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Februarrevolution und Oktoberputsch

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Im Zuge der Februarrevolution 1917 änderte sich dank der Übergangsregierung die Lage für wenige Monate, bevor das Land im Zuge des Oktoberputsches im Chaos versank. Die jüdische Bevölkerung erhielt durch die demokratisch gesinnten Politiker und Politikerinnen, die nun regierten, politische Freiheiten. Der Ansiedlungsrayon, der 1915 nicht aufrechtzuerhalten war, da die Region zur Kriegsfront geworden war, wurde offiziell aufgelöst. Die Schwarzen Hundertschaften wurden verboten und ein Teil von ihnen gezwungen, in den Untergrund zu gehen.

Juden und Jüdinnen traten zum ersten Mal politisch auf und begannen, aktive Rollen sowohl im vormaligen Ansiedlungsrayon als auch außerhalb davon zu übernehmen. Im Frühling 1917 wurden in beiden Dumas der größten Städte Petrograd und Moskau Wahlen abgehalten. In Moskau wurde der Jude Osip Minor mit überwältigender Mehrheit zum Vorsitzenden der Duma gewählt. Der Politiker W. M. Tschernow schrieb in seinen Erinnerungen: „Die Antisemiten lehnten natürlich ab, dass die Duma, ‚das Herz Russlands‘, von einem – oh Horror! – Juden geführt wird … Aber wen interessierte der machtlose Zorn der Antisemiten?“27

Die Kommunalwahlen im Land ließen die Gesinnung der Antisemiten und Antisemitinnen ebenfalls außer Acht. G. I. Schreider, jüdischer sozialistischer Revolutionär und bekannter Experte in städtisch-ländlichen Angelegenheiten, wurde zum Vorsitzenden der Duma der Hauptstadt gewählt. S. D. Schupak, Jude und Mitglied des Sozialistischen Bundes, wurde Mitarbeiter der Stadtverwaltung in Petrograd. In Minsk wurde ein Mitglied des Zentralkomitees des Bundes, A. I. Weinstein, zur Vorsitzenden der Duma gewählt. In Jekaterinoslawl wurde Ilja Polonski zum Stadtvorsteher, in Kiew A. M. Ginsburg-Naumov zum stellvertretenden Bürgermeister gewählt. D. K. Tschertkow wurde zum Vorsitzenden der Stadtduma von Saratow, ganz zu schweigen von der Arbeit, die von Juden und Jüdinnen der Menschewiken und sozialistischen Revolutionäre der Räte der Arbeiter- und Soldatenkammern verrichtet wurde.28 Die Übergangsregierung ermöglichte Personen jüdischer Herkunft also aktive politische Teilhabe.

Anders verhielten sich die Dinge auf gesellschaftlicher Ebene. Trotz der Revolution und der erklärten Gleichheit hielt Judenfeindlichkeit an, als ob keine Veränderungen stattgefunden hätten. Olga Adamowa-Sliosberg war eine von vielen, die in jener Zeit häufig mit antisemitischen Bemerkungen konfrontiert wurden, und hielt dies in ihrer Autobiografie „Der Weg“ fest. 1917 war sie fünfzehn Jahre alt und lebte mit ihrer Mutter in Kislowodsk. Eines Tages wurde sie im Park von einer Frau angesprochen. Die Frau wollte ihr zwanzig Tickets für die öffentlichen Bäder verkaufen. Solche Tickets waren immer Mangelware, also kaufte sie Adamowa-Sliosberg freudig. Adamowa-Sliosberg beschrieb den Kauf:

„Heute reise ich ab, erzählte sie mir, schade, dass ich die Tickets nicht verwendet habe. Ich habe keine Zeit, ich laufe seit zwei Stunden durch den Park, auf der Suche nach einem russischen Gesicht – ich treffe nur auf Saujuden, ganz Kislowodsk ist voll mit ihnen! Ich gab ihr das Geld und verabschiedete mich dann mit den Worten: Ich muss Sie enttäuschen. Ich habe die Tickets, und ich bin Jüdin. Die Gesprächspartnerin schnaubte und lief weg.“29

Dieses Beispiel ist absolut typisch für jene Zeit und auch für die folgenden Jahre. Um solche Situationen zu vermeiden, versuchte Olga Adamowa-Sliosberg üblicherweise, auf welche Art auch immer ihre Identität von vornherein klarzustellen, was nur den Mut des fünfzehnjährigen Mädchens betonte.

Das änderte jedoch nicht das zugrunde liegende Problem. Im Juli 1917 schrieb Maxim Gorki: „Die Gleichheit von Juden ist eine der wundervollen Errungenschaften unserer Revolution. Durch die Anerkennung der Gleichheit von Juden zu Russen haben wir einen schamvollen, blutigen und schmutzigen Fleck von unserem Gewissen entfernt.“30 Formell war dem zwar so, aber Antisemiten/Antisemitinnen verhinderten weiterhin die Gleichstellung von Juden und Jüdinnen, die von der Übergangsregierung bestimmt worden war.

Abgesehen davon kehrten viele Deserteure von den Fronten des Ersten Weltkriegs zurück, die nun ohne die Disziplin an der Front und ohne Platz in der Gesellschaft weiterleben mussten. Sie brachten ein hohes Ausmaß an Chaos, Mangel an Disziplin und Gewaltbereitschaft mit. Antisemitismus und Pogrome nahmen wieder zu, und der „blutige und schmutzige Fleck“, von dem Gorki geschrieben hatte, war wieder da. Ende 1917 kam es immer wieder zu kleineren Pogromen, darunter vor allem in Bessarabien. In den folgenden Jahren sollten sie massiv zunehmen.31

Nach dem Oktoberputsch und dem Ausbruch des Bürgerkriegs schlossen sich viele prominente Anführer der Schwarzen Hundertschaften der Weißen Bewegung an, feuerten sie an, gaben ihr Macht. Manche HistorikerInnen behaupten, die Weiße Bewegung war innerlich ausgehöhlt und hatte keine ideologische Botschaft. Dem war nicht so. Sie hatte sehr wohl eine Botschaft, und zwar in vielerlei Hinsicht eine der Schwarzen Hundertschaften. Die Ideale der Schwarzen Hundertschaften in Kombination mit Monarchismus füllten das ideologische Vakuum, das bei den Weißen bestand, nährten den Hass auf die Bolschewiken, der ihnen innewohnte, und gaben ihm eine klare Richtung.

Natürlich waren nicht alle Angehörigen der Freiwilligenarmee Antisemiten, und nicht alle Antisemiten waren Freiwillige. Aber die antisemitischen Tendenzen und die Neigung zu den Schwarzen Hundertschaften innerhalb der Weißen Bewegung sowie allgemein in der russischen Gesellschaft waren sehr stark. Teilweise ist dies damit zu erklären, dass die Weiße Armee und Teile der russischen Öffentlichkeit die Ansichten der Monarchie und imperialistischen Chauvinismus teilten. Die russische Monarchie hatte die Unterdrückung von Juden und Jüdinnen Generationen hindurch unterstützt. All das wurde durch den Judenhass der Russisch-Orthodoxen Kirche verstärkt.

Der Religionsphilosoph Wassili Rosanow glaubte an „die Absorbierung von fast der gesamten Revolution durch Juden“, was seiner Meinung nach „in Pogromen enden“ würde.32 Er beschrieb weiters seine Abscheu vor der Verbindung zwischen Juden und der Revolution. Rosanow und ein weiterer bekannter Religionsphilosoph, Pawel Florenski, waren bei Weitem nicht die Einzigen, die antisemitische Ansichten dieser Art verbreiteten.

Gebildete Juden und Jüdinnen verstanden bald, welchem Pfad der Antisemitismus in der Ära von Terror und Bürgerkrieg folgen würde. Am 7. Jänner 1918 schrieb der Intellektuelle und Wissenschaftler S. M. Dubnow in seinem Tagebuch über die Behörden und ihr Hauptquartier, das Smolny-Institut (damals genutzt als Regierungsgebäude und Regierungssitz):

„Man wird die Beteiligung der jüdischen Revolutionäre am Terror der Bolschewiken gegen uns [Juden, Anm.] nicht vergessen. Die Gefährten Lenins – die Trotzkis, die Sinowjews, die Urizkis und die anderen – werden ihn vernebeln. Smolny wird insgeheim ‚Saujudenzentrum‘ genannt. Später werden sie das laut aussprechen, und Judenhass wird in allen Schichten der russischen Gesellschaft tief verwurzelt sein …“33

Dubnows Worte stellten sich als prophetisch heraus. Man begann, der jüdischen Bevölkerung für alle politischen Entwicklungen des Sowjetregimes die Schuld zu geben, machte sie zu Sündenböcken für Grausamkeiten, die vom bolschewistischen Regime verübt wurden. Niemand interessierte sich für die Tatsache, dass diese Anführer der Bolschewiken Atheisten und Diktatoren waren und keinerlei Verbindungen zur jüdischen Bevölkerung hatten.

Der antisemitische Mythos, dass die bolschewistische Macht angeblich der zionistischen Verschwörung entsprach, entwickelte sich nicht nur in der russischen Sowjetrepublik, in der Ukraine und in Weißrussland, sondern breitete sich in den Kaukasus, nach Zentralasien, bis nach Bessarabien, in die baltischen Staaten, nach Westeuropa und darüber hinaus aus. Während des Polnisch-Sowjetischen Kriegs kreierte das Büro innerstaatlicher Propaganda in Polen aufwiegelnde antibolschewistische Poster. Auf einem Poster aus dem Jahr 1920 ist ein Davidstern auf den Kappen der Soldaten der Roten Armee zu sehen.34 Dadurch gab das Büro innerstaatlicher Propaganda den Polen und Polinnen zu verstehen, dass die Macht der Kommunisten neu sein mochte, doch das Problem der „jüdischen Verschwörung“ alt und allen wohl bekannt.

Generell war Antisemitismus in der polnischen Propaganda weit verbreitet und konnte in seiner karikierenden Hässlichkeit nur mit Postern der Behörde für Propaganda der Weißen (OSVAG) verglichen werden. Vom OSVAG soll weiter unten noch ausführlich die Rede sein. Eines dieser Plakate stellte zum Beispiel ein Monster mit klischeehaften semitischen Zügen dar. Bedrohlich reißt es seine Arme hoch. Dieser regelrechte Beelzebub mit Buckelnase und Ziegenbärtchen droht, das unschuldige Polen zu verschlingen. Neben ihm brennt im Dunklen eine zerstörte orthodoxe Kirche, und hinter ihm steht die bedrohliche Gestalt eines Mannes der Roten Armee, der wie ein Golem aussieht und einen Davidstern auf dem Helm hat. Als wäre diese Szene teuflischen Schreckens nicht genug, steht unter dem Bild: „Nochmals jüdische Tatzen? Nein, nie wieder!“35

Kurz vor dem Oktoberputsch fand vor dem Hintergrund von Zerstörung und der Verbreitung von antijüdischer Stimmung im Land eine Konferenz jüdischer Soldatenvereinigungen in Kiew statt. Auf dieser Konferenz wurde der Beschluss gefasst, den Allgemeinen Bund Jüdischer Soldaten in Russland sowie den Allgemeinen Bund Jüdischer Selbstverteidigung zu gründen. Der Vorsitzende der Konferenz, Joseph Trumpeldor, war ein bekannter Aktivist der Zionistischen Bewegung. Angesichts der anhaltenden Pogrome ernannte ihn das Militärrevolutionäre Komitee zum Vorsitzenden der ersten jüdischen Organisation zur Selbstverteidigung in Petrograd. Im Dezember 1917 frohlockte Trumpeldor in einem Brief: „Ich habe Erlaubnis, die erste jüdische zusammengelegte Einheit zusammenzustellen. Sie hat die Größe eines Bataillons von etwa tausend Mann … Ihre wichtigste, aber nicht einzige Aufgabe ist, gegen die Massaker anzukämpfen, die gegen Juden verübt werden.“36 Nur ein paar Wochen später wurde die Jüdische Einheit im Jänner 1918 von den Bolschewiken aufgelöst.

Ab dem Oktober 1917 legten die Bolschewiken eine unverhohlen zweideutige Einstellung nicht nur gegenüber jüdischer Selbstverteidigung, sondern zum Judentum als Ganzes und zu jüdischem gesellschaftspolitischem Leben als solches an den Tag. Die Gründe dafür waren folgende: Erstens hieß die überwältigende Mehrheit jüdischer Organisationen und Parteien den Oktoberputsch nicht nur nicht willkommen, sondern war ihm gegenüber extrem kritisch eingestellt. Zweitens betrachteten die Bolschewiken die Welt vom Standpunkt einer Einparteiendiktatur und totaler ideologischer Kontrolle. Die populären Bündler und Zionisten stellten für das Regime innerhalb der jüdischen Gesellschaft dieselbe Konkurrenz dar wie Sozialistische Revolutionäre und Menschewiken innerhalb der russischen Mehrheitsgesellschaft. Die orthodoxen Juden verursachten dieselbe Abneigung vonseiten der atheistischen Kommunisten wie die Russisch-Orthodoxe Kirche.

Zwischen zwei Feuern

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