Читать книгу Zwischen zwei Feuern - Denis Prodanov - Страница 6
Einleitung
ОглавлениеDieses Buch befasst sich mit einem Thema, das in der sowjetischen und postsowjetischen Geschichtsschreibung bislang weitgehend ignoriert wurde: Antisemitismus, Judenverfolgung und Pogrome zu Zeiten des Russischen Bürgerkriegs. Antisemitismus stellt auch heute in vielen europäischen Staaten, doch insbesondere in Russland ein unbequemes Thema dar.
Antisemitismus ist seit Jahrhunderten in der russischen Mehrheitsgesellschaft verankert, unter anderem durch aktive Unterstützung durch die Russisch-Orthodoxe Kirche. Bereits im Mittelalter kam es zu Übergriffen. Die Jahrhunderte der Zarenherrschaft gingen einher mit grausamer Verfolgung von Jüdinnen und Juden. Im Gegensatz zur gängigen Geschichtsschreibung haben die Bolschewiken mit ihrer Machtergreifung 1917 nicht genug gegen den grassierenden Antisemitismus an allen Fronten des Kriegs und in allen Bevölkerungsschichten getan. Auch die Rote Armee und das Regime der Bolschewiken setzten dem Antisemitismus in der Gesellschaft kein Ende, wenn dieser auch im Vergleich zur aktiven Judenverfolgung durch das Weiße Lager das geringere Übel war. Jüdinnen und Juden sahen sich während des Bürgerkriegs, der zwischen 1917 und 1922 das Land verwüstete, also von beiden Seiten des politischen Spektrums Verfolgung ausgesetzt und beklagten fehlenden Schutz. Sie hatten die Wahl zwischen Pest und Cholera, waren gefangen zwischen zwei Feuern.
Die Februarrevolution 1917 folgte auf 300 Jahre Herrschaft der Zarenfamilie Romanow. Die Revolution war die Konsequenz der volatilen Lage im Land, einer unzufriedenen Bevölkerung, die mit der Misere des Ersten Weltkriegs zu kämpfen hatte, mit einer Wirtschaftskrise, mit Nahrungsmittelunsicherheit und mit der durch den Krieg ausgelösten Flüchtlingskrise. Zehntausende Menschen flohen von den Frontgebieten im Westen in den Osten.
Im Februar 1917 wurde im damaligen Petrograd (danach Leningrad, heute Sankt Petersburg) Zar Nikolaus II. gestürzt und die gesamte Zarenfamilie festgenommen. Der Volksaufstand, der dazu führte, war ein Ergebnis von Armut, Unzufriedenheit und Hunger in der Bevölkerung. Seit 1906 waren bereits vier Dumas eingesetzt worden, die aus Volksabgeordneten bestanden, sich jedoch als handlungsunfähig erwiesen, weil die Zarenfamilie sie nicht agieren ließ. Die Enttäuschung darüber ließ die Menschen zu Zeiten der vierten Duma endlich auf die Straße gehen.
Nach der Revolution sollte bis zum Herbst 1917 eine Interimsregierung an der Macht bleiben, um das Land zu verwalten. Für den Herbst 1917 waren demokratische Wahlen geplant, woraufhin die russische konstituierende Versammlung (das Parlament) die Macht übernehmen sollte. Die Übergangsregierung bestand nach dem Umsturz hauptsächlich aus Abgeordneten demokratischer Parteien, die bereits der vierten Duma vor dem Umsturz angehört hatten. Jedoch konnte die Übergangsregierung, die anfänglich über massiven Rückhalt im Volk verfügte, die volatile Lage im Land nicht entschärfen und der sich verschlimmernden humanitären Katastrophe nicht entgegenwirken. Die Lage verschlimmerte sich. Bald folgte ein Finanzkollaps. Armut, Bauernaufstände und Hungersnöte setzten der Bevölkerung ebenso zu wie Chaos und Gewalt, die Deserteure von den Fronten des Ersten Weltkriegs in die Gesellschaft zurückbrachten.
So spekulierten ab Frühling 1917 die Bolschewiken mit der Schwäche der Interimsregierung. Der größte Fehler der Übergangsregierung war, sich nicht aus dem Ersten Weltkrieg zurückzuziehen. Alle aus der Kriegsbeteiligung entstehenden Probleme waren also relativ einfach der Übergangsregierung in die Schuhe zu schieben. Nachdem diese zuerst sehr beliebt gewesen war, verlor sie sukzessive an Rückhalt in der Bevölkerung, obwohl ihre Politik zunehmend linksgerichteter gestaltet war. Die Sympathien, die zuerst noch bei der Übergangsregierung gelegen hatten, flogen nun den Bolschewiken zu.
Während des Oktoberputsches 1917 stürzten diese die Regierung. Wochenlang war dieser Putsch vorbereitet worden. Allein in Petrograd unterstützten 20.000 Mitglieder der Roten Garde die Bolschewiken. Soldaten, Matrosen und Arbeiter/Arbeiterinnen hatten der Agitation der Bolschewiken Folge geleistet und befürworteten die Absetzung der Übergangsregierung. Sobald die Bolschewiken die Macht im Land gesichert hatten, begannen sie mit der Errichtung einer Diktatur, die bis 1991 andauern sollte. Sie verkündeten, bis zur Neueinsetzung des Parlaments an der Macht bleiben zu wollen. Nachdem sie im Jänner 1918 das Parlament einberufen hatten, wurde es schon nach einem Tag wieder aufgelöst. Hunderte friedliche Demonstranten und Demonstrantinnen, die in wichtigen Städten wie Kaluga, Kolomna, Saratow, Petrograd, Moskau und Koslow für die konstituierende Versammlung demonstrierten, wurden erschossen.
Der Russische Bürgerkrieg begann also im Oktober 1917 und dauerte offiziell bis 1922, inoffiziell bis 1923, als die Rote Armee endgültig die letzten lokalen Aufstände niederschlug. In den ersten Wochen des Kriegs starben in Moskau und in Irkutsk allein bereits um die 2.000 Menschen. Die Fronten des Bürgerkriegs teilten sich einerseits in die Bolschewiken und ihre Rote Armee, andererseits in alle Bewegungen und Armeen, die den Bolschewiken gegenüberstanden.
Dazu gehörte ein breites Spektrum von demokratischen Kräften bis hin zu den reaktionärsten rechtsgerichteten Bewegungen. Die wichtigsten Kräfte waren die Weiße Armee, die Grüne Armee und die Anarchisten. Die Weiße Armee war in sich ebenfalls nicht homogen, sondern bestand aus verschiedenen Einflüssen und Gruppierungen.
Wenn in diesem Buch von „Fronten“ die Rede ist, ist damit eine Mehrzahl gemeint: einerseits die Fronten des Ersten Weltkriegs, andererseits die Fronten des Bürgerkriegs. Auch kleinere Kriege und Auseinandersetzungen wie zum Beispiel der Sowjetisch-Polnische Krieg brachten Fronten mit sich, ebenso die Bürgerkriegsfronten in sowjetisch besetzten Ländern Zentralasiens. Die Fronten verschoben sich laufend. Zu unterschiedlichen Zeiten bestanden unterschiedliche Fronten. Die Bevölkerung des riesigen Gebiets lebte in einem ständigen Kriegszustand.
Der Bürgerkrieg tobte im Gebiet Russlands, aber auch in Weißrussland, in den Baltischen Staaten, im Kaukasus und in Zentralasien und vor allem in der Ukraine. Was letztlich ausschlaggebend für den Sieg der Roten Armee war, waren Uneinigkeit und innere Aufsplittung des Weißen Lagers. Die internen Streitigkeiten führten trotz Unterstützung der Weißen durch die Alliierten dazu, dass die Bolschewiken den mehr als fünf Jahre andauernden Krieg gewannen.
In diesen Jahren des Bürgerkriegs, der mit allen Mitteln klassischer und moderner Kriegstechnologie geführt wurde (von Bajonetten über Kavallerie bis hin zu Bombardierung und dem Einsatz von Maschinengewehren), wurden Millionen Menschen getötet, vergewaltigt und vertrieben, Dörfer niedergebrannt und ausgeraubt. Der Bürgerkrieg zerstörte das Land. Millionen wurden zu Opfern, vor allem angesichts des zeitgleich stattfindenden Ersten Weltkriegs und der Hungersnot von 1921 bis 1922 in den südwestlichen Regionen.
Eine Bevölkerungsgruppe litt während dieser Jahre noch mehr als alle anderen: die jüdische.
Wie erwähnt, ist Antisemitismus in der russischen Gesellschaft seit vielen Jahrhunderten tief verwurzelt. Die Jahre des Bürgerkriegs stellten hier keine Ausnahme dar, und, wie sich herausstellte, auch die Machtübernahme durch die Bolschewiken nicht. Wenn von Antisemitismus die Rede ist, sprechen wir von diesem in all seinen Ausformungen: Diskriminierung am Arbeitsmarkt, Diskriminierung am Wohnungsmarkt, Diskriminierung im Bildungsbereich, die Schaffung bestimmter Ansiedlungsgebiete, außerhalb derer Jüdinnen und Juden nicht leben durften, Diskriminierung innerhalb der Armeen, Diskriminierung im Geschäftsleben und im politischen Leben. Gewalt und Übergriffe gab es in der Form von Schikanen, Beschimpfungen, Beleidigungen, Vergewaltigungen, Raub, Mord, Folter, Misshandlungen, Brandanschlägen und vielem mehr. Pogrome, die dieses Buch beleuchtet, stellten organisierte Gewaltausschreitungen, legitimiert durch die Mehrheitsbevölkerung, an der jüdischen Minderheit dar. Zumindest geduldet, teilweise offen gutgeheißen wurden diese durch Politik und die Russisch-Orthodoxe Kirche.
Dieses Buch soll mit mehreren Mythen aufräumen. Es soll aufzeigen, dass Antisemitismus und Judenverfolgung auch zu Zeiten des Bürgerkriegs (d. h. auch nach Absetzung der Zarenfamilie) und während der Herrschaft der Kommunisten das Leben Zigtausender Jüdinnen und Juden zur Hölle machten. Es soll aufzeigen, dass Pogrome von allen Seiten und von allen Armeen verübt wurden, nicht nur vonseiten der Weißen. Antisemitismus und Judenhass bestanden auch in der Sowjetunion weiter, nur schwächer ausgeprägt als davor. Niemand war frei, keine ethnische Gruppe. Allerdings wurden den verschiedenen nicht russischsprachigen ethnischen Gruppen, seien es Jüdinnen und Juden oder andere, darüber hinaus ihre Sprache und ihre Religion verboten, wodurch ethnische und religiöse Minderheiten wiederum mehr zu leiden hatten als die russische Mehrheitsbevölkerung.
Dieses Buch handelt großteils von Russland, doch auch andere Gebiete, vor allem die Ukraine, werden immer wieder behandelt. In der Ukraine war nicht nur Antisemitismus in besonders erschreckenden Ausmaßen ausgeprägt. Vielmehr verbinden Russland und die Ukraine Jahrhunderte gemeinsamer Geschichte und Tradition, da die Ukraine bis 1917 zum Russischen Reich gehörte und als unabhängiger Staat in der heutigen Form erst seit 1991 besteht. Dies macht eine Trennung in bestimmter Hinsicht schwierig. Vor allem aber wurde die Ukraine während des Bürgerkriegs zu einem Schauplatz für die russischen Weißen und Roten Truppen. Besonders viele Gräueltaten wurden dort von ukrainischen Nationalisten, Banden und eben auch russischen Armeen verübt, so auch Pogrome. Aus diesen Gründen behandeln etliche Seiten dieses Buches spezifisch die Lage in der Ukraine.
Hunderte Zeitzeugenberichte dienen für dieses Buch als Quelle. Briefe, Tagebücher, Notizen, Berichte und Memoiren wurden zur Beschreibung der Lebensbedingungen der jüdischen Bevölkerung während des Bürgerkriegs herangezogen. Ebenso wurden Regierungsdokumente und Veröffentlichungen der Kommunistischen Partei zu Nationalitäten-, Bildungs- und sonstigen Fragen berücksichtigt, um ein möglichst umfassendes Bild der Lage von Jüdinnen und Juden während des Bürgerkriegs zu schaffen.
Was noch für die Leser und Leserinnen zu beachten ist, ist die extrem bürokratisierte Sprache der Originaltexte, die sich auch in der Übersetzung durchschlägt. So absurd strukturiert und bürokratisch das bolschewistische Regime stratifiziert war, so lesen sich auch dessen Erlässe, Dekrete und Gesetze. Begriffe wie Komitee, Kommissariat, Rat, Konzil usw. hageln auf die Leserinnen und Leser ein, was aber niemanden entmutigen soll. Sie dienen eher dem Verständnis, wie kompliziert und bürokratisch die Gesellschaft und das Regime aufgebaut und verwaltet wurden. Den hohen Stellenwert von Bürokratie zu veranschaulichen, ist besonders wichtig, da vielen Lösungsansätzen hinsichtlich des Problems der Judenverfolgung bürokratische Hürden im Weg standen und diese Ansätze dementsprechend zu Zeiten des Kriegs nicht zielführend waren.
Ortsbezeichnungen haben sich im Laufe der russischen Geschichte immer wieder geändert. Als Beispiel dient Sankt Petersburg. Da dieses zu Zeiten des Bürgerkriegs Petrograd hieß, ist Petrograd auch die Bezeichnung, die in diesem Buch zum Einsatz kommt.
Begriffe und Namen, die für ein besseres Verständnis des Buches wichtig sind, werden im Glossar, das sich am Ende des Buches befindet, erläutert.
Die folgenden Kapitel liefern Eindrücke diverser Vorfälle und Pogrome in unterschiedlichen Gebieten Russlands und anderer Gebiete wie der Ukraine oder Weißrussland. Historisch besonders wichtige Ereignisse wie der Beilis-Fall, besondere Berichte und Empfehlungen der Behörden oder ein militärischer Aufstand jüdischer Kämpfer werden in Exkursen beleuchtet. In eigenen Kapiteln wird die Rolle der faschistischen Organisation der Schwarzen Hundertschaften, des Propagandaorgans OSVAG oder der Russisch-Orthodoxen Kirche dargelegt. Verschiedene Geschehnisse an verschiedenen Orten zu verschiedenen Zeiten des Bürgerkriegs sollen ein umfassendes Bild liefern, welchem Leid und Schrecken die jüdische Bevölkerung ausgesetzt war.
Die Anzahl an jüdischen Opfern des Bürgerkriegs ist noch immer umstritten. Realistisch geschätzt, müssen wir von etwa einer Million Betroffener ausgehen. Dieses Buch trägt dazu bei, ihren Stimmen Gehör zu verschaffen. Einhundert Jahre später stellen die Pogrome während des Bürgerkriegs noch immer ein unbequemes Thema für die Geschichtsschreibung dar. Sie werden nicht genug erforscht, nicht genug gelehrt. Einhundert Jahre später ist Antisemitismus in Russland noch immer ein großes Problem. Er besteht fort, ebenso wie andere Formen des Rassismus. Jüdinnen und Juden haben Angst, als solche erkennbar auf die Straße zu gehen. Es kommt zu Anschlägen auf Synagogen. Rechtsextreme Horden ziehen ungestraft durch Russlands Städte.
Wieder kann der Einfluss der Russisch-Orthodoxen Kirche nicht genug betont werden. Wie schon in Zeiten der Zaren arbeitet der russische Staat eng mit der Kirche zusammen. Eine durch ein autoritäres Regime gespaltene Gesellschaft schürt ethnischen Hass, sei es im Russland der Bolschewiken 1920 oder im Russland Putins 2020.
Zur Veränderung all dieser soziopolitischen Missstände, die auf Mythen, Ignoranz und mangelnder Bildung beruhen, muss das Thema Antisemitismus offen diskutiert und erforscht werden. Geschichtliche Forschung kann sich hier einbringen, um die Wurzeln der heutigen Gesellschaft zu verstehen und Probleme, die seit mehreren Hundert Jahren gleichermaßen die Gesellschaft prägen, in Angriff zu nehmen. Dieses Buch soll ein Beitrag zur europäischen Antisemitismus-Forschung sein, die nicht nur in Russland relevanter denn je erscheint.