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Die Schwarzen Hundertschaften

Russische Antisemiten stellten Russen und Russinnen Jahr für Jahr als unschuldige Opfer dar, während Juden und Jüdinnen im Gegensatz dazu als angebliche „Ausbeuter“ diskreditiert wurden. Dies widersprach komplett der Wahrheit. Russen und Russinnen machten die absolute Mehrheit im Land aus, Juden und Jüdinnen aber hatten unter jahrhundertelangen Schikanen durch die zaristische Herrschaft zu leiden gehabt, sei es durch Raub, Gewalt oder dreifache Unterdrückung in Hinblick auf Klasse, politische und ethnische Identität.

Besonders zu leiden hatten sie unter der Entwicklung einer Bewegung, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts an der Kreuzung von reaktionärem Russisch-Orthodoxem Christentum und seinem extremen Antisemitismus, von ultrarechtem Nationalismus und von Monarchismus entstand: die Bewegung der Schwarzen Hundertschaften (tschernosotenzy).11 Die Schwarzen Hundertschaften stellten bereits vor der Entstehung des Faschismus eine russische Version von Protofaschismus dar. Es handelte sich um eine organisierte Plattform extremer rechtsgerichteter Parteien, die sich zu imperialistischem Chauvinismus, Slawophilie, blinder Unterstützung der Monarchie und militantem Antisemitismus bekannten. Besonders mächtig waren sie zwischen 1905 und 1917.

Zuerst nannten sich die Anhänger dieser extrem rechtsgerichteten Ideologie „Patrioten“, „wahre Russen“ und „Monarchisten“. Doch bald gab ihr Wladimir Gringmut, einer der wichtigsten Theoretiker der Bewegung und Gründer der ersten rechten Partei namens Russische Monarchistische Partei, einen neuen Namen. Er taufte die Bewegung Schwarze Hundertschaften, eine Analogie zu Kusma Minins „Schwarzen Hundert“ aus Nischni Nowgorod. Minin war einer der Organisatoren eines Milizheeres in den Jahren 1611–1612 gegen die polnische Invasion gewesen.12

Angesichts des wohlklingenden Namens und der attraktiven historischen Parallele zum Kampf um Freiheit hielt sich die Bezeichnung. Am 3. Juni 1906 publizierte Gringmut den Artikel „Das Handbuch des Monarchisten der Schwarzen Hundertschaften“, dem er eine Liste „innerer Feinde Russlands“ beilegte. Der Ideologe russischer Faschisten teilte diese Feinde in sechs Kategorien: 1) Anhänger der Verfassung; 2) Demokraten; 3) Sozialisten; 4) Revolutionäre; 5) Anarchisten; 6) Juden.13

Gringmut wurde wegen Verhetzung der Prozess gemacht. Dennoch gewann die Bewegung der Schwarzen Hundertschaften nach den revolutionären Unruhen 1905 und der darauffolgenden politischen Reaktion rasch an Schwung. Zu ihren Gunsten wirkte die Unterstützung durch den Zaren und durch die reaktionären Kreise der Orthodoxen Kirche.

Ein bedeutsamer Teil dieser reaktionären kirchlichen Kreise bestand nicht nur aus Mitgliedern, sondern auch aus Anführern der Schwarzen Hundertschaften und ihnen zugehöriger Organisationen wie dem Bund des Russischen Volkes, dem Bund des Erzengels Michael, der Gesellschaft des Aktiven Kampfes gegen die Revolution und dem Bund der Russen.14 Der zukünftige stalinistische Patriarch Alexius I. saß zum Beispiel dem Bund des Russischen Volkes in Tula vor. Der spätere Patriarch Sergius I. segnete die Banner des Bundes des Russischen Volkes.15

Die Propaganda der Schwarzen Hundertschaften wurde in den Zeitungen „Russkoje Snamja“, „Semschtschina“, „Potschaewskij Listok“, „Kolokol“, „Grosa“, „Wetsche“, „Moskowskie wedomosti“ und in vielen weiteren verbreitet. Sogar Massenblätter wie „Kiewljanin“, „Graschdanin“ und „Swet“ verboten den Druck der Propaganda der Schwarzen Hundertschaften nicht.

Die Schwarzen Hundertschaften stellten mit ihrem reaktionären Zarismus, ihren Ochranka-Agenten und Gefängnissen als wahrer Cerberus den Gegenpol zum progressiven und revolutionären politischen Spektrum dar. Sie hassten alles Demokratische wie die Pest und organisierten die Ermordungen etlicher liberaler politischer Schlüsselfiguren.

Die größten Kritiker der Schwarzen Hundertschaften waren ihre politischen Gegner: die Anarchisten und Sozialdemokraten. Zur Unterdrückung der Anhänger und Anhängerinnen der revolutionären Bewegung 1905–1907 schrieb der Anarchist P. A. Kropotkin in einem Brief an M. I. Goldsmith:

„Die Lage ist wirklich verzweifelt. Die Schwarzen Hundertschaften werden zweimal pro Woche im Peterhof-Palast empfangen, ihnen wird volle Freiheit zum Töten auf der Straße gegeben, die sie nutzen. Natürlich greifen die Leute in einer solchen Situation nach allem. – Und da sie kein Kapital haben, fassen sie das Kapital, wo auch immer sie können … Das ist eine Carte blanche für alle Gauner. Und sie nutzen sie! Im Taganskaja-Gefängnis hängen sie jeden Tag Menschen, vor den Insassen … Der Verfall ist absolut.“16

Auch der russische Philosoph N. A. Berdjanew schrieb 1909 in einem „Offenen Brief an Erzbischof Antonij“ über den Bund des Russischen Volkes, eine Massenorganisation monarchistischer Schwarzer Hundertschaften, die nicht nur gegen die Revolution, sondern gegen die grundlegende Idee demokratischen Parlamentarismus vorgehen wollte:

„Der ‚Bund des Russischen Volkes‘ ist ganz Boshaftigkeit, ganz Hass, seine Taten erschreckend und verführerisch, er schürt Bruderzwist in der russischen Bevölkerung und Gesellschaft, er erschwert umso mehr die religiöse Wiederauferstehung unseres Mutterlandes. Und ist es möglich, die verführerische Rechtfertigung der Hierarchen der Kirche dieser bösartigen, brudermörderischen, unchristlichen ‚Politik‘ zu ertragen?“17

Exkurs: Der Beilis-Fall

Politische Reaktion, Schikanen und Diskriminierung, Agitation der Schwarzen Hundertschaften, Verleumdung in der Presse und Pogrome stellten nur einen Teil der Irrungen und Wirrungen dar, denen die jüdische Bevölkerung des Russischen Reichs ausgesetzt war. Dazu gehörten zahllose Neuauflagen der gefälschten „Protokolle der Weisen von Zion“ mit ihrer Theorie der „jüdisch-freimaurerischen Verschwörung“, auf deren Publikation bloß Straflosigkeit folgte. Ein weiterer Rückschlag für die jüdische Gemeinde war der berühmte Beilis-Prozess in Kiew 1913, im Zuge dessen Menachem Mendel Beilis des Ritualmords am zwölf- oder dreizehnjährigen Burschen Andrej Juschtschinksi angeklagt wurde.18

Der Prozess wurde von massiver antisemitischer Hysterie und verunglimpfender Verleumdung begleitet. Der Beilis-Prozess gestaltete sich von Anfang an widerrechtlich und widersprach komplett dem Erlass von Alexander I. vom 6. März 1817. Dieser hatte ein für alle Mal den Behörden verboten, Mordermittlungen mit religiöser Bedeutung aufzuladen. Trotzdem wurde der Beilis-Fall zum wichtigsten Prozess des Reichs. Er wurde zu einer klaren Demonstration dafür, wie tief Antisemitismus die Gesellschaft durchdrungen hatte, darunter auch das Innenministerium, das Justizministerium, das Gerichtswesen, die Staatsanwaltschaft, die Polizei, die Gerichtsmedizin. Antisemitismus korrumpierte diese Ebenen derartig, dass sie trotz offenkundiger Tatsachen und aufgrund des Meineids und Betrugs durch die Staatsanwaltschaft den Schwarzhundertschaften in ihrer Theorie des „Ritualmords“ durch die Zaddiken zustimmten.

Letztendlich fruchtete erst ein langer und hartnäckiger Kampf vor Gericht, um den Freispruch und die Freilassung von Beilis, einem unschuldigen Vater mehrerer Kinder, zu erwirken. Dieser Streit vor Gericht sowie öffentliche Proteste sowohl in Russland als auch auf internationaler Ebene verwandelten den Beilis-Fall von der Beschuldigung eines jüdischen Angestellten in einer Ziegelfabrik in einen globalen Kampf für Gerechtigkeit und gegen Antisemiten.19

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