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Die Fahrt verlief weitestgehend ruhig. Marc beglückwünschte sich einmal mehr zu der Entscheidung, damals einen Kombi zu kaufen anstatt eines Kleinwagens, während sie durch die Nacht aus der Stadt herausfuhren in Richtung Wald, wo sie die Artefakte zu verbrennen gedachten. Der gesamte hintere Teil des Wagens war vollgestopft mit allem, was sie im Keller des Hauses und im Wohnzimmer hatten finden können und das auch nur den Eindruck machte, im Zusammenhang mit dem Gemetzel, das unten stattgefunden hatte, in Verbindung zu stehen.

Zuletzt hatten sie die sterblichen Überreste von Samael aufgesammelt und in einen doppelwandigen Müllbeutel gestopft. Dann war Vanessa mit einer Flasche Bleiche über die Stelle gegangen und hatte auf diese Art und Weise alle Spuren, die auf Samaels Hinscheiden hindeuteten, zumindest verschleiert, wenn nicht sogar vernichtet.

Nach einer Weile hatte Nadja sich aus ihrer Schockstarre gelöst und mit angepackt, sich jedoch eines Besseren besonnen, als das enervierende Schweigen, das ihre beiden Geschwister aufrecht erhielten, ihr zunehmend auf das Gemüt schlug. Sie hätte sich besser gefühlt, wenn Marc sie angeschrien, wenn Vanessa ihr mit ihrem sehr eigenen Blick eine Strafpredigt gehalten hätte. Selbst eine Ohrfeige wäre willkommen gewesen. Sie wusste, dass keiner der beiden jemals zu derartigen Mitteln greifen würde. Körperliche Gewalt war für Marc und Vanessa nicht etwa die letzte Option, sie stand völlig außer Frage. Bevor einer der beiden Nadja auch nur eine Ohrfeige geben würde, würden sie sich wahrscheinlich eher die Hand abhacken. Hier und jetzt wünschte sich Nadja jedoch beinahe, dass es anders wäre. Dieses Schweigen war schlimmer als alles andere.

Sie saß neben Sven auf dem Rücksitz und versuchte sich auszumalen, was für eine Strafe sie erwartete. Mit Hausarrest würde es nicht getan sein. Wenn sie Glück hatte, würde sie zu ihrem sechzehnten Geburtstag wieder alleine das Haus verlassen dürfen. Niedergeschlagen blickte sie aus dem Fenster und versuchte herauszubekommen, wo sie hinfuhren. Alles, was sie sah, waren Landstraßen und Bäume. Mit jeder Minute, die verging, desto mehr Bäume sah sie.

»Los, buddeln!«

Nadja fing die Schaufel mit zittrigen Händen auf und blickte sich um. Nach mehr als einer Stunde Fahrt hatte Marc den Wagen schließlich am Rande einer kleinen Lichtung angehalten.

Als sie sicher waren, dass niemand sie beobachtete, war Marc auf einen kleinen unbefestigten Seitenweg abgebogen, dem sie etwa einen Kilometer weit gefolgt waren. Er war als Kind gerne hier gewesen, hatte Stunden damit verbracht, in der Wildnis imaginäre Forts und Schlösser zu bauen, Abenteuer zu erleben und sich mit den Bäumen zu unterhalten, sofern diese denn einer Unterhaltung zugänglich gewesen waren. Speziell Letzteres war der Grund für seine regelmäßigen Verspätungen gewesen. Bäume dachten langsam, und er hatte mehr als eine Mahlzeit verpasst, während er auf eine Antwort gewartet hatte, wissend, dass kaum jemand hierher kam, wenn denn überhaupt jemals. Es tat ihm leid, dass dieser Ort nun alles verlieren würde, was er an Unschuld und Reinheit besaß, aber es war der erste und einzige Ort, der ihm eingefallen war für das, was sie vorhatten. Das Waldgebiet, in dem sich die Lichtung befand, lag ein gutes Stück entfernt des nächsten Wohngebietes und mittlerweile war es stockdunkel.

Ohne auf eine Antwort zu warten, nahm Marc sich einen Spaten, den sie ebenfalls in den Wagen geladen hatten, und begann im Scheinwerferlicht, die Grasnarbe aufzustechen. Schweigend machten sich Vanessa und Nadja an die Arbeit, das Loch mit auszuheben, in dem sie den Leichnam von Samael zu vergraben gedachten.

Obwohl die Polizei der ursprüngliche Grund gewesen war, die Leiche verschwinden zu lassen, so war der strafrechtliche Aspekt der unwichtigste, wie sie festgestellt hatten. Abgesehen von dem weitestgehend fehlenden Kopf war auch der restliche Körper durch die Besitzergreifung durch den Dämon stark in Mitleidenschaft gezogen worden. Eine ärztliche Untersuchung der Überreste hätte Fragen aufgeworfen, die sich rein medizinisch nicht würden erklären lassen.

Eine rasche Untersuchung hatte ergeben, dass die Fingerabdrücke nicht mehr als solche erkennbar waren und die Haut eine unmenschliche lederne Beschaffenheit angenommen hatte. Laut Sven war es darüber hinaus üblich, dass während des Prozesses der Besitzergreifung durch einen Dämon die gesamte innere Struktur des Körpers radikal verändert wurde. Wahrscheinlich hätte eine Autopsie Organe gefunden, die in keinem medizinischen Lehrbuch standen.

Die diesen Erkenntnissen folgenden Überlegungen und Untersuchungen durch die Behörden waren genau das, was sie vermeiden wollten. Darüber hinaus war da noch die von Sven angesprochene Möglichkeit, dass der Dämon zurückkehren könnte, um den Körper erneut zu besetzten und gegebenenfalls wieder zu heilen.

Nachdem sie eine viertel Stunde lang schweigend gegraben hatten, begann es zu regnen.

Es klatschte dumpf und nass, als der Körper auf dem Boden des nassen Loches aufschlug. Ohne auch nur eine Sekunde lang innezuhalten, machten sie sich daran, das Loch zuzuschaufeln und anschließend die Grasnarbe wieder festzutreten.

»Ich weiß, es ist … « Nadja wischte sich den Regen aus dem Gesicht. Sie war wie alle anderen bis auf die Haut durchnässt, beide Hände wiesen Blasen von der ungeübten Arbeit auf, und jede Faser in ihrem Körper schrie nach einer Pause. Hätte sie gewusst, wie sehr Marc und Vanessa von ihrer stillschweigenden Mitarbeit beeindruckt waren, hätte sie sich deutlich besser gefühlt. Jetzt stand sie neben dem Grab und blickte die drei Erwachsenen an, die ebenso erschöpft wie sie aussahen.

»Danke.« Die Tränen, die sie während der letzten beiden Stunden, seit die drei ihr zur Hilfe geeilt waren, unterdrückt hatte, brachen nun aus ihr heraus. Schluchzend und am ganzen Körper zitternd, sank sie auf die Knie.

Es dauerte eine Weile, bis sie realisierte, dass jemand sie bei den Händen fasste und in die Höhe zog. Die Umarmung war überraschend sanft, und sie genoss das Gefühl, sich anlehnen zu können und für den Augenblick nicht mehr die Schuldige, sondern das Opfer sein zu können. Als sie aufblickte, war sie überrascht, in Marcs Augen zu blicken und nicht in die von Vanessa. Marc blickte sie ernst, aber sorgenvoll an, strich ihr das nasse Haar aus dem Gesicht und schüttelte schließlich den Kopf.

»Du sitzt immer noch tief in der Scheiße, das weißt du, oder?« Sein Blick sagte klar und deutlich aus, wie ernst er es meinte, seine Stimme hatte jedoch die Schärfe der letzten beiden Stunden verloren. Sie nickte stumm. Er legte einen Arm um sie und führte sie zu den anderen beiden, die in der Zwischenzeit die restliche Ladung aus dem Auto geholt und ein Stück weiter unter dem Schutz der Bäume zu einem Haufen aufgestapelt hatten.

»Ich hoffe, das brennt ordentlich.« Sven ging mit einem Propangasbrenner um den Haufen herum und legte an verschiedenen Stellen Feuer.

Nach mehreren Minuten standen sie um ein erfreulich warmes Feuer herum, das trotz des Wetters munter brannte. Nachdem die Schriftrollen, Vorhänge, Bücher und die restlichen Gegenstände, die sie aus der Wohnung geschafft hatten, zu nicht mehr identifizierender Asche und Kohle verbrannt waren, blickten sie sich an. Wie auf ein Stichwort wandten sie sich ab und gingen zurück in Richtung des Wagens.

»Das sollte reichen, oder?«, fragte Marc.

»Ich hoffe«, gab Sven seine Unsicherheit offen zu. »Mir fehlen ein bisschen die praktischen Erfahrungswerte. Und ich kann erst mit Sicherheit sagen, mit was wir es hier zu tun haben, wenn ich die Aufzeichnungen und Fotos, die ich gemacht habe, in Ruhe ansehen kann.« Er schüttelte den Kopf. »Solange wir alles vernichtet haben, was wichtig war, sollten wir eigentlich auf der sicheren Seite sein.«

Nadja, die den Erwachsenen in einigen Metern Entfernung folgte, rieb sich die Augen. Sie sehnte sich nach einem Bett! Etwas Kaltes auf ihrer Haut ließ sie innehalten. Sie blickte auf ihre Hand und realisierte, dass sie immer noch den Ring trug, den die Mitglieder der Séance von Samael erhalten hatten. Unauffällig versuchte sie, den Ring vom Finger zu ziehen, was jedoch nicht funktionierte. Obwohl er nicht sonderlich eng anlag, bekam sie das Ding nicht vom Finger. Er ließ sich nicht einmal einen halben Millimeter bewegen.

»Verdammt!«

Alle blickten sich um und sahen, wie Nadja da stand, eine Hand in der anderen, und mit dem Ring kämpfte.

»Was ist?«, fragte Vanessa, die merkte, dass Nadja nicht nur müde und verärgert, sondern auch beunruhigt war. Schließlich ließ Nadja von dem Ring ab und hob die Hand.

»Ich glaube, wir haben ein Problem«, meinte sie kleinlaut.

Das Glühen auf der anderen Seite der Lichtung ließ Marc die Erwiderung, die er auf den Lippen hatte, vergessen. Violette Schemen, durchsetzt mit schwarzen, gelben und roten Funken, hingen wabernd in der Luft und gewannen mit jeder Sekunde an Intensität. Alle vier Personen blickten auf das Phänomen, verwirrt und aufs Höchste alarmiert. Als sie begriffen, dass die Lichter dort erschienen waren, wo sie Samaels Leiche vor weniger als einer dreiviertel Stunde vergraben hatten, war es bereits zu spät.

Ein erschrockener Aufschrei von Nadja ließ den Rest der Gruppe herumfahren. Panik war auf Nadjas Gesicht zu erkennen, als sie langsam, wie in Zeitlupe, nach oben schwebte und dann, als sie sich schätzungsweise einen halben Meter über dem Erdboden befand, auf das Leuchten zubewegte.

»Was – Hilfe!«

Marc setzte sich in Bewegung, die beiden anderen dicht hinter ihm, Nadja hinterher, die mittlerweile mehr als zehn Meter zurückgelegt hatte und erfolglos gegen das ankämpfte, das sie mit zunehmender Geschwindigkeit und gegen ihren Willen zu dem Leuchten hin zog. Sie versuchte, einen Ast zu packen, als sie daran vorbei schwebte, doch der Regen hatte das Holz glitschig gemacht. Hektisch atmend merkte sie, wie sie langsam abrutschte.

In der Dunkelheit bemerkte Marc die Wurzel erst, als er darüber stolperte. Bevor er sich wieder aufrappeln konnte, wurde er wieder zu Boden geworfen, als Vanessa von hinten in ihn hineinrannte und ebenfalls zu Boden ging.

Der Schrei, den Nadja ausstieß, als der Ast ihrem Griff entglitt, und sie haltlos und unfähig, ihren Kurs zu ändern, auf das Leuchten zuschoss, hallte schrill durch die Nacht. Sven, der Marc und Vanessa ausgewichen war, nahm alle Kraft zusammen, die er hatte, und legte einen verzweifelten Sprint hin. Nadja blickte sich um, um das, worauf sie zu schwebte, zu erkennen. Die Schemen hatten weiter an Leuchtkraft gewonnen und bildeten Formen, die ihr einen schweren und kalten Knoten in der Magengegend bescherten. Nicht wenige dieser Schemen hatte sie vor einigen Stunden in einem Kellerraum gesehen, über einem schweren Holztisch schwebend. Sie wandte den Blick in Richtung Sven und streckte verzweifelt die Hand nach ihm aus, der weniger als einen Meter von ihr entfernt war, als sie das Leuchten berührte.

Die Wucht der Druckwelle, die von dem Leuchten ausging, hob Sven von den Füßen und ließ ihn fast bis zu der Stelle fliegen, an der Marc und Vanessa immer noch dabei waren, sich wieder aufzurichten. Blendend helle Blitze erschienen, zwangen Marc, Vanessa und Sven dazu, die Augen zu schließen. Ein ohrenbetäubender Knall ertönte, und dann war es vorbei.

In der Dunkelheit hörte man die Geräusche des fallenden Regens, das Scharren, als Vanessa, Marc und Sven sich wieder aufrichteten, und das Rascheln der Blätter im Wind. Nichts war zu sehen von dem, was soeben geschehen war. Das Leuchten war erloschen, die Nacht war dunkel und still, und von Nadja war keine Spur zu entdecken.

In einiger Entfernung traten zwei Personen an den Rand der Lichtung und blieben stehen, gerade noch in der Deckung der Bäume verbleibend. Zwei Augenpaare waren fest auf den Punkt gerichtet, an dem bis gerade eben noch wabernde Schemen in der Luft gehangen hatten. Auf den Gesichtern der beiden war Unbehagen, Angst und Erschöpfung zu erkennen, jedoch auch ein ungesundes Verlangen, das sich in ihren Blicken widerspiegelte. Keiner von beiden sprach ein Wort.

Magische Bande

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