Читать книгу Neuhausen - Eine Dorfverschwörung - Der Augenlauscher - Страница 6

Kneipentortour

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«Da wären wir. «Gasthof Scherzer. Inhaberin: Elisabeth Knerz» Nettes Schild. Nettes kleines Haus. Nur schade, dass es so in die Straße ragt. Eine Meisterleistung, zudem mit der Feuerwehr gleich gegenüber. Wenigstens ist so ein rotweißes Warnschild davor, damit man das Eck elegant umfahren kann! Welche Architektinidiotin hat das nur verbrochen?»

Sie hatten den Wagen auf Parkplatz zwischen Gasthaus und ehemaliger Schule kurzzeitgelagert. Es standen zwei weitere Fahrzeuge neben ihnen. Sie liefen zum Gasthaus. Der Schnee war dürftig zu Seite geräumt worden.

«Wieso soll das eine Frau gewesen sein?», echauffierte sich Julia.

«Kind, Kind, Kind. Männer machen doch nicht solche Fehler!»

Hinter sich vernahm Tief nur noch ein verachtendes Zischen. Mit festen Schritten betrat der Oberkommissar den einfachen Windfang der Dorfgaststätte, bevor er die Tür zur Gaststube aufriss.

«Guten Morgen!», gelobte er feierlich.

Die Begrüßung wurde zwar nur leicht retourniert, doch mindestens zehn Augenpaare zog der Oberkommissar sofort auf sich. Und danach direkt auf Julia. Einige verfinsterten sich. Der helle Raum war weniger verqualmt als sie erwartet hatten. Die korpulente Pächterin im Oma-Alter ragte zierlich hinter dem Tresen hervor und lächelte freundlich, während die vier Männer sich wieder ihrem Kartenspiel und Bier widmeten.

«Nur alte Menschen in diesem Kaff. Wir müssen schnell ermitteln, sonst ist es für alle zu spät», flüsterte Tief mit einem langgezogenen Mundwinkel seiner Kollegin zu, um danach mit seiner tiefen Stimme loszulegen: «Mein Name ist Tief, Oberkommissar Tief von der zuständigen Mordkommission in Bayreuth. Das ist meine Assistentin Julia Winter!»

«Guten Morgen», gelobte sie weniger feierlich, fast still. Die Männer unterbrachen ihr Spiel, fixierten sie erneut. Sie zogen sie aus. Aber nicht als Frau, sondern als jemanden, der aus der Stadt kam.

«Wir sind hier, um den Mord an Bruno Baumgärtel aufzuklären und bitten daher um Ihre Mithilfe. Wenn Sie uns Fragen beantworten könnten, wäre das sehr hilfreich. Wir holen Sie einzeln an den Tisch … hier vorne!»

«Sie kommen mir bekannt vor! Waren Sie schon einmal hier?»

«Wer sind Sie?», fragte Tief barsch zurück. Nebenbei nahm er an einem kleinen Tisch Platz, mit dem Rücken zum Stammtisch. Julia tat es ihm übers Eck gleich, konnte aber einen direkten Blick auf den anderen Tisch riskieren, dieses Mal sehr zur Freude der Männerrunde. Jetzt, hier im Licht … es gab nur wenige junge Frauen, die sich hierher verliefen. Die Mäntel legten die Beiden über einen benachbarten Stuhl.

«Wer ich bin? Mein Name ist Werner Wienert. Ich wohne ein paar hundert Meter weiter vorne Richtung Lauterbach, am Ortseingang, auf der anderen Seite von Brunos Hof. Und Sie kommen mir bekannt vor!»

«Ich war noch nie in diesem Dre… in dieser Gegend. Zudem bin ich der, der die Fragen stellt. Herr Wienert hat sich vorgestellt, bitte fahren Sie als Nächstes fort!» Tiefs eisiger Blick fror den Mann neben Wienert fest.

«Ich bin Holger Winterberg, Geschichtslehrer und der hiesige Feuerwehrvorstand, weil mein Haus direkt der Feuerwehr vorstand!» Er grinste breit.

«Ich bin der, der hier die Witze reißt. Sie?»

«Fred Metz. Ich wohne am anderen Ortseingang neben Adolf Meyer.» Metz rauchte eine Zigarette.

«Sie sind der Sohn des letzten Bürgermeisters, richtig?»

«Das ist richtig, Herr Oberkommissar.» Fred Metz trug eine dicke Brille, sein Sehvermögen musste erbärmlich sein. Seine Augen schielten durch die schiere Stärke seiner Augengläser. Metz und Wienert waren ungefähr in Tiefs Alter, wie alle, die sich bisher vorgestellt hatten, außer vielleicht Winterberg, der etwas jünger war. Nur Adolf Meyer war älter. Er schwieg und starrte auf sein halb leeres Bierglas. Den Strichen auf seinem Bierdeckel nach war es nicht sein erstes Seidla, seit er ihr war. Sondern sein zweites. Sechs anonyme Karten lagen vor ihm. Meyer war im gleichen Alter wie die Frau hinter der Theke oder eben Bruno Baumgärtel. Tief fixierte die nächste Person.

«Ich bin die Liesl, die Pächterin. Was wollen Sie trinken?»

«Einen Kaffee. Schwarz. Milch und Zucker interessieren mich nicht.»

«Für mich einen Tee bitte, egal welchen!» Julia nickte der alten Frau freundlich, Tief hätte es arschkriechend genannt, zu. Diese trug eine blumengemusterte Schürze und ein dunkelbraunes Kopftuch, das hinten zusammengebunden war. Die Ärmel ihrer Bluse waren arbeitswütig hochgekrempelt. Aus der Küche trat ein alter Mann hervor. Seine Figur war äußerst drahtig, die stoffige Kutschermütze auf dem Kopf hatte er tief in sein zerfurchtes Gesicht hineingezogen. An seiner Unterlippe baumelte eine lange alte Pfeife. Trotz seines hohen Alters von sicher über achtzig rollte er ein Fass zur Theke. Die Gäste, weder die alten noch die neuen, würdigte er keines Blicks.

«Das ist mein Mann Herrmann», erzählte sie, während sie den Kaffee aus der Kanne in die Tasse beförderte. Der Tee folgte danach. Ihr Mann verschwand wieder mit gebückter Haltung und wortlos in die Küche.

Die Tassen, beide weiß, klapperten, als sie auf den Tisch gestellt wurden.

«Setzen Sie sich kurz zu uns, Frau Knerz», forderte Tief sie auf.

Sie kam der Aufforderung nach und begann sofort Marke Thekentratsch, wie es Tief wohl nennen würde, zu erzählen: «Das mit Bruno ist unglaublich. Er lebte zwar zurückgezogen, aber er war immer freundlich und zuvorkommend. Unser Hof ist schräg gegenüber. Man sah sich, grüßte sich und das war es auch schon. Seit der Scheidung von seiner Frau vor ungefähr zehn Jahren hat er sich zurückgezogen. Sie hat ihn ausgesogen wie eine Stechmücke und dabei noch Malaria übertragen. Das einzige, was sie ihm gelassen hat, war der Hof, der war damals schon runtergekommen genug. Sie hatten zuvor sehr gut gelebt. Sie hatten eine Pferdezucht, er war gut darin. Dann verließ sie ihn, von heute auf morgen, mit den Pferden. Die schleichende Feuchtigkeit in seiner Wohnung, vielleicht auch der später entdeckte Asbest setzen ihm zu. Es war ein Teufelskreis. Er wurde krank und konnte keine Tiere mehr züchten. Hätte er Tiere züchten können, wäre er nicht so krank geworden. Hilfe lehnte er immer ab. Er war ein Einsiedler! Er hätte nie heiraten sollen.»

«Wer könnte Interesse an seinem Tod haben? Zu holen gab es bei ihm ja scheinbar nichts.»

«Keine Ahnung. Bruno ging Problemen immer aus dem Weg.»

Julia rührte einen halben Löffel Zucker in ihren Tee. «War er öfters hier in der Kneipe?»

«Nein, nie. Er war nicht sehr redselig, die anderen interessierten ihn nicht und zudem konnte er sich wohl nicht mal ein Glas Wasser leisten. Bei mir wird auch nicht angeschrieben!»

«Wo waren Sie gestern Nachmittag und Abend?»

«Abends waren wir alle zusammen. Alle, die wir hier sind, dazu Edwin Mager. Zu der Runde gehört noch Richard Sanftfeld, unser hiesiger CSU-Bundestagsabgeordneter. Er ist aber zurzeit in Bonn.»

«Alle hier bei Ihnen?»

«Es war Samstagabend. Was sollte man sonst tun? Den Quatsch im Fernsehen ansehen? «Einer Wird Gewinnen» mit einem Kriegsversehrten und diesem SS-Kerl am Schluss?»

Tief verstand nicht und beendete das Gespräch: «Danke, Frau Knerz!»

«Der Kaffee und der Tee gehen aufs Haus. Aber das ist eine Ausnahme!»

«Herr Wienert, darf ich Sie an unseren Tisch bitten?»

«Ach, Herr Oberkommissar, kommen Sie doch zu uns! Wir beißen nicht!»

Winter nickte ihren Chef zu. Warum nicht?

«Weil ich Ihre Alibis unabhängig voneinander hören will! Außerdem bin ich der Chef hier!»

«Die Staatsgewalt reißt das Maul ganz schön auf.»

Tief drehte seinen Kopf zu Adolf Meyer: «Wir haben von den Besten gelernt. Kommen Sie doch gleich mal zu uns rüber»

Meyer glotzte Tief genervt an. Dann packte er sein Bierglas und wechselte den Tisch. Meyer wirkte grimmig und rechthaberisch, was nicht nur auf seine Glatze und der dicken Nase zurückzuführen war.

«Herr Meyer, Sie haben Bruno Baumgärtels Leiche entdeckt. Wie kam es dazu?»

«Der erste Samstagabend im Monat. Ich komme da immer bei ihm vorbei um über die gute alte Zeit zu plaudern. Wir treffen uns in seiner Küche am späten Abend. Es schien, als schäme er sich dort am wenigsten. Doch dort war er nicht. Ich ging in sein anderes Haus. Und fand ihn oben auf dem Klo. Zuerst dachte ich, er hatte einen Herzinfarkt oder so, aber als ich seine Ohren sah, die nicht mehr da waren und die Druckstellen am Hals, bin ich nach Hause und habe die Polizei gerufen. Obwohl ich das nicht tun wollte, um zu vermeiden, dass mir lächerliche Fragen gestellt werden.»

«Solche lächerlichen Fragen wie diese hier: Nach Hause? Sie sind fast dreihundert Meter nach Hause gegangen?»

«Bruno hat kein Telefon, er konnte es sich nicht leisten und wer hätte ihn auch anrufen sollen? Wen hätte er anrufen sollen? Hier im Dorf haben viele Menschen kein Telefon. Neumodischer Quatsch eigentlich. Ich habe es nur wegen meines früheren Berufs. Ich war Taxifahrer.»

«Tristan und Isolde haben bestimmt eines, weil die haben weniger als mindestens zwei Ferienwohnungen.»

«Zu denen gehe ich nicht. Wieso ist das so wichtig, von wo aus ich angerufen habe?»

«Wo waren Sie vorher?»

«Wir saßen zusammen, wir alle hier. Es gibt hier einen Fernseher. Manche haben die Sportschau geschaut. Fußballmist. Davor war ich im Wald, den Schneebruch ansehen. Vielleicht sehen sie noch die Spuren, wenn Sie es unbedingt wissen wollen. Passen Sie aber auf die Scharfschützen der ČSSR auf.»

Er lächelte verwegen.

«Es hat sie niemand gesehen?»

«Menschen fahren an meinem Haus vorbei und können hineinsehen. Wissentlich … habe ich kein Alibi, nein.»

«Danke, Herr Meyer. Sie waren auskunftsfreudiger als gedacht! Würden Sie bitte Herrn Wienert zu uns kommen lassen?»

Wortlos stand Meyer auf und deutete Wienert, an den Tisch zu kommen. Wienert war nicht allzu groß gewachsen, seine Haare trotz seines Alters nur leicht angegraut. Er trug einen wuchernden Oberlippenbart und wirkte grundsätzlich eher gemütlich. Vielleicht war er einfach auch nur langsam. Seine dunkelblaue Strickjacke war verschlissen und sah aus, als hätte sie einst seine Mutter für ihn gestrickt.

«Herr Wienert, wo waren sie gestern Nachmittag und Abend?»

«In meiner Werkstatt und dann zuhause, Abendessen. Danach saßen wir wie immer Samstagabend zusammen. Sportschau geguckt. Fußball interessiert hier kaum einen, aber hey, es ist Gemeinschaft!»

«Und Bruno?»

«Bruno? In unserem Dorf hatte niemand Interesse an Bruno und Bruno nicht an uns. Er lebte allein, ohne Kontakte zu irgendwem. Er wollte nicht, also ließen wir ihn in Ruhe. Liesl hat bestimmt von seiner Vergangenheit erzählt. Obwohl sein Anwesen doch ziemlich zentral liegt, war er ein Außenseiter. Sie merken sicher auch, dass sich die Trauer in Grenzen hält. Es ist mehr die Angst, dass es hier einen Mörder geben soll!»

«Woher wissen Sie, dass es ein Mord gewesen sein soll?»

«Sie sitzen vor mir. Und Adolf hat es erzählt.»

«Petze!»

«Was machen Sie beruflich?»

«Ich arbeite als Elektriker in einer Firma in Erkersreuth.»

«Herr Wienert, wer könnte Interesse am Tod von Bruno Baumgärtel haben?», hakte Julia ein.

«Der Bruno war ein armer, kranker Schlucker, was soll man sagen?»

«Wer der Mörder war. Wer Interesse an seinem Tod hat.»

«Der Schmierhelm war in gewisser Weise ein Original. Aber eines, das man selten zu Gesicht bekommen hat.»

«Schmierhelm?»

«Jeder im Dorf hat einen Spitznamen. Historisch bedingt. Keine Ahnung, woher seiner kommt. Noch einmal, Herr Oberkommissar, sie kommen mir bekannt vor!», sagte Wienert bestimmt.

«Ich war noch nie in dieser Gegend. Ich komme aus der Nähe von München, bis ich in diese Drecks… bis ich letztes Jahr in das ach so tolle Bayreuth … was soll das? Hören Sie auf, mich zu kennen! Das interessiert niemanden!»

«Und ich habe nichts mehr zu sagen!»

Wienert stand einfach auf und forderte Fred Metz auf, sich dem Verhör zu unterziehen. Der drückte seine Zigarette aus und rückte seine fette Brille zurecht. Er kämpfte sich vom hintersten Platz nach vorne. Auch er trug einen Schnauzer, aber gepflegter und weniger struppig als Wienert, dazu ein blauweiß-kariertes Hemd. Senfreste des Mittagessens klebten daran.

«Herr Metz, wie gut kannten Sie Bruno Baumgärtel?»

«Kaum. Er lebte seit seiner schmutzigen Scheidung für sich. Mein Cousin wollte ihn mal helfen, also sein Grundstück kaufen, doch er lehnte ab.»

«Ihr Cousin? Wohnt er auch hier im Dorf?»

«Heiner? Nein, er ist ein reicher Fabrikant und hat das Kutscherhaus neben Brunos Anwesen gekauft und aufgehübscht. Er residiert ein paar Mal im Jahr also genau neben Bruno und gegenüber von den Knerz, hier schräg ...» er zeigte mit seinem Arm stramm Richtung Gehöft Baumgärtel und diesem Kutscherhaus,»… aber wie gesagt nur zeitweise. Momentan ist er wieder hier. Ansonsten pendelt er zwischen Kaiserslautern und München. Er hat unzählige Immobilien. Und eben eine Fabrik. Eine Fleischfabrik!»

«Igitt! Oh, Entschuldigung. Das war … nicht korrekt.»

«Winter, nur weil Sie vulgärer Pflanzenfresser sind, müssen Sie nicht ihre Abneigung kundtun. Ihre Ernährungsweise hat sowieso keine Zukunft. Nur ein gutes Stück Fleisch ist ein Stück Lebenskraft. Und für die Pächterin hier: Meine Kollegin liebt Tiere, aber nicht auf dem Teller. Egal, ob es ein Gepard ist, der sich über eine Gazelle hermacht, oder das Küken vom Bauernhof nebenan oder der überflüssige Hahn unserer etablierten Ernährungskette ... sie würde nie ein Tier verspachteln. Okay?» Er wandte sich wieder Metz zu: «Aber ich schweife ab. Wo waren Sie gestern Nachmittag und Abend?»

«Vormittags waren meine Frau Gunda und ich in Hof, danach waren wir zuhause. Noch etwas Schnee schippen, aufräumen und putzen, wie wir es jeden Samstag tun, um den Sonntag in aller Ruhe verbringen zu können! Abends saßen wir beieinander.»

«Und Sonntag sitzen sie dann alle hier. Keine Kirche?»

«Nein. Keine Kirche. Hier nicht. Nur Schafkopf oder Mucken und Weißwürste zum Bier! Frühschoppen.»

«Ihr Vater war der Bürgermeister in diesem Dre… in diesem Dorf?»

«Ja, bis vor ein paar Jahren. Dann gab es die üblichen Reformen und unser Dorf wurde eingemeindet. Er ist inzwischen Rentner, wie seine Frau auch. Wir gehören nun zur Stadt Rehau und die wiederum zum Landkreis Hof. Der Strom kommt aus kreisfreien Stadt Selb, Wasser aus Rehau und kirchlich gehören wir zu Schönwald, Landkreis Wunsiedel … seit uns Asch, jetzt Ostblock, abhandengekommen ist.»

«Der Asch der Welt!»

«Nein, die Stadt gleich hinter der Staatsgrenze … auf der anderen Seite. Zudem haben wir die Telefonvorwahl von Selb.»

«Was wurde aus Baumgärtels Frau?»

«Sie starb vorletztes Jahr, was wir aber auch nicht sicher wissen. Ihre Ehe war kinderlos geblieben, sie war auch so angeblich kinderlos geblieben. Keine Ahnung, wer das alles geerbt hat. Sie muss einen schönen Pferdehof in der Nähe von Bayreuth gehabt haben.»

«Eine Idee, wer an Brunos Tod Interesse gehabt haben könnte?»

«Nein. Nichts. Niemand.»

«Was machen Sie beruflich?»

«Ich bin Tankwart an einer Tankstelle in Rehau. Ein ehrenwerter, aber aussterbender Beruf. Ich werde wohl der letzte sein hier in der Gegend.»

«Danke Herr Metz!»

«Herr Oberkommissar, können wir die Gespräche nicht ein anderes Mal machen? Wir wollen mucken und die Weißwürste sind gleich soweit!»

«Herr Wienert, Sie werden die Befragung von Herrn Winterberg auch noch überstehen. Herr Winterberg, bitte!»

Holger Winterberg hatte graumeliertes und lockiges Haar, eine dünne Nickelbrille, einen Fünf-Tage-Bart und wirkte wie der Intellektuelle in dem Dorf hier. Er war Anfang Vierzig und damit der Jüngste in der Runde.

«Danke, dass Sie mich von dem Kartenspiel befreien, ein Buch mit sieben, wenn nicht gar acht Siegeln, dieses Schafkopf, was weder mit einem Schaf noch einen Kopf noch einem Schafskopf ...»

Er setzte sich an den Polizeitisch.

«Sie stammen demnach nicht von hier?»

«Nein, meine Frau und ich haben in West-Berlin gewohnt. Uns wurde die Stadt zu eng. Wir sehnten uns nach Landleben und Neuhausen war das erste freie Dorf, dem wir begegnet sind. Westdeutschland und doch nah an Berlin!» Er lachte laut auf, sein ergrauter Bart kräuselte sich wohlgesonnen unter seiner wippenden Brille.

«Oh Gott, a Preiß», entfuhr es Tief willkürlich. Er kniff die Augen mit seinen Fingern zusammen und schnaufte durch.

«Wie kann man nur von Berlin, einer Großstadt, hierherkommen?» Julia konnte es kaum fassen. Sie wollte schon immer in einer Metropole wohnen, selbst wenn diese von Mauern umgeben war.

«Suche nach Einsamkeit? Weg aus der Anonymität? Schluss mit der Unsicherheit? Es gibt jetzt natürlich Dinge, die einen neben der Familie fehlen!»

«Und das wäre? Außer der Familie?»

«Gras! Simples Gras! Früher rauchte ich es, bis ich dachte ich kann fliegen, heute flieg ich mit dem Rasenmäher drüber, dass es nur so raucht!»

Sein Lachen war laut und durchdringend, aber durchaus ansteckend, wie Julia befand.

«Wie wurden Sie und Ihre Frau dann so in der Dorfgemeinschaft aufgenommen? Ich stelle mir das schwierig vor. Ein Dorf. Franken. Ein Dorf in Oberfranken. Mehr geht nicht. Sie sind Feuerwehrvorstand, anders ging es wohl nicht um die Herzen der hiesigen Eingeborenen zu erobern?»

«In all den Jahren gehört man irgendwann dazu», wich Winterberg aus. «Sobald Kinder da sind, wir es eh einfacher. Die beiden gehen noch zur Schule. Wie auch die Kinder nebenan. Unsere direkten Nachbarn übrigens, die Sanftfeldts, kommen auch aus Berlin. Aber diese werden Sie sicher auch noch interviewen.»

«Wie war Ihr Verhältnis zu Bruno?»

«Kaum vorhanden. Er lebte sehr zurückgezogen. Einmal in der Woche fuhr er hier mit seiner alten Reisschüssel vorbei um in der Stadt einzukaufen. Er war nicht in der Feuerwehr, weder aktiv noch passiv.»

«Sein Auto ist keine Reisschüssel», korrigierte Tief.

«Es ist keine Reisschüssel natürlich in dem Sinn! Ich meine, dass sein Auto aus Japan kommt.»

«Sein Auto ist keine Reisschüssel», korrigierte Tief.

«Wie ich schon sagte, ...»

«Sein Auto ist ein Talbot Simca, jetzt nur noch Talbot.», korrigierte Tief. «Das ist eine französische Marke, Herr Winterberg.»

«Ich und Autos ...»

«Wo wohnen Sie?»

«Ich wohne mit meiner Frau Traudl gleich hier nebenan, im ehemaligen Schulhaus! Praktisch im Suff. Man muss über keine Straße und schon gar nicht hier am Eck.»

«Wo gehen die Kinder denn jetzt zur Schule hin?»

«Es fährt ein Bus nach Rehau. Jeden Morgen!»

«Jeden Morgen?»

«Außer am Wochenende. Und in den Ferien! Und an Feiertagen.»

«Traudl … ein echter Berliner Name!»

«Meine Frau stammt ursprünglich aus dem Ruhrpott und ihr Vater wiederum aber aus Österreich. Flucht aus Braunau direkt ins Braunkohlebergwerk. Was kann schlimmer sein? Er heißt aber nicht Adolf, keine Sorge. Von einem Briten hat sie ein Kind, ein Verkehrsunfall, war wohl Linksverkehr!» Sein Witz kam bei Tief nicht an. «Von mir natürlich auch. Helge, das britische Ergebnis, ist fünfzehn, Maria, mein Schaffen, ist zwölf Jahre alt. Sie sind die Jüngsten hier im Dorf! Ich liebe sie alle.»

«Mit zwölf die Jüngste? Keine Straßennamen, keine Kirche, keine Schule, kein Nachwuchs. Und die Alten sterben, wie auch immer. Sie waren gestern Abend auch hier? Und nachmittags?»

«Holz machen. Wir haben zwar genug, aber es ist gut für die Figur! Zuvor war ich in der VHS, ich gebe dort Geschichtsstunden für Interessierte. Erster und Zweiter Weltkrieg und so. Ansonsten bin ich Lehrer in Selb. Meine Frau ist seit ein paar Tagen bei ihrer Mutter in Gelsenkirchen. Aber es geht ihr schon besser. Ein wundersamer Aufstieg wie letztens bei Schalke 04. Fußballfan?»

«Können wir endlich unseren Bobbel weiterspielen?», rief es vom Nebentisch.

«Ihren was?» Tief drehte sich zum Kartentisch hin. «Popel? Wie die aus der Nase?»

«Bobbel. Fränkisch! Wir spielen darum! Wer zuerst zwanzig hat, hat gewonnen!»

«So lange bohren Sie in der Nase?» Tief verstand nicht?!

«Weißwürste sind fertig!», schallte es aus der Küche und sofort schwebte ein Tablett, gehalten von Liesl, in den Gastraum. Ein Lächeln machte sich breit, als die Teller flink verteilt wurden, der Senf auf dem Tisch landete und der Brotkorb mit Semmeln, kleinen Brötchen, serviert wurden. Die Karten ruhten ab diesem Moment. Jeder griff beherzt zu.

«Wollen Sie auch was, Herr Oberkommissar? Frau Winter? Nur zwei Mark.»

«Nein danke. Jetzt nicht!»

«Ich … nein», schüttelte Julia den Kopf und sich im Inneren dazu. Hatte sie ihre Nahrungsprinzipien vorhin nicht mitbekommen, als Tief diese peinlich hinausposaunt hatte?

«Mahlzeit!», schallte es durch den Raum. Herrmann Knerz gesellte sich noch zu ihnen, die Pfeife noch immer in seinem Mund. Sein Gesicht war zerfurcht und sonnengegerbt, Zähne fehlten, doch seine Augen waren sehr wach und erfreuten ihn durch die entdeckten Weißwürste, die ohne Haut auch mit ohne Zähne vertilgfähig waren.

«Kein Gebet?», knurrte Tief süffisant.

«Wir haben unsere eigene Vorstellung von Gott, Herr Kommissar», stellte Wienert klar.

«Wissen Sie, was es hier nicht gibt, Herr Oberdings?», fragte Fred Metz. Er wartete eine etwaige Antwort nicht ab: «Den lieben Gott, einen Bürgermeister und die Polizei. Die lassen sich das ganze Jahr nicht blicken, mit Ausnahme vielleicht der Grenzpolizei.»

«Was macht er da?» Tief zeigte auf die Semmel von Adolf Meyer. Der hatte sein Messer genommen und stach dreimal mit der Klingenspitze auf das Brötchen ein. Sein Gesichtsausdruck zeigte aber keine Rache, sondern fast ein Weinen.

«Adolf muss seine Semmel erst töten, bevor er sie so einfach essen oder aufschneiden kann. Er schlachtet sie sozusagen», klärte Fred Metz auf.

«Ich verstehe!» Doch Tief verstand nicht. «Wird der Hafer vorher auch abgestochen, damit das Bier getrunken werden kann?»

«Herr Oberkommissar … machen Sie sich doch nicht lächerlich. Wer sollte so etwas Schwachsinniges tun? Hier ist niemand vom Hafer gestochen oder sticht ihn!», erklärte Holger Winterberg.

Die Männer lachten. Autoritätsverlust ?

Tief musste das Thema wechseln: «Herr Knerz, essen Sie immer mit Pfeife?»

«Die Pfeife isst mit.» Trotz seiner fehlenden Zähne war seine Aussprache deutlich, wenn auch leicht singend.

«Was ist das für eine Pfeife? Ich kenne nur diese gerade kurze, aber so eine gebogene lange habe ich noch nie gesehen!»

«Das ist eine Bent-Pfeife, handgefertigt. Der abgeknickte Holm macht es möglich, sie mit den Zähnen zu halten, so wie ich es tue! Zumindest schmeckt der Tabak besser.»

Er grinste breit und ehrlich. Tief glotzte. Wusste Herrmann Knerz zum einen, dass er vorne kaum was von der Kauleiste hatte und zum anderen, dass seine Unterlippe unten links dermaßen hängend war, was wohl darauf rührte, dass die Pfeife genau dort immer ihren Platz und sich dort inzwischen tief eingegraben hatte ...

«Herr Oberkommissar, hören Sie mir zu? Probieren Sie die Weißwürste meiner Frau, sie sind perfekt! Wir wären beleidigt, wenn Sie es nicht tun würden. Und die Pfeife hat durch das Gebogene den Vorteil, dass ich mit ihr Moped fahren kann, ohne sie abzunehmen und die Frankenpost lesen kann, was sehr wichtig ist, damit wir wissen, was die Verbrecher ein paar Meter weiter von hier so planen und wieso sie von unserer Polizei nicht erwischt werden. Und die Pfeife ist ästhetischer, man kann sie umgreifen, streicheln, liebkosen, mit dem Mund an ihr saugen und …»

«Genug, bevor Ihre Frau eifersüchtig wird! Kommen Sie, Winter, wir gehen! Danke für Ihre Mithilfe und Mahlzeit!» Sie schlüpften in ihre Mäntel. «Eine Frage hätte ich aber noch!»

«Sind Sie Colombo?»

«Witzbold. Warum hatte Bruno ein Skelett in seiner Wohnung?»

«Ein Skelett?»

«Nackt?»

«Freundlich lächelnd?»

«Verdammt, ein Skelett eben, ein echtes Skelett», brummte Tief ungehalten.

«Was sucht Johann bei ihm?» Wienerts Stirn legte sich in heftige Falten.

«Ich kann mich nicht erinnern, dass er je bei ihm war!» Winterberg kratzte sich an seinem Bart.

«Wir sollten ihn mal fragen!» Knerz nuckelte mehr an seiner Pfeife, als dass er paffte.

«Kannte er Johann überhaupt?» Meyer zupfte an seiner großen Nase.

«Johann?» Tief verstand nicht. «Wer zur Hölle ist Johann?»

«Unser alter Knochen ...», vertiefte Wienert, «… das Skelett, nachdem Sie doch eben gefragt haben!»

«Wissen Sie eigentlich, was Sie wollen, Herr Oberkommissar?» Winterberg hob sein Bier und prostete Tief kurz zu. Letztendlich stieß er mit Metz an, der sich zu Johann bisher nicht geäußert hatte.

«Sie stimmen mir doch sicher zu, dass es nicht normal ist, dass ein Skelett einen Namen hat!»

Winterberg stellte sein Glas ab und beugte sich zu Tief rüber: «Tief in Ihrem Inneren, Oberkommissar Tief, tief da drin ist nicht nur ein gutes Herz, sondern auch ein Knochenbau. Glauben Sie mir!» Er zwinkerte ihm zu, aber es war kein Witz.

Winter schaltete sich ein: «Wieso kannte Bruno Johann nicht?»

«Bruno war ein Einsiedler! Er war nicht interessiert an sozialen Kontakten!»

«Soziale Kontakte? Mit einem Skelett?» Tief stand kurz vorm Ausflippen. Winter gab ihm zu verstehen, ruhig zu bleiben.

«Was kann die Ursache für Johanns Besuch bei Bruno gewesen sein?», fragte Julia.

«Keine Ahnung, normalerweise hängt Johann entweder in einem Garten herum oder eben bei einem von uns oder hier in der Kneipe.»

«Wer war oder ist Johann?», fragte sie weiter.

«Er ist schon immer hier. Ein ehrbarer Bürger unseres Dorfes. Ein loyaler Kerl!»

«Das glaub ich sofort. Ich hoffe, er bekommt hier genug zu essen. Winter, wir gehen!»

«Ja, Chef!»

«Einen Moment noch, Herr Kommissar!»

«Oberkommissar, Herr Metz, so viel Zeit muss sein!»

«Darf ich Ihren Mantel berühren?»

«Was?»

«Darf ich Ihren Mantel berühren?»

«Warum wollen Sie meinen Mantel berühren?»

«Er erscheint mir berührenswert!»

«Berührenswert? Wissen Sie was, Herr Metz, ich besuche Sie demnächst und da können Sie von mir aus mit meinem Mantel kuscheln, wenn Sie mir den Mörder nennen!»

Sie gingen nach draußen. Der Tag hatte die Nacht vollständig verdrängt.

«Was halten Sie von der Meute da drin?» Tiefs Daumen zeigte nach hinten, direkt auf das eben verlassene Wirtshaus.

«Was soll ich zu Leuten sagen, die sogar Semmeln brutal schlachten? Man versteht sie! Der Dialekt ist nicht so schlimm, wie ich befürchtet hatte.»

«Das stimmt. Aber das Essen bringt Ihr vegetarisches Weltbild gewaltig ins Wanken, oder? Haben Semmeln nicht auch Gefühle?»

Winter schnaubte kurz und machte sich dann auf Richtung Ferienwohnung. Es waren nur an die hundertfünfzig Meter. Tief trottete grinsend hinterher.

Sie passierten das langweilige Feuerwehrgebäude, in dem nur ein kleiner Leiterwagen Platz haben konnte und betrachteten gegenüber das alte Schulhaus, die Wohnung der Winterbergs.

«Hässlicher gelber Würfel, dieses alte Schulhaus. Wie kann man nur ein Wohnzimmer als Klassenraum haben? Wer ist der Rektor, wer der Klassenkasper?»

«Wie war Ihre Schulzeit?»

«Was interessiert das? Was interessiert eine Zeit der Verwüstung und Zerstörung? Sehen Sie sich das doch mal an! Eine Kneipe neben einem Schulhaus. Meinen Vater hätte das gefreut, wenn er den Krieg überlebt hätte. Vielleicht hat er ihn überlebt und hatte keine Lust mehr zu meiner Mutter zurückzukehren. Hier … hier kann die Mama kochen und putzen, die Kinder in der Schule, die der Papa dorthin gebracht hat, der sich dann in der Kneipe zusammenlässt. Praktisch!»

«Sie waren während der Kriegsjahre in der Schule.»

«Viele reden nicht über den Krieg. Ich rede nicht über die Schule.»

«Eine Dorfschule wie diese hier?»

«Eine Dorfschule wie diese hier. Es ist genug.»

Neben der Schule befand sich ein kleiner Stellplatz, an dessen breiter Stirnseite der Christbaum des Jahres ‘84 stand und noch immer auf seine Abholzung und Abholung wartete. Er hielt sich unter einem dünnen Schneekleid versteckt, nur seine Lichtlein spitzten keck hervor. Im Rücken der gezuckerten Tannengestalt befand sich der Dorfteich. Er war nicht sehr groß, aber groß genug um entweder ein Auto zu versenken oder Wasser für den großen Dorfbrand zu liefern. Er war stellenweis zugefroren. Hinter dem Teich und damit noch weiter von der Straße abgesetzt lag der Hof der Knerz eingebettet. Er wirkte verlottert, aber doch liebenswert mit seinem grauen Haus und den drei angrenzenden Scheunen, wodurch wieder ein Innenhof entstand, der von einem großen Grundstück und der aufkommenden Höhe dahinter geknuddelt wurde. Ein gutes Fußballfeld groß mochte das Grundstück sein. Es war niemand zu sehen. Nicht einmal der Kamin rauchte.

Gegenüber, auf der anderen Straßenseite, thronte das renovierte Kutscherhaus, ein Kleinod, des vermeintlichen Millionärs und damit reichsten Sohns des Dorfes. Aus diesem Kamin entwich Rauch, dunkler Rauch.

«Statten wir dem oberen Zehntausend mal schnell einen Besuch ab?»

«Warum nicht, Chef, er wohnt direkt neben dem Opfer», antwortete Julia und schlug sofort die Richtung zum Gartentor ein. Das Grundstück war im Gegensatz zu dem der Knerz vollständig umzäunt. Ein ordentlicher Jägerzaun umgab die beschauliche Szenerie, die aus dem Haus, eine kleinere und ein paar Meter entfernt stehende Stallung samt dem obligatorischen Brunnen, ein paar Bäumen und einem schwarzen Mercedes SL Cabrio bestand. Auch hinter dem Haus startete ein kleines Bergl seinen Aufstieg. Es war rundum eine schöne Winterlandschaft.

«Der muss wahrlich Kohle haben!» Tief berührte den SL kurz und fühlte sich unweigerlich an Wienert erinnert: Berührenswert , ehe er Julia durch den Garten folgte, vorbei an der Front des Hauses, hin zur Seite bis zur Haustür, von der aus ein feiner Blick auf Brunos Hof geworfen werden konnte.

«Und jetzt?» Julia stand fragend vor der Tür.

«Da! Glocken! Bimmeln Sie doch mal!»

«Bimmeln. Okay!» Julia packte die drei kleinen Glocken und rüttelte heftig daran. Sie schepperten als wäre eine Herde Schafe auf Wintertour.

«Vielleicht ist das die Kirche und die Messe beginnt gleich mit der Ankunft des Herrn», knurrte Tief.

Nur wenige Sekunden später öffnete sich die Tür und ein sichtlich fleischgenährter Mitsechziger spitzte durch den Spalt.

«Ja bitte?» Seine Klangfarbe war rheinland-pfälzisch.

«Mein Name ist Tief, Oberkommissar, das ist meine Kollegin Winter. Wir sind von der Kriminalpolizei Bayreuth. Sie sind …?» Tief hielt ihm die ordentlich polierte Dienstmarke entgegen.

«Polizei? Warum? Was ist passiert?» Seine Neugierde ließ die Tür öffnen.

«Ihr Name bitte!»

«Heiner Metz. Was ist nun passiert?» Seine Stimme war tief und schnell. Sie sang leicht.

«Ihr Nachbar Bruno Baumgärtel wurde gestern Abend tot aufgefunden. Dürfen wir reinkommen?»

«Was? Oh, natürlich, gerne. Kommen Sie!»

Neben dem kleinen Flur schloss sich rechts sofort der Wohnraum an, der wie eine Berghütte in den Alpen auf halber Höhe gestaltet war. Beide sahen sich um. Geweihe von abgemurksten Tieren hingen im oberen Bereich an der Wand. Eine Hitzequal spendender Ofen stand im Eck. Dunkle Holzvertäfelung bis zur Mitte der Wände, eine Kuckucksuhr, die still war, antiquierte Holztische und -stühle im linken Teil des Raums. Um das Eck herum stand ein weiterer Ofen, aber eine der Sorte aus früheren Jahren. Er diente als Wärmequelle und Bratofen, zudem hatte er eine große Herdplatte. Dahinter baumelten Küchenutensilien wie Schöpfkelle, Kochlöffel und Grillzangen, aus Metall, nicht aus Holz. Im Küchenregal waren Bronze- und Porzellanteller nebeneinander aufgereiht, darunter standen in einem Glasschrank Bier- und Weingläser.

Tief fühlte sich sofort wohl. Er rieb sich die Hände. Im Hintergrund spielte Kammermusik von Johann Sebastian Bach. Metz stellte sie leiser. Es lagen einige Platten neben dem Plattenspieler und Verstärker.

«Ich liebe Bach. Wussten Sie, dass er ins Karlsbad war? Eine Schande, dass dies nun auf der tschechoslowakischen Seite liegt, wie auch Marienbad und Franzensbad.» Er hielt kurz inne.

Tief wollte schon antworten, doch Metz kam ihm zuvor: «Aber das interessiert Sie natürlich nicht. Sie haben diese Orte nie gesehen, nie von ihnen gehört! Heilbäder! Kafka war dort, Goethe, Nietzsche, Wagner, Nobel! Männer dieser Welt! Etwas zu trinken? Ich habe aber leider nur Wasser und Sekt.»

«Einen Kaffee bitte!»

«Haben Sie Tee?»

«Zwei Kaffee, schwarz. Mal sehen. Sollte ich auch noch haben. Erzählen Sie, solange ich ihn aufbrühe! Nehmen Sie Platz! Dort drüben, am Esstisch. Die alten Sessel sind arg unbequem. Designerquatsch.»

Heiner Metz wirkte nicht wie ein alternder Millionär. Seine Socken hatten mehr als nur das Standardloch für seinen Fuß, seine dunkelblaue Trainingshose war ausgebeult und der Rollkragenpullover war das schreiende Abziehbild einer Prilblume.

Aus einem Unterschrank fieselte er einen Kaffeefilter und eine Kanne hervor. Tief beugte sich zu Julia.

«Er sieht aus wie Breschnew. Und das hier wie seine Datscha», flüsterte er.

«Wie wer?», fragte sie.

«Breschnew! Der Russe, der vor drei Jahren verstorben ist. Der Chef der Sowjets. Genauso sieht er aus! Sehen Sie doch!»

«Leonid Iljitsch?»

«Nein! Breschnew», fluchte Tief so leise er konnte.

«Leonid Iljitsch Breschnew. Das ist sein voller Name. Ehemaliger Generalsekretär der KPdSU, Vorgänger von Andropow und Tschernenko. Und er war kein Russe, sondern Ukrainer.»

«Ich wollte keine Geschichtsstunde, sondern lediglich darauf hinweisen, dass er russische Züge hat und aussieht wie dieser ...»

«Schon klar, Herr Oberkommissar», lächelte sie. «Und er hat viele Altersflecken. Jetzt schon!»

Metz kümmerte sich umständlich um die Kaffeemaschine.

«Ein hübsches Auto haben Sie, Herr Metz!», begann Tief seinen Smalltalk.

«Danke. Im Winter dämmt das Dach leider sehr wenig!»

«Sie sind alleine hier?» Tiefs Augen entdeckten immer neue Details. Räuchermännchen, Porzellan mit Zwiebelmuster. Billige Landschaftsgemälde, deren Farben verblasst sind. Das Aquarell eines Gutshofs mit dem Titel «Kaiserslautern».

«Wissen Sie, meine Freundin will ihren Beruf nicht aufgeben und arbeitet daher. Ich wollte ein paar Tage im Schnee verbringen und da bietet sich nichts besser an als meine alte Heimat Neuhausen. Was ist nun mit Bruno? Ich kenne … ich meine, ich kannte ihn seit meiner Kindheit. Er war kein Freund oder so, dafür war er zu alt für mich. Aber er lebt … ich meine lebte in dem Haus, in dem ich einst groß geworden bin!»

Tief und Winter hielten kurz inne.

«Sie wollten seinen Hof kaufen, stimmt das?»

Metz räusperte sich, erst kurz, dann tief und lang. Er wollte keine Zeit schinden. Es war die Forderung seines schilddrüsengeschwängerten Halses. Der gelbe Schleim darin war fast greifbar. «Das ist richtig!» Er versuchte Hochdeutsch zu reden, dazu laut und deutlich. «Aber er wollte nicht verkaufen. Ich habe ihm einen sehr guten Preis für seine Müllhalde geboten, von mir aus hätte er auch darin weiter wohnen können, es sind immerhin zwei Wohnhäuser! Intention war rein die Erinnerungen und irgendwann die Möglichkeit aus diesem Hof wieder etwas Besonderes zu machen. Was ist Bruno nun zugestoßen?»

«Er wurde ermordet. Erwürgt. Auf seinem Klo. Oder er zumindest wurde dort abgestellt.»

«Ermordet? Auf …? Wer sollte Bruno so etwas antun …? Mein Gott!» Heiner packte den Stuhl direkt vor sich, um sich fest darauf abzustützen. «Er war krank, arm, einsam … ich verstehe das nicht!» Er wandte sich wieder dem Kaffee zu, der nun fertig in der Kanne angekommen war.

Zwei vollgefüllte Tassen landeten neben Zucker und einer abgelaufenen Milchtüte auf dem Tisch. Die Löffel reichte er. Er selbst nahm einen Sekt. Er kippte ihn auf ex in seinen Schlund. Er schenkte sich einen Piccolo nach.

«Sie sind mit Fred Metz verwandt?»

«Hier ist so ziemlich jeder mit jedem verwandt. Unsere Väter waren Brüder. Wir sehen uns selten, obwohl wir uns eigentlich ganz gut verstehen. Aber Geld und die örtliche Distanz … machen vieles zunichte.»

«Ist Ihr Geld ein Problem für alle Bewohner dieses Dorfes?»

«Jeder kann an meinem Geld teilhaben, wenn es zum Wohl des Dorfes ist. Ich habe mir einen Traum erfüllt und dieses Häuschen gekauft und renoviert. Vielleicht weil ich das andere nicht bekommen habe.»

«Wem gehörte es vorher?»

«Einer früheren Apothekerin aus der Nähe von Wien. Sie machte mit ihren Freundinnen häufig hier Urlaub, bis sie zu alt wurden, das Anwesen verkauften und ich deren Angebot dankend annehmen konnte. Das Bild dort drüben, das alte Ölgemälde mit dem Otto Bismarck nicht unähnlichen Herrn stammt noch von ihr. Sie wollte es nicht, keine Ahnung warum. Sie sagte, es gehört hierher, mit all seiner Vergangenheit, Geschichten und Nachkommen. Ich habe leider nie mehr darüber herausgefunden, außer dass es ihr Großonkel ist: Johann Steiner.»

«Johann … Steiner?»

«Das hat nichts zu tun mit Steiner und dem Eisernen Kreuz oder so, aber dennoch habe ich das in Betracht gezogen. Johann Steiner ist leider kein seltener Name und es gibt im Dorf jemand, der mit Nachnamen Steiner heißt. Nur leider ist Jackie geistig etwas zurückgeblieben und seiner Mutter weiß nicht viel über ihre Vorfahren, zumindest nicht die, die aus der Reihe tanzten wie ein Onkel, ein Vetter oder dergleichen. Sie verbietet Jackie auch, über die Vergangenheit zu reden. «Vergangenheit ist vergangen und soll ruhen», waren ihre Worte. Aber Jackie könnte es wissen. Er lebte als junger Mensch bei seinem Onkel bis zu dessen Tod und damit in der Linie Johann Steiners. Ich finde das Bild an sich gut, das gemalte Bild eines feschen Bahnvorstehers!»

«Interessiert mich nicht.» Tief widmete sich eher den Kaffee.

«Er liebte Eulen?» Julia mochte alte Bilder. Sie näherte sich dem Bild und begutachtete die Maltechnik. Auf der Schulter des Mannes saß eine kleine, kurzschwänzige Eule mit aufgeplusterten Kauzblick.

«Sie interessieren sich für Kunst? Einer so schönen Frau wie Ihnen steht das sehr gut zu Gesicht. Ich kann Sie gerne einmal …»

«Interessiert sie nicht!»

Tief fluchte plötzlich innerlich auf den Kaffee, er hatte sich die Zunge angesengt und er schmeckte scheußlich.

«Doch, es interessiert mich. Sie haben viele Bilder hier hängen. Von Ihnen hängt eines im Flur. Und eines von einem Anwesen, das Ihnen sicher auch gehört.»

«Ach, das Anwesen … Es liegt wunderbar! Erst letzthin hatte ich ein Millionenangebot dafür! Die Geschäfte laufen allgemein gut. Und es ist ein Privileg, hierher sich zurückziehen zu können! Keiner meiner Geschäftsfreunde würde auf die Idee kommen, mich hier zu besuchen!» Metz strahlte wie ein Honigkuchenpferd, mit einer Extra Portion Honig. «Ich unterstütze auch den 1.FC Kaiserslautern. Sie sind kein Fußballtyp, das sehe ich, aber Sie, Frau Winter, scheinen sich dafür begeistern zu können. Wussten Sie, dass der 1.FCK früher FC Bavaria 1902 Kaiserslautern hieß? Fritz Walter, feiner Kerl, Thomas Allofs, der trifft und trifft und ...»

«Interessiert mich nicht.»

Julia ließ das Bild keine Ruhe.

«Das ist ein Steinkauz, oder?»

«Gut erkannt! Diese Art war früher hier sehr verbreitet. Ich kann mich als Kind noch daran erinnern, wie er sogar in Scheunen oder Steinkellern gebrütet hat. Unter diesem Haus ist übrigens ein Steinkeller, wenn auch kein solcher, wie er überall hier im Ort zu finden ist um die Kartoffeln zu lagern. Ich nutze ihn als Vorratskammer für meinen Schinken und Wurst. Ich plane, daraus eine Räucherkammer zu machen. Wollen Sie mal sehen, meine Liebe?»

«Nein danke. Ich mache mir nichts aus … Fleisch oder Wurst.»

«Schade, Sie verpassen was! Wie kann ich Ihnen noch weiterhelfen? Ich bin noch zwei Tage hier, dann fahre ich zurück nach Starnberg. Das Gresbek-Haus soll abgerissen werden, ich muss hier mal mit dem langjährigen Bürgermeister von Starnberg reden. Solche Immobilien sind immer interessant.»

«Interessiert mich nicht. Sie wissen, dass wir verlangen können, dass Sie hierbleiben müssen, um uns bei den Ermittlungen zu unterstützen?»

Tief stand auf und betrachte beiläufig das Bild.

«So gerne ich dem nachkommen, aber Sie irren sich, Herr Oberkommissar. Zudem wüsste ich nicht, warum und wie ich Ihnen weiterhelfen könnte. Brunos Tod erschüttert mich, aber ich sehe keinen Sinn dahinter. Er war krank und mittellos, mit Verlaub …. etwas pietätlos, aber … lange hätte er es sowieso nicht mehr gemacht!»

«Was halten Sie von dem Gockel?»

«Ich finde ihn charmant!»

«So etwas findet eine Frau charmant? Dieses Gebrabbel von dem Dickbäuchigen da? Das halt ich nicht aus. Wegen Beethoven?»

«Bach.»

«Fußball. Weil er Ihnen Fußballwissen unterstellt hat mit diesem 1.FC Köln da.»

«Kaiserslautern.»

«Eine Eule … «uh, ich weiß was» Toll!»

«Steinkauz. Wir sollten uns auf unseren Fall konzentrieren. Oder sind Sie etwa eifersüchtig?»

«Eifersüchtig? Interessiert mich nicht. Ich bin nur verwundert, wie eine gestandene Polizistin und Frau auf so etwas abfahren kann!»

«Polizistin und Frau? In dieser Reihenfolge?» Julia visierte Tief hart an.

«Ach, lassen Sie mich doch zufrieden! Der Mann hat zumindest ein Motiv!»

«Motiv? Er scheint viele Geschäfte in Immobilien und mit Fleisch zu machen, wirklich Kohle zu haben und das Leben zu genießen.»

«Das tut die Mafia auch! Und die zieht auch Frauen an. Und Dreck.»

Tief steuerte die Ferienwohnung an. Die Sonne leckte immer heftiger am Schnee, es war ruhig.

«Hier fährt wirklich kein Auto durch. Kein Wunder, wer hier fährt, will entweder in dieses oder in das nächste Kaff, aber wer will schon hierher? Die anderen fahren lieber die Bundesstraße. Wen haben wir noch auf unserer Liste?»

«Vielleicht sollten wir Tristan und Isolde eingehender befragen?», schlug Julia vor.

«Und die Lockenwickler. Wir müssen zudem ein paar Sachen holen, um uns hier für ein paar Tage niederzulassen. Zahnbürste, Dosenfutter, Überlebenshandbuch.»

«Meinen Sie, der Mörder kommt aus dem Dorf?»

«Mit ziemlicher Sicherheit. Ein profaner Einbrecher war es nicht. Bruno muss seinen Mörder gekannt haben, auch wenn an sich jeder einfach so ungesehen und lautlos in seine Bruchbude reingehen kann. Aber was wollte er von ihm?»

«Und wenn sich der Mörder geirrt hat? Und jemand anderen eliminieren wollte? Vielleicht wollte er ihn auch nicht töten, es hat sich nur so ergeben?»

«Das ist gut, Winter! Wir müssen warten, was Frosch berichtet. Bis dahin fragen wir uns hier durch. Wärmen wir uns erst einmal bei Tristan und Isolde auf. Der Kaffee von dem Geldscheißer lässt nach! Ich spüre sogar meine Zunge wieder.»

Neuhausen - Eine Dorfverschwörung

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