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Wurzeln des russischen Antisemitismus: Ein kurzer Abriss vom Mittelalter bis zum Bürgerkrieg
ОглавлениеDer Russische Bürgerkrieg war in den Regionen des ehemaligen Zarenreichs von extremen Ausformungen von Antisemitismus geprägt. Dazu gehörten Angriffe auf die jüdische Bevölkerung, Massenmorde, Folter, Vergewaltigungen, Pogrome und Brandanschläge auf Häuser und Synagogen. Die Behauptung, dass die jüdische Bevölkerung unter dem Bürgerkrieg litt, wäre eine Untertreibung. Litten Russen und Russinnen, Ukrainer und Ukrainerinnen, Weißrussen und Weißrussinnen und andere ethnische Gruppen oder Nationalitäten unter dem bewaffneten Konflikt, dann litten Jüdinnen und Juden doppelt oder sogar dreifach, da sie methodisch und vorsätzlich als religiöse und ethnische Minderheit verfolgt wurden.
Während im Bürgerkrieg ganze Landstriche in einen Abgrund aus Chaos und Blutvergießen stürzten, ging die Bevölkerung ganz wie in den alten Zeiten dazu über, Jüdinnen und Juden pauschal die Schuld zu geben und Angst, Frust und Aggressionen an ihnen auszulassen. Die Einwohner und Einwohnerinnen der Schtetl wurden zur Zielscheibe wahren Terrors – zuerst vonseiten Deklassierter, Hooligans, Straßenkrimineller und gehässiger Nachbarinnen und Nachbarn durch die Zivilbevölkerung, dann auch durch die verschiedenen Armeen, bewaffnete Streitkräfte, Meuten und Banden. Gegen solche Willkür existierten keine Schutzmechanismen. Bis zum Ende des Bürgerkriegs war die jüdische Gemeinde vollständig sich selbst überlassen.
Die Straflosigkeit, die auf das Töten der jüdischen Bevölkerung an der Kriegsfront folgte, war absolut. Darüber hinaus wurde das Töten wehrloser Menschen durch die Weiße Armee und auch durch andere Armeen perverserweise als „Tapferkeit“ oder sogar „Heldenmut“ angesehen. Dementsprechend schrieb der Militär A. A. Walentinow in seinem „Krimepos“ über einen der Adjutanten der Freiwilligenarmee, der berüchtigt dafür war, 1919 innerhalb von zwei Stunden 168 Juden erhängt zu haben. Laut Walentinows Aufzeichnungen „rächte [der Adjutant, Anm.] seine Verwandten, die auf Anweisung eines jüdischen Kommissars abgeschlachtet oder erschossen worden waren“1.
Beinahe schockierender als die Morde selbst ist die Tatsache, dass ein solcher Mörder im Hauptquartier der Weißen Armee toleriert und nicht exekutiert wurde. Weiters war das Motiv jener Zeit charakteristisch: die Rechtfertigung von Hinrichtungen „aus Rache“ für die Familie, was für sich ein hässliches antisemitisches Klischee darstellte. Zur Zeit des Bürgerkriegs beruhte dieses Klischee auf dem Mythos, dass die bolschewistische Macht in Händen jüdischer Kommissare lag. Da auch die Bolschewiken mordeten, hatten die Freiwilligen der Weißen Armee ihrer Wahrnehmung nach keine andere Wahl, als kommunistische Kommissare zu töten, die wiederum laut ihren Hirngespinsten großteils Juden waren.
All dies war antisemitischer Unsinn. Aber wo lagen dessen Wurzeln? Der offizielle Grund für den Mythos jüdischer Bolschewiken stand damit in Zusammenhang, dass viele der Bolschewiken in Führungspositionen jüdischen Familien entstammten und ein Pseudonym angenommen hatten. Leo Trotzki wurde zum Pseudonym für Leib Bronstein. Lew Kamenews wirklicher Name war Lew Rosenfeld. Karl Radeks Name war Karol Sobelsohn, und W. Wolodarsky hieß in Wirklichkeit Moisei Goldstein. Wie dem auch sei, im Gegensatz zu den simplen Theorien der Antisemiten hatten die Bolschewiken mit ihren Wurzeln gebrochen und waren zu eingeschworenen Marxisten, Atheisten und Internationalisten geworden.
Der Prozentsatz von Juden und Jüdinnen zuerst in der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands und danach in der Kommunistischen Partei war tatsächlich sehr gering. Die Februarrevolution und der darauffolgende Oktoberputsch hatten politische, soziale, wirtschaftliche und historische Gründe, die mit Judentum, Ethnizität oder Religion nichts zu tun hatten.
Der antisemitische Mythos jüdischer Kommissare hielt sich dennoch hartnäckig. Grund dafür war, dass Antisemitismus in Russland tief verwurzelt war. Seine Anfänge sind bis in die jüdische Siedlung im Kiewer Rus zurückzuverfolgen, wo Ritualmordlegenden gang und gäbe waren, laut denen Juden Nicht-Juden ermordeten, um Blutopfer zu bringen. Bereits im Jahr 1113 kam es im Judenviertel Kiews zu Ausschreitungen und Pogromen sowie zu weiteren Exzessen. Die Problematik von Antisemitismus wurde damals in mehreren alten Quellen dokumentiert.2
Die feindselige Haltung der herrschenden Klasse, der Fürsten und der Orthodoxen Kirche führte zu Misstrauen, Schikanen und Hass Fremden gegenüber, und als fremd wurde auch die jüdische Bevölkerung wahrgenommen. Diese Indoktrinierung hatte die Verfolgung von Juden und Jüdinnen, den Kampf gegen die „Ketzerei der Judaisierer“, Diskriminierung und die skrupellosen Pogrome des Kosakenführers Bohdan Chmelnyzkyj im 17. Jahrhundert zur Folge.3
Über viele Jahrhunderte hinweg kann in der Politik der Großfürsten und in weiterer Folge der Zaren – von Iwan dem Schrecklichen bis zu Nikolaus II. – ein klares antisemitisches Motiv verfolgt werden. Die Folgen waren legalisierte Verfolgung durch die Verwaltung, erhöhte Steuern, Verbannungen, die Schaffung eines Ansiedlungsrayons und vielerlei juristische Verfolgung basierend auf falschen Anschuldigungen gegen Jüdinnen und Juden. Sie wurden immer wieder der Ritualmorde bezichtigt, wie zum Beispiel im Straffall des Ritualmords von Welisch (1823–1835), der sich elfeinhalb Jahre hinzog. 42 jüdische Angeklagte wurden bis zu neun Jahre in Haft gehalten, gefoltert, kamen teilweise zu Tode und wurden letztlich freigesprochen.4
1882 nahmen nach der Ermordung von Zar Alexander II. und dem Aufstieg des antisemitisch geneigten Alexander III. antijüdische Verfolgungen und Pogrome zu. Die „Maigesetze“ traten in Kraft.5 Diese restriktiven Gesetze verboten Juden und Jüdinnen, sich in ländlichen Gebieten niederzulassen, Land zu pachten, an christlichen Feiertagen Handel zu betreiben und außerhalb von Schtetln und Dörfern Grund und Boden zu erwerben. Gewalt und Unterdrückung auch durch die Verwaltung führten zur Abwanderung Tausender Jüdinnen und Juden aus den westlichen Grenzgebieten.
Abseits dieser Entwicklungen bemühten sich die Rechtsgerichteten im Russischen Reich, Revolution und Sozialismus mit angeblichem jüdischem Einfluss in Verbindung zu bringen. Einer der Ersten, der die Idee eines „fremden“ Charakters der revolutionären Bewegung in Russland formulierte, war der konservative Historiker D. I. Ilowajskij. Der Autor zahlreicher Geschichtsbücher argumentierte, dass russische Revolutionäre nichts weiter als ein blindes Werkzeug in der Hand der Polen und Juden seien.6 Andererseits, wie auch Sozialrevolutionär und Journalist Mark Wischnjak festhielt, war es wohl kaum nur die extreme Rechte, die behauptete, dass die Russische Revolution das Werk von Ausländern und Außenstehenden sei.7 Etliche politische Strömungen behaupteten dies. Wie dem auch sei, diese Vorstellung eines Imports der Revolution aus dem Westen etablierte sich in konservativen Kreisen, da sie der Elite und ihrem angeblichen Patriotismus schmeichelte.
Trotzdem ist der Hauptgrund für die erfolgreiche Etablierung von Antisemitismus in Russland anderswo zu verorten. Seine Wurzeln reichen weit zurück in die Monarchie und in den rechten Flügel der Russisch-Orthodoxen Kirche, die aktiv dem Judenhass und dessen aktiver Verbreitung verschrieben war. Insofern unterschied sich die Russisch-Orthodoxe Kirche kaum von der Katholischen Kirche und ihrer jahrhundertealten Dichotomisierung von Christen und Juden, der Aufhetzung von Christen/Christinnen gegen Juden/Jüdinnen und daraus resultierenden Kreuzzügen, mittelalterlichen Pogromen, Zwangskonvertierung zum Christentum und Verstoßung.8
Hier sei angemerkt, dass außer orthodoxem Christentum und Katholizismus auch der frühe Protestantismus von Antisemitismus durchsetzt war. Ein berühmtes Beispiel findet sich in Martin Luthers Traktat „Über die Juden und ihre Lügen“ aus dem Jahr 1543. Er hielt es für ebenso aussichtslos, Juden zu bekehren, wie zu versuchen, den Teufel zu bekehren. Dieses Traktat ist durchzogen von blutrünstigen Forderungen nach der Verfolgung von Juden und Jüdinnen sowie dem Niederbrennen von Synagogen und Schulen, dem Abriss von Häusern, der Konfiszierung heiliger Schriften wie der Tora und dem Verbot von Predigten durch Rabbis bei Todesstrafe sowie dem Verbot des Umherziehens von Juden und Jüdinnen auf Landstraßen.9
Der Autor Felix Rachlin schrieb hinsichtlich der den Juden auferlegten Rolle des Krämers und Wucherers über den Unmut und sogar Hass, den diese Rollen in der Bevölkerung hervorriefen. Laut seinen Ansichten stammte diese Zuschreibung, die den traditionellen religiösen Judenhass anheizte, vom evangelikalen Gleichnis der Kreuzigung Christi. Rachlin schrieb:
„Die Tatsache ignorierend, dass Christus selber Jude war und dass das Evangelium von Juden geschrieben worden war, haben Generationen von Christen jahrhundertelang Hass und Verachtung für ‚das Volk Judas‘, ‚Heuchler‘, ‚Selbstsüchtige‘, ‚Verräter Christi‘ genährt. Heutzutage hat sich zu all diesen Bezeichnungen der Gedanke an Juden als ‚feine Pinkel‘, ‚Intellektuelle‘, die nichts dagegen haben, ‚unseren russischen Iwan‘ an der Nase herumzuführen, hinzugesellt.“10
Tief verwurzelt und genährt durch Mythen und Legenden, Zuschreibungen an „das Fremde“, „das Andere“, waren Antisemitismus und Judenhass in Russland also seit dem Mittelalter sowie während der jahrhundertelangen Herrschaft der Zarenfamilien. Und auch das 20. Jahrhundert sollte keine Veränderung der Lage bringen.