor kurzem gegen Ashok für mich eingesetzt hat. Und warum er mich dann, nur wenige Tage später, töten wollte. Nur mit Mühe kann ich die Schluchzer unterdrücken, die sich meinen schmerzenden Hals hochkämpfen, als mir klar wird, dass ich das erste Mal in meinem Leben einen Menschen umgebracht habe.
Doch dann, als ich weiter darüber nachdenke, kommt mir ein neuer Gedanke. Wenn dieser Mann wirklich darauf aus war, Leoparden zu jagen, wurde er wahrscheinlich von Morigan ge-sandt. Und das kann nur bedeuten, dass er ein Unsterblicher sein muss.
Zu meinem Erstaunen spüre ich bei diesem Gedanken nur Erleichterung darüber, dass die Wunde, die ich ihm zugefügt habe, dann wohl doch nicht tödlich gewesen ist.
Ich muss mich schon fast dazu zwingen, Unruhe darüber zu empfinden, dass ich von einem Mitglied vom Clan der Dämonenpferde angegriffen wurde. Gleichzeitig frage ich mich, warum er sich dann überhaupt zurückgezogen hat.
Die Vorstellung, dass ich gegen einen Unsterblichen gekämpft habe und ihn vertreiben konnte, erweckt neuen Tatendrang in mir und mit einem breiten Grinsen verlasse ich das Bett.
Ich beschließe, Nevya bei unserem Treffen einzuweihen. Sie ist der einzige Mensch, dem ich dieses Erlebnis anvertrauen kann, denn ich spüre instinktiv, dass es großen Ärger geben würde, wenn der restliche Clan davon erfährt.
Meine Eltern schauen mir verdutzt hinterher, als ich mit schwungvollen Schritten nach draußen gehe und ihnen fröhlich zum Abschied winke. Ich bin mir sicher, dass von nun an alles besser wird und ich endlich eine Chance habe, mich zu beweisen.
An diesem Tag dürfen sich die Clanmitglieder nur in dem äußeren Bereich des Lagers aufhalten, da die Umgebung um die Feuerstelle herum für den Rat abgeschottet wurde. Zudem reden die Leute nur im Flüsterton miteinander, um die wichtigen Besprechungen nicht zu stören.
Am liebsten würde ich mich irgendwo verstecken, von wo aus ich den Gesprächen des Rates lauschen könnte, doch überall passen wachsame Krieger auf, dass genau dies nicht geschieht.
Allerdings weiß ich, dass Nevya mir von den wichtigsten Themen berichten wird und beschließe darum, mich mit Kyan zu unterhalten, den ich am Rande des Lagers entdecke.
Obwohl ich ihn kaum kennenlernen konnte, hat er eine Ausstrahlung, bei der ich mich sofort wohl fühle. Zudem scheint Nevya an ihm interessiert zu sein und vielleicht könnte ich ein gutes Wort für sie einlegen. »Da ist ja die Messerwerferin«, sagt er scherzhaft, als er mich entdeckt.
Aus irgendeinem Grund fühle ich mich durch diese Worte nicht beleidigt und fange an zu grinsen.
»Ist es nicht langweilig, den ganzen Tag hier herum zu stehen und wache zu halten?«, necke ich ihn, woraufhin er theatralisch seufzt.
»Das gehört leider zu den unangenehmen Aufgaben eines Kriegers. Ich stehe hier schon seit Sonnenaufgang. Ich frage mich immer wieder, was die Räte so lange zu besprechen haben.«
»Bist du bei jedem der Treffen dabei?«, frage ich neugierig.
Ich kann mich nicht erinnern, ihn die letzten Jahre in unserem Lager gesehen zu haben.
»Bisher war ich immer nur bei den Treffen beim Clan des grauen Wolfes dabei, da meine Mutter dort lebt. Dieses Jahr durfte ich das erste Mal bei jedem Treffen dabei sein.«
»Wie ist es bei den anderen Clans?« Sofort packt mich wieder diese Sehnsucht, auch herumreisen zu können.
Gleichzeitig frage ich mich, was mich bisher daran gehindert hat. Schließlich ist es niemandem verboten, die anderen Clans zu besuchen, solange man keinen Ärger macht. Vermutlich hat sich die Angst, dass wegen der Herkunft meines Vaters schlecht über mich geredet wird, so sehr eingebrannt, dass ich trotz meiner Neugierde in meiner gewohnten Umgebung bleibe.
»Es ist wirklich aufregend«, beantwortet Kyan meine Frage und unterbricht so meine Grübelei. »Die Lebensart der anderen Clans unterscheidet sich so sehr von allem, was ich gewohnt bin. Du solltest dir unbedingt mal selbst ein Bild davon machen.« Ich nicke verunsichert.
»Hast du nicht auch noch ein Elternteil aus den anderen Clans?«, fragt er plötzlich, woraufhin ich am liebsten weglaufen und damit der Frage ausweichen würde. »Du unterscheidest dich äußerlich auch sehr von deinen Clankameraden.«
»Nein«, sage ich knapp und wechsele schnell das Thema.
»Wusstest du, dass Nevya heute auch beim Treffen der Räte dabei ist? Sie hat große Fortschritte in ihrer Ausbildung gemacht.«
Kyan runzelt verwundert die Stirn, lässt den plötzlichen The-menwechsel jedoch unkommentiert »Nein das wusste ich nicht.
Sehr beachtlich.«
Für einen Moment fallen wir in ein unbehagliches Schweigen, also beschließe ich, mich von ihm zu verabschieden.
»Ich muss los«, sage ich verlegen und verschwinde schnell zwischen den Zelten, ehe er mir noch mehr Fragen über meine Herkunft stellen kann. Dabei stoße ich mit Nevya zusammen, die mit vor Weinen geröteten Gesicht in Richtung des Waldes läuft.
»Was ist passiert?«, frage ich schockiert und nehme sie schnell in den Arm.
»Nicht hier«, antwortet sie mit gebrochener Stimme und zieht mich zwischen die hohen Bäume.
Erst als wir uns weit von dem Lager entfernt haben, lässt sie sich gegen einen Baumstamm sinken und beginnt stockend zu erzählen.
»Zuerst lief alles gut. Wir haben wie geplant vorgeschlagen, wie man gegen den Leopardenmörder am besten vorgeht und ich konnte gute Argumente einbringen. Aber irgendwann kamen wir auf andere Themen zu sprechen.« Sie fällt wieder in ein ungehaltenes Schluchzen und ich lege ihr beruhigend meine Hand auf die Schulter. »Wusstest du, dass der Clan des weißen Hirsches schon seit Jahrzehnten keinen richtigen Schamanen mehr hat?«, fragt sie mich nach einer Weile und wischt sich die Tränen weg. Verwirrt schüttele ich den Kopf. »Wie kann das sein? Außerdem habe ich ihn doch gesehen.«
»Die eigentliche Schamanin wird schon sehr lange von Morigan gefangen und am Leben gehalten, damit kein vollwertiger Nachfolger bestimmt werden kann. Dadurch ist der Clan des weißen Hirsches geschwächt, da keine Nachfahren die Magie ausüben können.«
»Das ist furchtbar«, sage ich schockiert. »Aber warum nimmt dich das so sehr mit?«
»Weil das der wahre Grund ist, warum ich überhaupt existiere. Es wurde gehofft, dass durch die Verbindung zwischen meinem Vater und einer Frau vom Clan des weißen Hirsches ein Kind zur Welt kommt, welches die Magie des Schamanen und das Krafttier der Mutter erbt. Also bin ich eine Enttäuschung für alle Clans.«
Erst jetzt wird mir richtig bewusst, was sie gerade erzählt hat und muss lange grübeln, um die richtigen Worte zu finden.
»Ich bin mir sicher, dass niemand dich als eine Enttäuschung sieht. Schließlich hat dein Vater außer dir keine Nachfahren, also bist du auch für den Clan des schnellen Leoparden sehr wichtig.«
Zuerst stockt Nevya kurz, doch dann bringt sie endlich ein leichtes Lächeln zustande.
»Du hast wohl recht.« Ihre Stimme klingt wieder klarer und mit einer energischen Bewegung wischt sie sich die Tränen weg. »War das denn der einzige Versuch, einen Nachfolger für die entführte Schamanin zu zeugen?«, frage ich vorsichtig.
»Nein, es wurde sogar noch viele Male versucht«, erwidert meine Freundin nachdenklich. »Doch kein einziges Kind hat den weißen Hirsch als Krafttier geerbt. Mittlerweile sind die Räte sich sicher, dass es kein Zufall ist. Doch leider scheitert auch jeder Versuch, die entführte Schamanin zu befreien oder zumindest zu töten.« »Warum sollte man sie töten wollen?«, frage ich entsetzt.
Nevya blickt mich mit hochgezogenen Augenbrauen an und erst jetzt fällt mir die offensichtliche Antwort ein. Nur dann könnte endlich ein vollwertiger Nachfolger des Clans gewählt werden
»Das wäre dann das erste Mal seit Jahrhunderten, dass ein Nachfolger gewählt wird, der keinerlei Bezug zu Magie hat«, stelle ich erstaunt fest. »Die Zeremonie soll sehr kompliziert und gefährlich sein.«
Nevya nickt mit finsterer Miene. »Aber dem Clan des weißen Hirsches bleibt keine andere Wahl. Obwohl er von den anderen Clans unterstützt wird, hat er die größten Probleme mit Morigan und seinen verbündeten Sklavenhändlern.«
Wut brodelt in mir hoch. »Werden auch dort Krafttiere getötet?«
»In jedem Clan«, sagt Nevya nach kurzem Zögern und blickt mich besorgt an, als ich aufspringe und die Hände zu Fäusten balle.
»Wir müssen etwas unternehmen«, sage ich mit zusammengebissenen Zähnen. »Und zwar jeder von uns.«
Meine Freundin blickt mich erschrocken an, als ihr klar wird, was ich damit meine. »Das ist eine Sache für die Krieger. Für uns wäre es viel zu gefährlich.« Ich atme tief durch und erzähle ihr dann von dem Vorfall in der vergangenen Nacht. Als ich fertig bin, blickt sie mich mit weit aufgerissenen Augen an.
»Versprich mir, dass du so etwas nie wieder machst«, sagt sie atemlos. »Du musst niemandem was beweisen!«
»Doch, dass muss ich leider«, gebe ich kaum hörbar zurück.
An Nevyas Gesichtsausdruck kann ich erkennen, dass sie mir nicht mehr widersprechen kann.
»Dann versprich mir wenigstens, dass du nicht mehr allein gehst«, sagt sie schließlich mit fester Stimme. »Ich werde noch mehr üben, um dir mit meinen magischen Fähigkeiten zur Seite stehen zu können.«
Ich bin hin und hergerissen, ob ich sie wirklich mit in die Sache hineinziehen möchte, aber muss mir schließlich eingestehen, dass sie recht hat.
»Na gut«, sage ich. »Aber ich möchte nicht allzu lange warten. Ich kann dieses Gefühl nicht ausstehen, tatenlos zu bleiben.« »Dann habe ich endlich einen richtigen Ansporn«, sagt Nevya mit entschlossenem Gesichtsausdruck. »Vielleicht ist es genau das, was mir bisher gefehlt hat.«
Ich umarme sie dankbar und mir wird klar, dass es eine große Erleichterung ist, jemanden an meiner Seite zu wissen.
Die folgenden Tage verbringe ich hauptsächlich damit, Nevya beim Training zu helfen und auch meine eigenen Fertigkeiten zu verbessern. Zwischendurch leistet uns auch Kyan Gesellschaft und ich bemerke mit Freude, dass vor allem zwischen ihm und Nevya eine enge Bindung entsteht.
Bald schon reisen die anderen Clans wieder ab, doch Kyan gibt uns das Versprechen, uns so oft wie möglich zu besuchen.
Seitdem trainiert meine Freundin noch verbissener und als sich der Winter langsam dem Ende entgegenneigt, hat sie deutliche Fortschritte gemacht. »Das war unglaublich!«, rufe ich begeistert, als sie einen Stein mit ihrer Magie blitzschnell gegen einen Baumstamm krachen lässt. Zufrieden betrachten wir die tiefe Mulde, die durch den Einschlag entstanden ist.
Plötzlich kommt mir eine Idee. »Was hältst du davon, wenn wir unsere Waffen kombinieren?«, frage ich geheimnisvoll und zücke eines meiner Wurfmesser. Nevya versteht sofort und ihr Gesicht fängt an zu strahlen. »Lass es uns sofort versuchen«, sagt sie begeistert und geht in eine konzentrierte Stellung.
Ich mache es ihr grinsend nach und fixiere dann den Punkt in der Mitte der Zielscheibe, an der ich schon den ganzen Tag geübt habe. Dann lasse ich das Messer losschnellen, während Nevya eine rasche Handbewegung macht. Mit einem lauten Krachen schlägt das Messer ein und spaltet die hölzerne Zielscheibe in zwei Teile.
Begeistert tauschen wir einen Blick. Wir sind uns sicher, dass wir nun so weit sind. Mit dieser Waffe könnten wir es sogar mit einem Unsterblichen aufnehmen.