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Lokusfokus

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«Drecksprovinz.»

«Warten Sie doch erst einmal bis die Sonne aufgeht!»

«Hier ist der Arsch der Welt. Da kommt keine Sonne hin!»

«Oh, da drüben … ein Feldhase! Haben Sie ihn gesehen? Er war süß!»

«Interessiert mich nur zum Mittagessen. Durchgebraten.»

«Sie haben keine gute Meinung von der Gegend hier.»

«Die Bäume sehen aus wie Schamhaare von dem Arsch, von dem ich gerade sprach.»

Die Scheinwerferlichter des grasgrünen Fünfer BMWs mit Rostansätzen beglitzterten die Katzenaugen der weißen Straßenpfosten, durch deren Köpfe die schwarzgelben Schneestangen gejagt worden waren, um im Falle eines intensiven Schneebruchs die dann unpassierbare Straße wieder zu finden. Sie passierten eine Doppelkurve gleich am Ortseingang. Sie erreichten eine Einmündung.

An den Augenwinkeln des Fahrers schlängelte sich ein gelbes Verkehrsschild vorbei: «Erkersreuth 6 km». Darunter: «Landesgrenze 5 km». Sie bogen nach rechts ab. Die Hinterräder drehten auf dem Schnee kurz durch. Neben der Straße türmte sich der wie tote, unter die unbarmherzigen Räder gekommen Tiere beiseite geschaffte Schnee am Straßenrand. Vor den alten Häusern lagen unter Vordächern oder mit Schnee zugeschütteter Planen unzählige, ordentlich gestapelte Scheite Holz. Die Kamine rauchten wie ein Nikotinabhängiger. Die Lunge des Fahrers gierte daraufhin nach Schmok. Er atmete tief durch.

«Winter scheint hier Gewohnheit zu sein. Und damit meine ich nicht mich!», scherzte seine Beifahrerin.

Es kam kein Lachen oder Grunzen über ihren Wortwitz. Er stellte den Scheibenwischer an, um einige klebrige Schneeflocken von der Windschutzscheibe zu verjagen. Die Heizung lief auf volle Pulle und doch war der Beifahrerin kalt.

«Sie haben doch Straßenlaternen! Also gibt es Strom!», brummte der Fahrer, der das knochendünne Lenkrad fest in seinen Händen hielt.

«In einigen Häusern brennt doch auch Licht.»

«Kerzen haben auch Licht. Sie scheinen mit ihrem Feuer. Es verwundert mehr, dass die hier tatsächlich noch diesen weißen Scheiß rumliegen haben! Ich hasse weißen Scheiß. Zumindest diesen weißen Scheiß.»

Oberkommissar Tief stellte das Radio lauter.

«Hier ist Bayern 3 mit den Nachrichten. Es ist Sonntag, der 3. März 1985, fünf Uhr. Guten Morgen. Moskau. Es vermehren sich die Anzeichen, dass Konstantin Tschernenko, Generalsekretär der KPdSU schwer erkrankt sei und im Sterben liege. Seitens Moskau wurden die Angaben weder bestätigt noch dementiert. Bonn. Peking. Nicht bestätigt wurde die Nachricht, dass es bei dem Erdbeben in China am vergangenen Freitag mehr als hundertfünfzig Tote zu beklagen gibt. West-Berlin. Unbestätigten Informationen aus diplomatischen Kreisen zufolge wird ein weiterer Agentenaustausch vorbereitet. Näheres ist nicht bekannt.»

«Vielleicht war ein Ossi unser Mörder!»

«Ein … was?»

Die frisch beförderte Kommissarin Julia Winter verlor kurz den Blick auf die schmale Straße.

«Ein Ossi! Ein Ostdeutscher! Also kein Ostfriese oder so. Wenn so ein DDR-Agent in den Westen getauscht wird, braucht er Verwendung.!»

«Als Mörder? Auftragskiller?»

«Wie auch immer. Ist Ihnen bei den Nachrichten was aufgefallen?»

«Nur Nachrichten den Osten betreffend?»

«Keine Nachrichten. Das waren überhaupt keine Nachrichten. Nur Vermutungen. Spekulationen. Hypothesen, Westpropaganda. Nichts Greifbares.» Er gähnte auf, als plötzlich …

«Hier! Hier!?», schrie Kommissarin Winter plötzlich auf.

Bestürzt trat Oberkommissar Tief mächtig auf in die Bremsklötze. Der Wagen mit Heckantrieb und mehligen Kartoffelsack im Kofferraum schleuderte unwirsch nach rechts aufs Bankett bis der BMW schließlich keuchend in einem Schneebergl zum Stehen kam.

Der Wetterbericht vermeldete möglichen weiteren Schnee. Nach der Verkehrsübersicht, die vor Schnee auf den Straßen warnte, folgte «One Night in Bangkok» von Murray Head.

«Da wäre ich jetzt auch gerne.»

«Wo?»

«In Bangkok, Mädel! Heiß. Super heiß.»

«Ja, das wäre wunderbar, wenn Sie das Wetter meinen.»

«Super heiß, wenn das Mädchen da auch so hieße. One Night in Bangkok.»

Er grinste dabei nicht, als er das sagte. Er blieb ernst und starrte nach vorne.

«Der Song ist aus einem Musical, in dem es um Schach geht. Besungen wird die Stadt Bangkok und ihre Beliebigkeit, auch was Frauen betrifft, in dem Fall die Königin als nicht heiß ...»

«Was sind Sie? Eine Reiseleiterin, die einem die Dame vergällt?»

«Das Stück wurde von den beiden Typen von ABBA geschrieben.»

«ABBA? Schachmattschmachtschnulzen von mattschachigen Schwachmaten. Was war denn nun?»

«Was ...? Gut, das Schild nicht gesehen?», fragte sie.

«Welches Schild?», fragte er. Er versuchte seinen Kragen zu drehen, doch es war ihm unmöglich.

«Hinter uns. Dreißig! Dreißig Stundenkilometer! Und … ein Warnhinweis auf ein Haus, dessen Eck fast einen halben Meter in die Straße ragt. Haben Sie das nicht gesehen?»

«Polizisten lesen keine Verkehrsschilder. Sie machen sie! Und Ecken auf der Straße? Wer kommt denn auf die Idee?», brummte er.

«Das Haus gleich hier links scheint das Dorfwirtshaus zu sein, das mit dem scharfen Eck. Dann sind wir gleich da. Jetzt weiß ich auch, was Frosch meinte.»

«Was meinte Frosch?», fragte er.

«Am scharfen Eck vorbei noch zweihundert Meter auf der rechten Seite ist es. Ein Vierseit-Hof, etwas erhöht, nicht direkt an der Straße. Was wusste ich, was ein scharfes Eck ist? Sie hätten es fast haarscharf mitgenommen.»

«Meinen Sie damit, ich könnte nicht Autofahren? Ich bin ein Mann, gottverfluchtes Weibsbild.»

Julia Winter rollte mit den Augen. Machoarschlochkönig. Bis diese zum Stillstand kamen: «Da vorne. Blaulicht. Die Kollegen!»

Zwei verlassene Polizeiwagen standen mit stummen Blaulicht in einer frisch geteerten Auffahrt, die ein paar Meter zu einem Hof hinauf führte. Der BMW quetschte sich an ihnen vorbei, den beiden frierenden Polizisten wurden kurz die Ausweise unter die kalte Nase gehalten, die diese mit einem zittrigen Nicken quittierten.

«Morgenstund' hat Eis im Mund, meine Herren!»

«Blödmann», murmelte einer der beiden.

Im Innenhof hielten sie neben weiteren Fahrzeugen an. Aus dem BMW pellte sich der Oberkommissar, der kommende Star dieser betrüblichen Veranstaltung, ein kräftiger, großer Kerl mit viel Wolle oberhalb und im Gesicht, die die Narben und Kratzer all seiner Kämpfe erfolgreich von der Außenwelt versteckte. Er kraulte kurz sein Fellgewebe, als bräuchte es etwas Zuneigung wie eine maunzende Katze. Dann schlug er den Kragen seines dunkelgrauen Mantels hoch. Manfred Tief war eine stattliche Figur, Tür groß, aber nur halbtürbreit, vierzig Jahre alt, doch er sah älter aus, eher wie ein halbes verschlissenes Jahrhundert. Sein Gegensatz war seine neue dunkelblonde und zierliche Kollegin Julia Winter. Sie war erst vor kurzem nach Bayreuth versetzt worden. Ihr erster fester Arbeitsplatz. Angeblich freiwillig, wie sie immer wieder gerne betont. Niemand wollte freiwillig nach Oberfranken, zumindest wenn dieses letzte Eck Bayerns nicht die ursprüngliche Heimat war.

Neuhausen war ihr erster gemeinsamer Fall. Neuhausen, ein langgezogenes Dorf ohne Seele, ohne Würde, ohne Kraft oder Freude. Es lag einfach nur da. Ein Wunder, dass hier Menschen lebten. Unter ihren Füßen knirschte der Schnee, als wollte er sie warnen. Intensiv warnen.

Tief musterte Julia das erste Mal genau, als sie zu ihm trat.

«Was?», fragte Julia.

«Ihr toupiertes, dauergewelltes, blondes Haar ist sehr voluminös und wuchtig. Passen Sie auf, dass keine Vögel darin nisten oder Elstern ihre gigantischen Dreiecksohrringe stibitzen.»

«Sind Sie Polizist oder Modeberater?»

«Haargummis gehören auf den Müll und nicht ans Handgelenk.»

«Scrunchie heißt das.»

«Wenn Sie noch eine Bauchtasche tragen mit der Waffe drin, brechen wir ab.»

«Keine Sorge», wunderte sich Julia und packte ihre Handschuhe aus.

«Was zur Hölle ist das?», fragte Tief.

«Fingerlose, herrlich bunt gestreifte Stoffhandschuhe. Neidisch?»

«Madonna soll sich ficken!»

«Sie kennen sich gut aus, trotz ihres Alters und dem hässlichen Mantel den Sie tragen. Selbst die Schuhe … aus den wilden Zwanzigern? Wenigstens keine Cowboystiefel. Sehr gut! Ficken … was für ein Wort.»

«Sie sollten es aus der Bravo kennen, Winter. Mittelteil. Dr.-Sommer-Team.»

«Ich bin wirklich überrascht. Für einen Mann Ihres gesetzten Alters, in dem sich meine Eltern etwas darüber befinden, kennen sie sich aus. Kinder?»

«Nein. Und mein Privatleben bleibt tabu. Gehen wir endlich. Sie latschen zu viel.»

«Sie haben doch ...»

Ein Polizist, der als Türsteher fungierte, trat auf sie zu.

«Die Leiche ist in diesem Haus, Kommissar! Erster Stock!» Er deutete über seinen Rücken hinweg in die dunkle Höhle des Todes hinein.

Tief murrte nur «Oberkommissar» und begab sich Richtung Licht, als er kurz innehielt und sich umsah.

«Zwei Scheunen und zwei Wohnhäuser. Richtig kuschelig dieses Karree. Nur könnten die Bruchbuden ein paar Nägel und etwas Anstrich vertragen.»

«Sie haben gute Augen, Chef! Ich kann in der Dunkelheit kaum was erkennen.»

«Lidstrich.»

«Bitte?»

«Ihr dramatischer Lidstrich.»

«Was hat mein Lidstrich damit zu tun?»

«Zu dunkel. Er behindert Ihre Sicht.»

«Wie soll ein Lidstrich …? Wie dem auch sei.»

Sie betraten den Eingangsbereich des links nach der Auffahrt stehenden Wohnhauses. Gleich innen stand eine verlassene Flurgarderobe und ein Tisch, auf denen gebrauchte Becher, ungespülte Teller, unzählige Schlüssel und Papierchen gammelten. Der Parkettboden war abgetragen, der ehemals grüne Teppich mit Staub und Spinnweben aufgetragen. Kotkügelchen lagen herum als seien sie die Kanonenkugeln für den Angriff auf die Bastille der Haushaltsreiniger. Fliegen bewachten sie. Der Spiegel zeigte nichts mehr an. Die Kommode war nicht einmal mehr antik. Die Tür in ein nächstes Zimmer war verschlossen.

«Scheiße, was riecht hier so?», rümpfte Julia die Nase.

«Der freie Duft des Todes!», antwortete Tief.

«Der freie Duft des Todes?»

«Er hat es zumindest geschafft. Auch wenn es scheinbar schon länger her ist. Wunderschön!»

«Es stinkt grauenhaft!»

«Erwarten Sie wirklich, dass der Sensenmann seine eigene und eindeutige Parfüm-Serie gegen was Besseres austauscht, so wie Sie es tun? Das ist doch unverwechselbar, oder? Hier geht es rauf!»

«Durch dieses schmale Treppenhaus?»

«Alles aus Stein. Wunderschön! Wunderschön! So war das früher. Wertarbeit!»

Sie stiegen den schmalen Pfad nach oben, Tief reichte mit seinem Kopf fast bis an das Gewölbe der Decke.

«Die Elite aus Bayreuth ist hier!»

Zwei weitere Beamte schritten andächtig zur Seite. Drei weitere zivile Kollegen durchforsteten die Zimmer. An der Decke im Flur funzelte eine verdreckte Glühlampe. Ohne Lampenschirm, ohne weitere Dekoration, dafür mit sichtbaren Drähten in den bekannten Farben. Die Tapeten waren vergilbt oder abgerissen. Es gab keine Bilder. Die Dielen ächzten unter den Gewichten der ungewohnten Menschenansammlung. Der Flur war der Bereiter für vier weitere Räume und einigem Leerraum in diesem ersten Stock.

«Ah, endlich!» Ein hagerer Kerl im grünen Arztkittel und Nickelbrille stürzte aus einem Zimmer. Eifrig zog er seinen Latexhandschuh von der rechten Hand und streckte diese Tief entgegen. Der aber beließ seine rechte Hand weiter in der Manteltasche.

«Bedaure. Es ist kalt hier.» Mit dem Kinn deutete er zu seiner Kollegin. «Das ist mein Assi Julia Winter. Sie ist neu bei uns. Neugierig, ungestüm, aber zumindest kann man sie ansehen.»

«Wie nett, Oberkommissar», kommentierte Julia. Sie gab dem Spezialisten die Hand. «Sehr erfreut.»

Winter ließ Froschs Hand los, die sie sehr zart und gepflegt aussah. Wie alles an ihm. Seine dünnen, blonden Haare hingen locker in sein faltenfreies Gesicht.

«Ja, es ist kalt hier drin. Keine Heizung. Kein laufender Ofen. Kalt wie im Winter. Oh, das war nicht gegen Sie. Mein Name ist übrigens Frosch.»

«Und so sehen Sie auch aus», murrte Tief. «Wo ist die Leiche?»

«Wir haben also telefoniert», bemerkte Julia.

«Ja, genau. Sehen Sie hier rein …», Frosch trat zur Seite und stellte die eigens auf dem Flur aufgestellte Lampe ein, dass das Licht sich hinein in die Toilette optimierte, «… auf dem Lokus!»

«Auf dem Klo?» Julia Winter war überrascht.

«Auf dem Scheißhaus?» Tief riss ebenso die Augen auf. «Wer zur Hölle stirbt auf dem Scheißhaus? Als ob es da nicht schon genug stinkt!»

«Ich dachte, dass sei der freie Duft des Todes? Was ist dann … Scheiße?», pikste sie.

«Der freie Duft des Verdauens. Die letzte Ruhestätte des Mannes in einem Mehrpersonenhaushalt. Aber was verstehen Sie schon davon. Und machen Sie sich nicht lustig über mich, Winter!»

«Er hat wieder einmal sein Tief.» Frosch grinste, seine Brille wackelte verschmitzt.

Tief drehte sich zu Frosch um, sein imposanter Zeigefinger unter Froschs Nase: «Ich bin gleich Ihr ganz persönlicher Storch! Und ich bringe Ihnen kein Kind!»

«Gibt es hier keine Kanalisation?» Julia hatte sich ein Taschentuch aus ihrer Jackentasche gezogen und es sich fest unter die Nase gedrückt. Ihre Stimme wirke wie die des Zeichentrick-Elefanten Wendelin aus der ZDF-Show «Der große Preis», die einmal monatlich donnerstags lief. Thoelke! Sie mochte die Sendung.

«Das ist richtig!», begann Frosch, «Es gibt noch viele Dörfer, die noch nicht an die Kanalisation angeschlossen sind. Das hier ist ein reines Plumpsklo. Die Körperabfälle und sonstiges Gut fallen mit einem Bitsch genau ein Stockwerk nach unten direkt in die Klärgrube. Dieses Renaissancemodell einer Kloschlüssel in Abwrackoptik selbst ist an sich nur eine Holzkiste mit einem runden Loch drin. Zur Gestanksvermeidung und Lochabdeckung nutzte der Tote einen dürftigen Deckel aus Holz.»

«Es gibt nicht mal ein Waschbecken hier.» In Julia stieg plötzlich der Ekel hoch.

«Dafür ist der Raum auch zu klein. Zudem fehlen Wasserleitungen hier oben.»

«Und Leitungen für Elektrizität fehlen hier drinnen ebenso. Deshalb versuchen wir uns zumindest mit einem batteriebetriebenen Strahler zu helfen», erklärte Frosch.

«Dann triff ihn zumindest nicht der Blitz beim Scheißen», brummte Tief, der schon viel in seiner Laufbahn gesehen hatte. Auch so etwas.

Unruhig nahm Julia alles vor sich auf. Verschiedene Farbtöne blätterten von der Wand und der Decke ab, die Dielen des Fußbodens waren brüchig. Über dem Toten befand sich ein kleines Fenster, das von Spinnweben bedeckt wurde. Sie sah kein Klopapier, aber einen zerknüllten Putzlappen auf dem geschundenen Parkett, der seine weißen Tage schon lange hinter sich hatte. Frosch griff noch einmal zur Lampe und stellte sie etwas höher. Der Winkel veränderte sich. Tief trat aus seinem eigenen Schatten und erst jetzt erhellte das grelle Licht die knochige und weiße Fratze des Toten.

«Wenn Sie auch nur einen Krümel kotzen, sorge ich dafür, dass Sie den von diesem Boden wieder auflecken!», mahnte Tief.

«Es … es geht, Chef!», schluckte Julia.

Tief betrat den kleinen Klosettraum. Er näherte sich dem Tatort gebückt, um das Licht nicht zu stören.

«Eine Silhouette wie der Glöckner von Notre Dame», kommentierte Frosch.

«Noch ein Wort und Sie mutieren von Esmeralda zu «Er war mal da», verstanden?»

Der Tote mit dem wirren weißen Schopf saß nach hinten an die Wand angelehnt auf dem Topf, so als sei er noch mitten beim Geschäft und schlafe dabei seinen Rausch aus. Die herunterhängenden Arme mit den zu ihnen gerichteten offenen Handflächen erweckten den Eindruck einer Meditation. Er trug ein kariertes, dunkel gefärbtes Hemd und, heruntergelassen am Boden labend oder klebend, eine verschlissene braune Cordhose. Die Socken waren kaum mehr vorhanden, seine Zehen darbten unter einem verwaschenen und löchrigen Sockengrauschleier hervor, während die Zehennägel unförmig und schwarz nach vorne ragten und die unerwünschten Eindringlinge zu bedrohen schienen. Schuhe waren nicht zu sehen. Dafür lag neben den Füßen eine gebrauchte, überwiegend rote Unterhose.

«Diese Unterhose hier scheint schon länger da zu liegen. Seine hat er definitiv noch an, sie finden sie verwurschtelt in der herabgezogenen Hose. Ich habe nachgesehen!»

«Hatte er eine Erektion?»

«Bitte?», fragte Julia mit einem Hauch Entsetzen und Fremdscham in der Stimme.

«Postmortale Erektion. Ganz natürlich», knurrte der Oberkommissar. «Das sollten Sie eigentlich wissen.»

«Der Oberkommissar hat recht. Aber nein, hatte er nicht.»

«Danke, Frosch. Gute Arbeit.» Tief betrachtete die Leiche genauer, von Angesicht zu Angesicht. «Er hat keine Ohren mehr. Haben Sie das gesehen? Sind seine Augenlider vergoldet?»

«Nein, zeigen Sie!»

Frosch kramte Lupe und Taschenlampe hervor und trat zu Tief und der Leiche. Sie steckten ihre Köpfe zusammen.

«Tatsächlich. Sieht aus wie Blattgold. Keine Ohren, goldene Augenlider … ob noch mehr ans Tageslicht der Obduktion kommt?»

Frosch zog sich wieder zurück, um Notizen machen zu können.

Tief verlangte mit seinem ausgestrecktem Arm und schnalzenden Fingern nach einem Handschuh. Frosch reichte ihm einen. Flugs zog er ihn über seine rechte Hand und zog das rechte Augenlid des Opfers nach oben. Das Auge darunter giftete ihn kalt an. Dann drehte er den Kopf und betrachte die dunkle, verkrustete Wunde, an der sich zu Lebzeiten die Ohren befunden hatten.

«Eine Brille wird er nicht mehr tragen können.»

Julia drehte sich nach außen weg. Die Wohnung ansehen … ablenken! Sie verschwand.

«An was starb er?»

«Die Druckstellen am Hals lassen vermuten, dass er erwürgt wurde. Ob das auf dem Klo oder woanders passiert ist, muss die Spurensicherung herausfinden.»

«Passierte das mit den Ohren vor oder nach seinem Tod?»

«Das muss ich noch feststellen. Der Kruste nach davor. Wir bringen ihn nach Nürnberg zur Obduktion. Das kann aber zwei Tage dauern.»

«Zwei Tage … Sie wollen ja nur einen schönen Sonntag, Frosch!»

«Es ist früh am Morgen am Tag des Herrn. Es gibt schönere Arten einen Sonntagmorgen zu beginnen. Und alleine macht es keinen Spaß, Oberkommissar. Sie haben zumindest …»

«Alleine? Keine Anzüglichkeiten, Frosch! Ich könnte Ihr Vater sein.»

«Ich bin Beamter und keine Maschine, Herr Oberkommissar!»

Ein Schrei ertönt.

«Verdammt, was ist?»

Einer der beiden Zivilbeamten steckte seinen Kopf in den kleinen Raum: «Der Schrei kam aus dem Zimmer da hinten!»

Tief quetschte sich durch die Tür und an dem Mann vorbei und hastete nach rechts in den Flur hinein.

«Winter, was ist?»

Julia stand im Türrahmen eines Zimmers, zwei Türen weiter. Ihre Hände waren vor dem Mund geschlagen. Sie war unfähig, den Blick von ihrem Schockerlebnis abzuwenden. Tief schob sie zur Seite und blickte in das milchig beleuchtete Zimmer. Der Raum war auf der rechten Seite vollgestopft mit schmutziger Wäsche, Wäschekörben und einem Wäscheständer. Das andere Ende wurde von einem runden Mahagonitisch und zwei alten, ockergelben Ohrensesseln ausladend eingenommen.

«Geht’s um die schmutzige Wäsche?», fragte Tief.

Doch da sah er es. In einem der Sessel saß ein Skelett.

Frosch spitzte an Tief und Winter vorbei: «Wahrlich: Oh mein Gott! Das … ist mir vorhin nicht unbedingt aufgefallen. Das Licht … das Licht!»

Tief knurrte nur dumpf «Ihr esoterisches Gelumpe interessiert mich nicht!» und trat in das Zimmer hinein. Der Boden knarrte verdächtig und Tief ging einen kleinen Bogen, als ob sich mitten im Zimmer ein Loch befinden würde. Tatsächlich war der schlammgelbe Teppich dort schlapp und durchgescheuert. Er schien nach unten durchzuhängen.

Er begutachtete das Knochengestell aus direkter Nähe: «Kein Zweifel, der ist tot. Und das schon länger!»

«Ich komme!» Frosch eilte schnurstracks auf Tief zu, als plötzlich just an der Stelle, die Tief noch lässig umschlichen hatte, der Boden nachgab.

Blitzschnell packte Tief den Pathologen am Oberarm und verhinderte Schlimmeres.

«Danke. Das war knapp. Verdammt knapp. Das Haus ist eine einzige Ruine. Ein falscher Schritt …» Frosch fasste wieder Fuß und richtete mit dem Zeigefinger seiner Brille. Er war sichtlich blass.

Julia grübelte: Woher wusste der Chef, dass …

«Aufpassen, Frosch! Was sucht ein Skelett hier?» Tief beäugte es trotz des Vorfalls und Funzellichts so genau wie möglich. Genauer als die Leiche auf dem Topf.

«Vielleicht seine Frau, für die er immer noch Rente kassiert?»

«Den Beckenproportionen nach ist es ein Mann», analysierte Frosch, der eine verknöcherte Hand in die seine nahm. «Und es ist echt. Das Skelett ist echt und fachmännisch zusammengebaut, so wie man es für den Biologieunterricht in der Schule sehen kann. Vielleicht hat er es mal gekauft, als Unterhaltung für einsame Abende!»

«Dafür gibt es kuschelige Susies aus dem Sexshop.»

Julia Winter horchte auf.

«Was? Was wollen Sie hören, Kollegin? Von mir hören sie lediglich: Es funktioniert!»

«Ich nehme einen Finger mit.»

«Wer weiß, was in diesem Gruselkabinett noch gibt? Kommen Sie, Winter, wir sehen uns mal um. Aber nichts anfassen und betreten, solange die Jungs von der Spurensicherung nicht alles dingfest gemacht haben.»

«Ich werde auch so nichts anfassen und betreten!» Die Mutation ihrer Haut hin zu Federviehausprägungen unter den Federn nahm kein Ende.

«Die Jungs machen gleich hier Station! Ich nehme zumindest einen Finger von dem Kerl mit. Uh, den kann man abschrauben, sehr praktisch», freute sich Frosch.

Tief zog die Augenbrauen kurz hoch, schnappte sich dann aber eine Taschenlampe, verließ den Raum und leuchtete den Flur entlang.

«Sehen Sie sich das an! Der Flur endet einfach! Nur ein schmaler Holzbalken verbindet das Obergeschoß weiter mit dem Raum da hinten! Da drunter ist der Stall! Das ist unglaublich! Aber er scheint keine Tiere zu haben. Zumindest keine, die er sich absichtlich gehalten hat.»

«Und keine Höhenangst. Und kein Alkoholproblem. Sie wollen da aber nicht rüber?»

«Nein. Aber Sie sollten es tun. Sie sind zierlich!»

«Ich gehe da nicht rüber!»

«Ja, Sie haben recht. Es ist zu finster und meine Taschenlampe zu exaltiert zu dieser frühen Stunde. Warten wir auf den Tag.»

«Gehen wir in die andere Richtung.»

Sie passierten erneut das Zimmer mit dem Skelett, in dem eifrig Fotos geschossen und Spuren gesichert wurden, daneben befand sich eine Art Bad: Eine Anrichte im Flur, eine Nische mit Kommode und einer kleinen waschbeckenähnlichen Holzwanne darauf, daneben ein Eimer und ein Wasserkessel.

«Die Urbevölkerung hat hier wirklich kein fließendes Wasser. Der musste sich das Wasser wohl auf dem Herd erhitzen.» Tief zuckte mit den Schultern, dann gingen sie am Klo vorbei zum Wohnzimmer, welches sich direkt gegenüber der Treppe befand.

«Kein Fernseher oder Radio. Er muss ein glücklicher Mensch gewesen sein. Kein Mist aus der Außenwelt. Ein verhunzter Glastisch, ein alter Schrank mit viel Krimskrams darin und eine durchgesessene Stoffcouch, dazu ein grauenhafter Teppich, der noch nie einen Staubsauger gesehen hat. Es wäre zu klären, ob er nach seiner Wohnung gestunken hat oder die Wohnung nach ihm. Auch hier nur eine Glühbirne wie auf einer Baustelle. Der Kerl hatte nirgendwo eine richtige Lampe. Keine Bücher, zumindest nichts literarisch Wertvolles. Sie schreiben alles auf?»

Julia Winter nickte und zückte heimlich ihren kleinen Schreibblock. Sie merkte gut, es war kein Problem, das eben Gehörte noch auf Papier zu bringen.

«Die könnten ihre Pershing-II-Raketen hier einschlagen lassen und es würde nicht unaufgeräumter aussehen. Das müssen Sie nicht aufschreiben.»

«Okay.»

Im Flur befand sich noch eine Garderobe an der unzählige, abgewetzte Stoffhosen wild durcheinander aufgehängt waren. Daneben öffnete sich eindrucksvoll das Schlafzimmer, das Zimmer Richtung Straße.

«Hier atmen noch die siebziger Jahre, was, Winter?» Tief lächelte. «Bringt mal einer das Licht her!» Die Lampe wurde bereitgestellt und beleuchtete das wilde Zimmer. An der Wand umschlängelten sich unkultivierte und abgerundete Muster in Orange und Braun und outeten sich mühelos als Tapetenkind der siebziger Jahre.

«Er wollte wohl bügeln!»

Das Bügelbrett ächzte unter einem Wäscheberg aus Hemden und weiteren Hosen.

«Er hatte viele Klamotten, vor allem Hosen», stellte Julia fest. Sie traute sich nichts anzufassen, aus Angst, sich etwas einzufangen.

«Wir wissen nicht ob er bügeln wollte. Er hatte ja auch vielleicht keinen Strom. Wir wissen nicht einmal, ob er nur unordentlich und ein Sammler, Hosenmodel oder ein Bügler der hiesigen Männerhosenträger war oder ob der oder die Mörder was gesucht haben. Das Bett … eigentlich ein typisches Gästebett. Eine Schaumstoffmatratze mit einem schrecklichen Bezug. Sieht nicht so aus, als ob er ein Betttuch oder so benutzt hat. Seine Bettdecke … ich wette, er kannte jede einzelne Milbe und Wanze beim Vornamen. Wie konnte er nur ohne Licht leben?»

«Zudem kaum Kerzen. War er vielleicht blind?»

«Nein», antwortete Frosch von weit hinten. «Es liegen Bücher und Zeitungen herum. Aber der Strom scheint ihm abgestellt worden zu sein.»

«Wer ist er eigentlich?»

«Wer?»

«Der Tote!» Julia zog fragend die Augenbrauen hoch.

«Frosch? Wer ist der Tote eigentlich?»

«Bruno Baumgärtel», schallte es zurück. «Seinen Ausweis haben wir nicht gefunden und ich glaube auch nicht, dass er einen hatte. Bestimmt über siebzig Jahre alt. Gefunden wurde er von einem Nachbarn, Adolf Meyer. Der wohnt weiter vorne, kein direkter Nachbar. Ein Dorfnachbar. Wir haben ihn nach Hause geschickt, damit er sich dort beruhigen kann.»

«Aufschreiben, Winter!»

Sie gingen mit Frosch zurück Richtung Toilette. Die Männer des Bestattungsinstituts «Friede - Freude - Eierkuchen» oder so ähnlich versuchten inzwischen, den Stahlsarg um das enge Eck der Treppe zu bugsieren. Sie fluchten lautstark. Der Sonntagmorgen versaut, das Aufstehen, die unsägliche Fahrt durch den Schnee in ein Dorf am Ende Deutschlands, der Welt, vielleicht sogar an deren Arsch, die Treppe zu sargschmal, der Gestank unerträglich.

«Frosch, Todeszeitpunkt?»

«Wenn ich mir die Bluteigenschaften so ansehen … definitiv nicht länger als zwölf Stunden her.»

«Okay. Ich sehe schon, wir müssen raus und uns durch dieses Dorf fragen. Mit Meyer fangen wir an!»

«Zwölf Stunden? Wieso sind wir jetzt um diese Zeit eigentlich hier, wenn …?»

«Die 68er machen das so.»

«68er? Der Tote?»

«Die Tapete nicht gesehen? Keinen Fernseher? Kein Radio? Typischer Linker!»

«Er ist zu alt um als Beteiligter der 68er gesehen zu werden.»

«Was sind sie, Winter? Der Samariter der Geschichtsverklärung?»

Ein Lichtstrahl bahnte sich durch ein Fenster und fiel in den Flur.

«Schauen Sie, die Sonne geht auf!», freute sich Julia.

«Interessiert mich nicht. Auf so etwas schauen nur Frauen. Wenn wir schon dabei sind: Bei Ihnen gäbe es keine so dreckigen Fensterscheiben, oder?»

«Deswegen habe ich extra für Sie Eisblumen in die Fenster stellen lassen. Damit Ihnen Liebe widerfährt.»

Neuhausen - Eine Dorfverschwörung

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