Читать книгу OMMYA - Freund und Feind - Dennis Blesinger - Страница 5
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Оглавление»Ich mach mich gleich auf den Weg«, meinte René ins Telefon, während er die Ruhe genoss, die jetzt im Lager herrschte. Rebecca hatte sich gemeldet und erklärt, dass sie ihre Verabredung etwas verschieben mussten, was ihm ganz recht war. Er ließ den Tag gerne mit einem Rundgang durch das Lager ausklingen. Nicht so sehr, um zu kontrollieren, ob alles in Ordnung war. Das war es nicht. Das würde es auch nie sein. Und genau dies war wichtig. Es erinnerte ihn daran, dass sie hier genau einen halben Schritt vom Chaos entfernt waren. Unbekümmertheit war etwas, das bei OMMYA absolut fehl am Platz war.
»Entschuldige nochmal«, meinte Rebecca. Sie klang verärgert. Halloween warf seine Schatten voraus und auch wenn es hierzulande nicht so populär war wie in anderen Ländern, so war die Anzahl der Vorfälle, die kostümierte Kinder und Jugendliche beinhaltete, während der letzten Jahre stetig gestiegen.
Gerade als sie sich dazu bereitgemacht hatte, das Büro zu verlassen, war die erste Gruppe Minderjähriger eingetroffen, verkleidet als Teenage Mutant Ninja Turtles. Auch wenn die Sache eigentlich nicht in ihre Zuständigkeit fiel, schließlich arbeitete sie offiziell bei der Mordkommission, so war sie dennoch dageblieben, um sicherzustellen, dass es sich bei den vier Individuen um Jugendliche, und nicht wirklich um mutierte Schildkröten handelte. René hatte alles, was er an Selbstbeherrschung besaß, gebraucht, um nicht laut loszulachen. Es brauchte ein wenig, um ein Gefühl dafür zu bekommen, welche Meldungen als normal einzustufen waren und welche einer besonderen Beobachtung bedurften.
»Du musst dich nicht entschuldigen«, versuchte er sie zu beruhigen. »Was haben die Jungs ausgefressen?«
»Michelangelo hat mit seinen Nunchacku herumgespielt und einem Passanten dabei fast den Schädel eingeschlagen. Wir mussten auf die Eltern warten.«
»Wenigstens hat er keine Wurfsterne benutzt.« Ein humorloses Lachen erklang aus dem Lautsprecher.
»Halbe Stunde?«
»Alles klar. Bis gleich.«
René steckte das Telefon ein und ließ seinen Blick ein letztes Mal über das Meer von Artefakten gleiten, die auf dem halben Quadratkilometer um ihn herum gelagert waren. Alles war ruhig, selbst der Phönix hatte sich zur Ruhe gelegt und schlief in seinem Käfig. Er schob sich an einem Regal vorbei, das die Lagerarbeiter halb im Gang hatten stehen lassen, und wanderte gemächlichen Schrittes in Richtung Ausgang. Er blickte auf die Uhr. Zehn nach neun. Fast pünktlich. Ein silberner Funkenstrahl war in einiger Entfernung zu erkennen, den er als den Schweif von einer der Pixies identifizierte.
»Gute Nacht, Wendy«, rief er halblaut in den Raum hinein, dann wandte er sich der Tür zu und verließ das Lager.
* * *
Christopher blickte auf seine Uhr. Halb eins. Er gähnte ausgiebig. Auch wenn er bereits seit mehreren Tagen die Nachtschicht hatte, so konnte er sich nicht daran gewöhnen, mitten in der Nacht wach zu sein. Hier machte es eigentlich keinen Unterschied, wie er wusste. Die gesamte Anlage von OMMYA befand sich zwanzig Meter unter dem Erdboden und kein Tageslicht drang jemals nach hier unten. Dennoch weigerte sich etwas ihn ihm, den natürlichen Schlafrhythmus komplett auf den Kopf zu stellen. Darüber hinaus war die Beleuchtung der Zentrale der Tageszeit angepasst, was bedeutete, dass nachts ein Dämmerlicht herrschte, was die Müdigkeit bei ihm nur noch verstärkte.
Langsam arbeitete er sich durch die Listen der Inventur. Sie lagen deutlich hinter dem Zeitplan, und er hatte keine Lust, morgen Abend noch an der Sache zu sitzen.
In seine Arbeit vertieft, entging ihm die Bewegung, die am anderen Ende der Zentrale stattfand, ebenso wie das leise Summen, als sich das Handy von Honk meldete, der wie üblich am Eingang stand. Der Wachmann brauchte quasi keinen Schlaf, war imstande, sich im Stehen auszuruhen und damit zufrieden, mehrere Tage hintereinander seinen Job zu erledigen, ohne auch nur eine Miene zu verziehen.
Die Nachricht, die Honk auf dem Display las, führte jedoch zu einer dieser wenigen Gelegenheiten. Erstaunt runzelte er die Stirn und blickte sich um. Nur wenige Schreibtische waren besetzt, alle Mitarbeiter waren jedoch mit irgendwelchen Arbeiten beschäftigt. Der große Bildschirm, der die Zentrale dominierte, spulte stumm und langsam die eingehenden Daten und Meldungen ab. Am anderen Ende der Halle saß Christopher in dem kleinen Büro, das tagsüber von René und Jochen benutzt wurde, und starrte abwechselnd auf drei Bildschirme und die Papiere, die vor ihm lagen. Alles war ruhig. Er überlegte eine Weile, dann trat er zu dem Mitarbeiter, der am nächstgelegenen Tisch saß.
»Ich muss mal kurz weg«, ertönte seine tiefe Stimme. Der Mitarbeiter sah verwirrt auf. Honk blickte ernst, aber ruhig auf ihn herab.
»Stimmt was nicht?« Es war ungewöhnlich, dass Honk seinen Posten verließ. Der Wachmann schüttelte den Kopf.
»Nein. Nachricht von der Ärztin.« Er hielt sein Handy hoch. In der Hand eines anderen hätte es als Tablet-PC durchgehen können. Sie hatten Monate gebraucht, um ein Modell zu finden, das Honks außerirdischer Physis entgegenkam.
»Wird nicht lange dauern.«
»Alles klar.« Der Blick des Angestellten glitt hinüber zu der schweren Tür, dann zu dem muskelbepackten Außenweltler, der sich langsam in Richtung Krankenstation entfernte. Offiziell war es nicht gestattet, dass der Hauptein- und -ausgang unbewacht blieb. Jedoch war es mitten in der Nacht und sollte jemand auf die Idee kommen, sich ohne Autorisierung Zutritt zu verschaffen, würden diverse Alarme losgehen, noch bevor die erste Sicherheitsabfrage beendet sein würde. Vom Verlassen der Anlage ganz zu schweigen. Nichtsdestotrotz behielt er die Tür im Blick, nur für den Fall der Fälle. Als er nach etwa zwei Minuten erneut aufblickte, ging das Licht aus.
Christopher brauchte eine Sekunde, bis er sich von der Überraschung erholt hatte. Im Stockdunkeln saß er da und zählte langsam bis zehn. Er konnte nicht fassen, dass so etwas schon wieder passierte, während er das Kommando hatte.
Vor knapp zwei Jahren hatte der Phönix den Feueralarm ausgelöst und die komplette Zentrale war unter Wasser gesetzt worden. Es hatte mehr als einen Tag gebraucht, alles trocken zu legen und die Geräte wieder zum Laufen zu bringen. Just zu diesem Zeitpunkt war René aufgrund eines Trauerfalls abwesend gewesen und Jochen hatte Urlaub gehabt. Alle waren sich einig gewesen, dass Christopher die Situation so souverän wie nur möglich gemeistert hatte, was in der gegenwärtigen Situation jedoch nicht im Geringsten half.
Im Gegensatz zu damals war keinerlei Alarm zu hören, nur das leise Fluchen der anderen Mitarbeiter, die, wie er, plötzlich vor schwarzen Bildschirmen saßen. Glücklicherweise hatte Sahra seinerzeit eine Routine installiert, die die Daten alle dreißig Sekunden speicherte. Der Schaden würde also überschaubar sein.
* * *
Es war dunkel. Die Tür bewegte sich einige Millimeter, stand anschließend still. Kein Geräusch ertönte. Schließlich schwang die Tür wie in Zeitlupe ganz auf und verharrte. Dann, unsichtbar in der Dunkelheit, betraten mehrere Gestalten die dunklen und stillen Gewölbe der Halle 1 des Lagers von OMMYA.
Nachdem der Letzte der Truppe das Tor durchschritten hatte, erklangen die Geräusche einer kurzen geflüsterten Unterhaltung, die jedoch schnell beendet wurde. Schritte von schweren Stiefeln hallten durch die weitläufige Halle. Wieder kehrte Ruhe ein, das Scharren von Holz auf Stein war zu hören, das Knarren von Scharnieren, das Knistern von Papier, dann ein Zischen, das vielleicht ein Seufzer hätte sein können. Dann wieder Schritte. Das stählerne Tor ragte in der Dunkelheit auf wie ein Berg in der Nacht, ebenso hoch wie undurchdringlich. Das Rascheln von Papier erklang erneut, gefolgt von dem charakteristischen Piepen einer Konsole, auf der Zahlen eingegeben wurden. Dem leisen Knirschen von Zahnrädern folgte das donnernde Rumpeln der Tür, die sich in den Angeln bewegte.
* * *
Christopher suchte im Schein seines Handys in der Schublade nach der Taschenlampe, als das rumpelnde Geräusch des sich öffnenden Tores erklang, das zum Lager führte. Im Dunkeln schien es ihm, als ob das Geräusch doppelt so laut erklang.
Wenigstens funktionieren die Türen noch, dachte er, als er sich mit der Taschenlampe auf den Weg machte. Das Gemurmel der Mitarbeiter ging in dem andauernden Rumpeln der Tür beinahe unter. Im Dunkeln sah Christopher mehrere Gestalten, die aus dem Lagerbereich in die Zentrale vordrangen. Er grunzte missvergnügt, während er sich der Gruppe näherte.
»Wirklich witzig, Jungs«, meinte er, ohne jeglichen Humor in der Stimme. »Ihr wisst ganz genau, dass Halloween abgesagt worden ist. Wenn René oder Jochen das mitbekommen, reißen sie euch den Kopf ab.«
Noch während er sich dem Vordersten aus der Gruppe näherte, änderte sich seine Meinung. Die Kostüme waren wirklich gut. Im Schein der Taschenlampe sah es fast so aus, als ob es sich wirklich um lederne Rüstungen handelte, und so, wie es aussah, hatten die Jungs eine Menge Arbeit in die Masken gesteckt. Die grün-graue Haut sah beinahe echt aus.
Noch während er überlegte, wie er die Angelegenheit regeln konnte, um den Mitarbeitern möglichst wenig Schwierigkeiten zu bereiten, fuhr der Kopf desjenigen herum, der ihm am nächsten war. Die gelben Augen waren das erste Indiz, das Christopher daran zweifeln ließ, dass es sich hier um eine Gruppe Mitarbeiter handelte, die einen Halloweenstreich spielten. Der Streitkolben, der ihn seitlich am Kopf traf, das zweite.
* * *
»Sachte.«
Die Stimme klang schwammig in seinen Ohren. Als er die Augen öffnete, drohte der Schmerz seinen Schädel zu spalten, also schloss er sie wieder.
»Wsn?«, nuschelte er.
»Bleib liegen«, sagte die Stimme, die Christopher als die von Sahra identifizierte. Etwas Kaltes berührte seinen Kopf und sorgte dafür, dass die Schmerzen kurzfristig abebbten. »Sophia ist unterwegs.«
Dreißig Minuten später war die Ärztin zu dem Schluss gekommen, dass Christopher ungeheures Glück gehabt hatte. Sein Kopf war da anderer Meinung, aber der Streifschlag hatte ihn nur ins Land der Träume geschickt, wenn auch äußerst unsanft. Wäre der Treffer zehn Zentimeter näher an der Mitte des Schädels gelandet, würde er jetzt im Koma liegen.
»Was zum Teufel ist passiert?«, fragte er Sahra, die ihn aufmerksam beobachtete und nach Anzeichen Ausschau hielt, die über die einer normalen Gehirnerschütterung hinaus gingen. Ein verwirrtes Kopfschütteln war die Antwort.
»Keine Ahnung«, meinte sie. »Das Licht ist ausgegangen. Ich war auf dem Weg zum Sicherungskasten, als es wieder angegangen ist. Dann bin ich hierher gekommen und hab euch gefunden.«
Christopher blickte sich um. Mehrere Mitarbeiter lagen auf dem Boden oder saßen zusammengesunken in ihren Sesseln, während Sophia ihren letzten Patienten untersuchte. Schließlich, nachdem sie auch ihm einen Eisbeutel auf die Kopfwunde gedrückt hatte, erhob sie sich und kam langsam auf die beiden zu.
»Es grenzt an ein Wunder, dass niemand wirklich verletzt wurde.« Christopher warf ihr einen Blick zu, der klar aussagte, dass er ihre Einschätzung der Lage nicht teilte. Sie nickte entschuldigend. »Lebensgefährlich, sollte ich vielleicht sagen. Wir haben drei Kopfwunden, von denen eine genäht werden muss, und einen Schlüsselbeinbruch. Können Sie mir mal sagen, was hier passiert ist?«
Anstatt einer Antwort wanderte Christophers Blick zum anderen Ende des Raumes, wo Honk stand. Der Hüne machte einen unglücklichen Eindruck. Zugleich glaubte Christopher zu erkennen, dass er unglaublich wütend war. Das, was Christopher jedoch am meisten beunruhigte, war der Umstand, dass die Tür, vor der er wieder seinen Posten bezogen hatte, offen stand. In kurzen und knappen Worten berichtete er den beiden Frauen, an was er sich erinnern konnte. Bevor einer der drei ein weiteres Wort sagen konnte, ertönte ein schriller Alarm. Verwirrt schossen mehrere Blicke durch den Raum. Nichts gab Anlass zu vermuten, dass ein weiterer Zwischenfall bevorstand.
»Was ist mit – ?«
Das Zischen der Eingangstür, neben der Honk stand, mischte sich mit dem Rumpeln der Stahlschotts, die das Lager von der Zentrale trennten. Als sich die Türen mit einem leisen Rumms geschlossen hatten, wanderten die Blicke allesamt zu Christopher, der die Augen geschlossen hatte und ein leises Stöhnen von sich gab.
»Ich will nach Hause.« Mehr brachte er nicht zustande. Zumindest, so ging es ihm durch den Kopf, während er vorsichtig aufstand und langsam in Richtung Büro ging, war die Sprinkleranlage nicht aktiviert worden. Er blickte auf die Uhr. Ein Uhr siebzehn. René und Jochen würden begeistert sein.