Читать книгу Neuhausen - Eine Dorfverschwörung - Der Augenlauscher - Страница 5

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«Im Osten geht die Sonne auf!»

«Hier gibt es keinen Osten! Hier ist das Ende der Welt!»

Die Sonne kämpfte sich durch die Wolkenwand. Für Anfang März und Morgengrauen war es einigermaßen mild. Der Schnee sah seinem Ende herbei. Dennoch fröstelte es Julia. Vielleicht lag es nicht am Wetter, sondern an der kargen Umgebung.

«In jede Richtung der Eiserne Vorhang», brummte Tief und begutachtete die Gegend. Sein Atem war sichtbar und schwer.

Sie standen mit einer Landkarte in der Hand auf Brunos Auffahrt, an deren Ende, bergab, verlief die einzige Straße des Dorfes. Auf der anderen Seite waren noch zwei Bauernhöfe, ebenso Vierseit, danach ging es wieder bergauf. Oben angekommen offenbarte sich ein ebener Blick über schneebedeckte Felder und einige Wälder. Die Grenzpfosten, die die Bundesrepublik Deutschland von Tschechoslowakei trennten, waren kaum zu sehen. Zu viel weiß auf weiß, nur das blaue Band am oberen Ende war zu erkennen.

Die schmale Landstraße unten kam aus Lauterbach bei Selb. Sie führte durch Neuhausen und dann direkt an der Grenze weiter nach Rehau.

Tief studierte die Landkarte und die Gegebenheiten um

«Als wir hergefahren sind, vollführt die Staatsstraße eine Gratwanderung ganz nah an der tschechoslowakischen Grenze vorbei. Ein Abflug in dieser scheiß verschneiten Dunkelheit und wir wären von der NATO direkt in die zupackenden Arme des Warschauer Pakts geflogen, was Russen vielleicht als direkten Angriff werten würden. Erschossen … auf dem Todesstreifen, gefolgt von SS20-Raketen, die alles in Schutt und Asche legen würden. Vielleicht auch dieses Dorf. Immerhin etwas Positives.»

Tief gähnte und streckte sich. Selbst Gott schlief zu dieser frühen Stunde an diesem, seinem Tag noch.

«Übernachten oder jeden Tag wiederkommen?»

«Was?», grunzte er.

«Also … hier übernachten oder jeden Tag von Bayreuth wieder in die Höhen der oberfränkischen Berge fahren?»

«Vielleicht finden wir den Mörder schon heute? Es ist noch sehr früh am Morgen.»

«Sie glauben heute den Mörder bereits dingfest zu machen?»

«Ich bin sehr gut, Winter!»

«Und wenn nicht? Abends zurück und morgen wieder her?»

«Das wären jeden Tag gute drei Stunden Fahrt! Die A9 ist natürlich wunderbar verlassen, denn wer fährt schon in den wilden Osten … aber dann … die holprigen Landstraßen? Und wenn Sie eh nicht wieder zurückwollen?!»

«Also übernachten! Dann gehen wir doch gleich mal zu Brunos Nachbarn. Laut dem schimmeligen oder verschneiten Schild bieten die Ferienwohnungen an.»

«Dann reservieren wir uns zwei Zimmer. Vielleicht ist es nicht schlecht einen Rückzugsort über den Tag zu haben.»

Der Oberkommissar stapfte los.

«Jetzt? Um die Zeit? Es ist Sonntag und die Sonne geht gerade auf!»

«Interessiert mich nicht. Wir sind die Polizei. Wir sind die Heilskraft der Republik! Die Polizei, dein Freund und Helfer. Das wusste schon Himmler in seinem Geleitwort «Die Polizei - einmal anders». Wir haben mit unseren Bullenkutschen, mit unserem sicherheitswiegenden aber doch alarmierenden Blaulicht, die Nacht zum Tage gemacht und hier für mehr Disco-Stimmung hier gesorgt als der Zweite Weltkrieg samt Silvesternächten und die BeeGees zusammen. Die Inzestheimeligen hier sind alle schon wach, weil der Menschenschlag, der hier lebt, neugierig, tratschend und informationsheischend ist. Eine der ihren ist gestorben und das scheinbar nicht freiwillig. Einer der Ältesten mit um die Siebzig, ein Relikt der Vorkriegszeiten, hier in diesem Nest, einem Dorf, das ein müßig freigewischtes Bullauge ist, vor dem die Russen ab und zu den Eisernen Vorhang zur Seite schieben um durchzuglotzen, um zu sehen, was läuft im fortschrittlichen Westen! Sie wollen wissen, wer die Nummer Eins in der ZDF-Hitparade ist, im Kino!». Essentielle Dinge also.«

«Deshalb dürfen wir um ein Zimmer fragen?»

«Außerdem ist Kirche!»

«Kirche? Wo soll hier eine Kirche sein?»

«Na … jedes Dorf hat doch eine Kirche. Die wird schon irgendwo sein. Gehen wir!»

«Nicht fahren?»

«Die fünfzig Meter?»

«Fünfzig Meter Wind und Kälte!»

«Interessiert mich nicht!»

Tief stapfte los, Julia mit aufwändigen Rubbelbewegungen an ihren aufgeplusterten Oberarmen hinterher. Sie liefen die Auffahrt hinab, die Landstraße kurz entlang, nicht ohne das Gefühl zu haben, hinter den Vorhängen der alten Fenster beobachtet zu werden. Darunter die Einwohner des Gehöfts vor ihnen. Nach einem kurzen wie schmalen Garten thronten eine Scheune und daneben das Wohnhaus in etwa zwei Meter über der Dorfstraße, ein steiler Weg führte rechts daneben zu einem weiteren Hof weiter hinten. Die Wege waren frisch frei geschaufelt. Vielleicht hatte der Oberkommissar recht. Sie passierten eine überdachte Eingangstüre und klingelten schließlich Sonntag früh um acht Uhr die Klingel mit der Aufschrift «Marke - Ferienwohnungen».

«Wetten, es dauert keine Min…»

Tatsächlich öffnete sich die Haustüre sehr schnell.

«Gell, Sie sind von der Polizei, richtig?» Eine ältere Frau in Schürze und mit blitzenden Augen, unweit unterhalb der im grauen Haar gefangenen Lockenwicklern in allen Farben, kam sofort zum Wesentlichen.

«Auch Ihnen einen wunderschönen guten Morgen, Gnädigste. Haben Sie zwei Zimmer frei bis auf Weiteres?»

«Nur eines!»

«Sind die anderen tatsächlich belegt?» Wohnte hier der Mörder?

«Nein, wir haben nur eine Ferienwohnung!»

«Aber auf dem Schild steht doch «Ferienwohnungen» und nicht «Ferienwohnung». Das suggeriert mehr als eine ...»

«Mit Fremdwörtern können Sie mir nicht imprägnieren und ich wohne schon ein Leben lang hier und kann Ihnen sagen, es gibt nur eine Ferienwohnung.»

«Verstehe!» Tief blickte zu Julia, die nur mit den Schultern zuckte. «Okay, wir nehmen diese Wohnung!»

«Es ist nur ein Zimmer. Aber mit einer Küchenzeile und natürlich einem Bad. Ich kann Ihnen gerne Prospekte zeigen, die haben wir extra anfertigen lassen. Man muss den Fremdenverkehr ja etwas ankurbeln.»

«Sie können uns auch das Zimmer selbst zeigen.»

Tief blickte zur Bestätigung seiner Erinnerung noch einmal auf das Klingelschild: Marke - Ferienwohnungen. Eindeutig Wohnungen in der Mehrzahl.

«Sicher, sicher. Einen Moment. Kommen Sie herein, aber bleiben Sie mit Ihren Schuhen im Flur. Es ist Sonntag, ich habe erst saubergemacht und der Matsch ...!»

Während beide eintraten, verschwand die Dame im hinteren Teil des Flurs. Sie blickten sich um. Alt, aber ordentlich. Auch der Duft der Alte-Menschen-Welt war erträglich. Doch auch hier war die Zeit in den Siebzigern stehen geblieben.

«Sie wollen sicher in die Kirche!», rief Tief hinterher.

«Welche Kirche?», kam es sichtlich fragend zurück.

Aus dem Nichts von rechts trat ein älterer Herr im dunkel- und hellbraungestreiften Bademantel hervor. Er wirkte wie ein Abziehbild der Tapete im Wohnungsreich des Opfers. Er trug eine ebenso braune Brille, dicker Rahmen, dicke Gläser, schmächtiger Träger. Seine genauso braunen Haare waren wellig zur Seite gekämmt als wolle er eine Mischung aus Hans-Joachim Kulenkampff und Rudi Carrell imitieren. Es war kläglich.

«Wer sind Sie?», fragte Tief.

«Der Mann meiner Frau»

«Und wer ist Ihre Frau?»

«Die Dame, die eben die Papiere holt, um Ihre Personalien festzustellen. Wir sind nämlich ehrliche Leute und zahlen unsere Steuern. Selbst hier, wo die Vergessenen ...!»

«Gab es etwa Zweifel daran?»

«Sie sind schließlich von der Polizei!»

«Gut beobachtet. Ich bin Oberkommissar Tief, das ist meine Kollegin Julia Winter, Mordkommission Bayreuth. Und Sie?»

«Mein Name ist Tristan Marke, die mit den bunten Lockenwicklern gerade eben ist meine Frau Isolde. Sie brauchen nicht so zu gucken. Es war nicht meine Idee!»

«Wieso …? Nun, in Ordnung. Also, Herr Marke, Sie kannten das Opfer?»

«Wenn es um Bruno geht, natürlich. Aber nicht näher.»

«Er war Ihr direkter Nachbar!»

«Mein direkter Nachbar wohnt gleich Hauswand an Hauswand daneben, Bruno wohnt aber da drüben. Ein Feld liegt dazwischen. Es gehört aber uns.»

«Drüben ist sozusagen kein Nachbar, obwohl ihr Feld an sein Grundstück grenzt?»

«Sind die Russen unsere Nachbarn?»

«Nein, aber die sind auch nicht …»

«Sehen Sie! Und so ist es hier auch! Uns gehört vielleicht das Feld, aber es ist wie mit der DDR und Polen von der Sicht der Bundesrepublik auf die UdSSR.»

«Bruno Baumgärtel war für Sie, die BRD, also mehr der Sowjetrusse?»

«Zumindest lebte er für sich abgeschottet. Man sah ihn ab und zu wenn das Wetter schön war und er seine feuchten Wände verlassen konnte. Dann hat er immer seine Schultern in Gang gebracht!»

«Seine Schultern?»

«Ja! In etwa so!» Marke schlurfte durch den Flur und zog mit jedem zweiten Schritt seine beiden Armwipfel synchron nach oben. Er hüpfte durch die Gegend wie ein frisch aufgewachtes Känguru ohne aber wie eine Geher auch nur einen Fuß vom Boden zu erheben. Es sah beinah olympisch und grazil aus.

«Schatz, hör auf den Bruno zu machen. Der arme Kerl!» Isolde war zurückgekehrt und hielt Tief die Ausfüllbögen für die Ferienwohnung unter die Nase. Er gab sie postwendend weiter an Julia, die es augenrollernd annahm und ihren Stift zückte. Zumindest erwärmten sich ihre Finger langsam wieder. Es war die Wärme eines Kamins, der irgendwo Holzhitze in die Wohnung spie. Auf einer Anrichte begann sie zu schreiben.

«Was ist nun mit Bruno? Ist er wirklich tot?» Isolde stand vor Oberkommissar Tief nicht wie die erschütterte Nachbarin, sondern eher wie seine Chefin, der alte Besen. Ihre Hände waren in den Taschen der wüst gemusterten, violett überlagernden Schürze verschwunden, ihr Blick streng und ihr Kinn leicht in die Höhe gerichtet. Kein Frage, sie war der Mann hier im Haus.

«Wir gehen von einem Mord aus. Wo waren Sie gestern den ganzen Tag?»

«Abgesehen davon, dass wir mit dem Mord nichts zu tun haben … ich habe am Morgen Semmeln geholt, dann haben wir gemeinsam gefrühstückt. Da wir momentan keine anderen Gäste haben und nicht wie jetzt ausgebucht sind, war relativ viel Zeit um ein paar Innenarbeiten in der Scheune zu erledigen. Meine Frau hat …»

«… die Wäsche gewaschen. Ich kann für mich reden. Tristan, denn das habe ich gemacht!»

«Die Wäsche, die noch draußen an der Wäscheleine hängt?»

«Ja, sie ist noch nicht trocken»

«Kein Wunder, es ist Winter!»

Julia blickte gedankenverloren auf: «Was ist?»

«Nichts! Schreiben Sie weiter!»

«Was hat der Winter mit meiner Wäsche zu tun? Wieso reagiert Ihre Kollegin so darauf? Die jungen Dinger wissen doch nicht einmal mehr wie Wäschewaschen geht. Die rennen doch nur auf Demonstrationen um gegen Atomkraft und Wiederaufbereitungsanlagen zu protestieren, wie jetzt in diesem Wackersdorf! Das liegt in der Oberpfalz! Was will man mehr?» Isolde verschränkte bedrohlich ihre Arme.

«Meine Kollegin, die wie eingangs erwähnt, Winter heißt, würde nie an Ihre Wäsche gehen, Gnädigste! Wie lange können wir das Zimmer haben? Sind zwei Betten drin?»

«Sie können es bis Freitag haben und es ist ein größeres Bett und ein Schlafsofa im Zimmer. Beide Möbelstücke beziehen?»

«Ja, ich bitte darum. Wo wohnt Adolf Meyer?»

«Meyer? Was wollen Sie von dem?»

«Wo wohnt er?»

«Spielt er eine Rolle bei dem Mord?»

«Wo wohnt er?»

«Sonst würden Sie ihn nicht gleich aufsuchen. stimmt’s?»

«Wo wohnt er?»

«Im oberen Dorf!»

«Im oberen Dorf?»

«Im oberen Dorf!»

«Was ist das obere Dorf? Schwebt es irgendwo … über uns?»

Tristan übernahm: «Wir wohnen im so genannten unteren Dorf. Dazwischen liegt ein Feld, dass das obere vom unteren Dorf trennt.»

«Zerstritten?»

«Ja, teilweise. Insgesamt ist es aber historisch bedingt. Von der Geschichte weiß ich aber nicht viel, aber es gab wohl hier Höfe und dort Höfe und irgendwann hat man es zusammengenommen und aus Oberneuhausen und Unterneuhausen wurde Neuhausen. Und doch gibt es noch Familien, die sich nicht riechen können. Sie wissen wahrscheinlich nicht einmal mehr warum!» Tristan grinste breit, seine Brille wackelte mit.

«Straßenname?»

«Wir haben keine Straßennamen hier. Nur Hausnummer. Je niedriger die Hausnummer, umso früher stand dieses Haus.»

«Keine Straßennamen? Wo soll das nur hinführen?»

«Hinführen? Wir haben zwei Möglichkeiten, wo wir ...»

«Ein Ort ohne Namen ist ein Ort ohne Zukunft. Welche Hausnummer?»

«Nummer zwei!»

«Wer ist die Eins?»

«Otto Metz mit seinem Sohn Fred und dessen Frau Gunda. Otto war der letzte Bürgermeister in Neuhausen, bis es eingebürgert wurde.»

«Das Kaff hatte einen eigenen Bürgermeister? Für was? Es hat ja nicht einmal Straßennamen!»

«Für unsere Interessen!»

«Zum Beispiel?», fragte Julia.

«Strom, Telefon, Kirche. Grundbedürfnisse!»

«Aber war nicht weit her. Keine Kanalisation. Dazu Strommasten! Überirdischer Plunder!»

«Zumindest sind wir diesseits des Zauns. Wie viel Kaffee trinken Sie am Morgen?» Isolde richtete kurz aber präzise ihre Lockenwickler so, als würde ihre Schönheit davon abhängen.

«Zwei Tassen mindestens. Sie, Winter?»

«Ich würde Tee bevorzugen. Egal welcher.»

«Ich muss nur wissen, wie viel Wasser ich abkochen muss morgens.»

«Wasser abkochen?»

«Wir haben ihr kein fließend Wasser. Wir holen es natürlich aus dem Brunnen und dafür kochen wir es heiß ab! Mit dem Herd. Wir haben Strom seit ...»

«Natürlich… klar! Ihr Bürgermeister ist nicht mehr im Amt, sagen Sie?»

«Leider nicht!» Tristan kratzte sich verlegen am Kopf.

«Dann es ist wohl aus mit den Grundbedürfnissen! Wasser abkochen …»

Sie hatten das Haus verlassen.

«Kommt Ihnen das nicht merkwürdig vor?» Winter hauchte Wärme in ihre sich reibenden Hände.

«Was?» Tief beobachtete schmaläugig die Gegend, während sie zum Wagen zurückkehrten. Auch Julia studierte das kleine Tal, in dem sie sich befanden, mit all seinen Bauernhöfen, aus deren Kaminen Rauch hervor stieg und zusammen mit den verschneiten Bäumen eine zugegeben schöne und friedliche Winterlandschaft prägte. Es war still an diesem Sonntagmorgen. Im Mordshaus hantierten noch die Kollegen aus Nürnberg und Bayreuth. Auch der Leichenwagen war noch da.

«Tristan Marke und seine Frau Isolde!», lachte Julia plötzlich.

«Wie deren Ehe wohl mal endet? Wobei, in der Oper waren sich nicht einmal verheiratet.»

«Sie kennen sich mit Opern aus?»

«Es ist Wagner.»

«Aber der Nachname Marke dann noch dazu!»

«Der Nachname?»

«Marke.»

«Was ist damit?»

«Tristan und Isolde selbst haben mit Wagner nichts zu tun. Kein Wunder, dass Sie es dann nicht wissen!» Julia lächelte verschmitzt. «Aber auch in der Oper: König Marke war der Onkel von Tristan. Isolde sollte an sich König Marke heiraten, unterstützt durch einen Liebestrank, den dann aber Tristan schließlich mit Isolde getrunken hat. Unser Mann hier vereint also sozusagen Tristan und Marke in Liebe mit Isolde. Das ist sonderbar und witzig! Marke stirbt übrigens.»

«Interessiert mich nicht!»

Sie waren zurück im Innenhof. Der ordentlich haustreppenverbeulte Blechsarg wurde in den trauergrauschwarzen Leichenwagen geschoben. Die beiden sichtlich erschöpften und ebenso kurz vor dem Tod stehenden Männer verabschiedeten sich mit einem kurzen Wink in ihrem umgebauten Mercedes-Kombi.

«Diese Haustür verdient nicht ansatzweise ihre Namen.» Tief begutachtete die schmale, zweiflüglige Holztür mit der abgegriffenen Metallklinke. «Ein Schloss wie aus dem letzten Jahrhundert. Innen steckt kein Schlüssel und es liegt auch keiner auf der Kommode. Sie wird nie verschlossen gewesen sein. Der Täter hatte also freien Eintritt.»

«Also kann es ein Bekannter oder Unbekannter gewesen sein.»

Julia stapfte rüber zum anderen Haus.

«Hier ist auch offen!», rief sie.

«War doch zu erwarten», grummelte Tief und folgte ihr in das andere Wohnhaus.

«In dem einen Haus schlief er und machte die Wäsche und hier … kochte er.»

Gleich links vom Flur befand sich die Küche. Rechts ging früher eine Holztreppe nach oben. Sie war ab der dritten Stufe zerstört. Geradeaus war Dunkelheit. Oder ein Kamin.

«So eine große Küche würde ich auch gerne haben!»

«Ja, hier könnte man einige Frauen unterbringen.»

«Was soll das denn heißen?»

«Manche Wohnzimmer sind kleiner als diese Küche hier. War früher so. Ein Eingang, ein Flur, eine Wohnküche für die gesamte Großfamilie, wo Mutti in Schürze die hungrigen Mäuler ihres fleißigen Mannes und ihrer Kinder stopft, in dem sie die Suppe aus dem Topf des flammenden Herds entreißt.»

«Und Mutti ist nicht fleißig?»

«Wieso assoziieren Sie, dass Mutti nicht fleißig ist? Nur weil ich das Adjektiv beim unermüdlichen Papi benutzt habe?»

«Adjektiv? Sie überraschen mich, Herr Oberkommissar!» Sie schritt durch die versiffte Küche. Der Herd war bedeckt von vier oder fünf alten schwarzen Blechtöpfen, die zum Teil in Flammen aufgegangen schienen. Die weiße Blechspüle war begraben unter ramponierten Tellern und Tassen ohne Henkeln. Die Schachbrettfliesen in weiß und schwarz klebten, in einem Eck stapelten sich leeren Bierflaschen. und Kronkorken. Die früher sicherlich kuschelige Essecke war überhäuft von ausgedienten Jacken und Zeitschriften. Geöffnete Dosen waren innen verschimmelt oder von Kleingetier okkupiert, geschlossene waren abgelaufen. Der Kühlschrank grinste frech, weil er genau wusste, welche abartigen Geheimnisse er in seinem Bauch hatte. Sie blieben ihm fern. Der Wasserkessel pfiff äußerlich rostig aus den letzten Löchern. Die Fenster und Wandfliesen waren verschmiert und zerkratzt, einige Kacheln waren von den Wänden abgefallen. Die restlichen Wände verschmutzt. Überall standen Kerzen.

«Wieso soll ich nicht Adjektiv sagen? Meinen Sie, ich kenne so etwas nicht?»

«Ihre Lateinkenntnisse überraschen mich. Oder sind es doch ihre Grammatikkenntnisse?»

Die Handtücher waren zerrissen, die Spülbürste zahnlos. Der Ofen war lange nicht benutzt worden und dennoch verrußt.

«Ich hatte eine hervorragende Deutschlehrerin!»

«Lehrerin? War das erlaubt damals? Konnte die kochen?»

«Hier bestimmt nicht. Aber als Lehrerin taugte sie.»

«Das heißt, zu mehr würde sie nicht taugen?» Sie drang immer tiefer in die hinteren Regionen der Küche vor. Sie spürte, wie die Schimmelsporen sich langsam in ihrem Rachen breitmachten. Ein Gefühl wie das eben geführte Gespräch mit ihrem ihr unbekannten Chef.

«Lehrerin reicht. Gott bewahre, wenn sie zum Beispiel Rektorin gewesen wäre. Oder Bürgermeisterin. Mir persönlich reichen schon Weiber, die meinen, kriminalistisches Gespür zu haben.» Tief vermied es, irgendetwas anzufassen. Er vertraute lieber auf seinen durchdringenden Blick, der aber trotz seiner Aussage nicht Julia erreichte.

«Gut zu wissen, Chef. Zum Glück gibt es schon Bürgermeisterinnen und Polizistinnen … die machen ihren Job hervorragend.»

«Das denken sie. Es gibt nur eine Frau in der Bundesregierung und die sitzt da, wo sie hingehört!»

«Sie sind chauvinistisch, aber wir haben keine Familienministerin!»

«Nein, denken Sie an meine Lehrerin! Eine Frau als Bildungsministerin! Das ist konsequent, wie Sie nun feststellen, Winter!»

«Dorothee Wilms wird noch mehr erreichen! Und Frauen werden eines Tages mehr Ministerposten innehaben, als nur diesen einen lächerlichen!»

«Jaja, und dann werden wir sogar eine Bundeskanzlerin haben!» Tief lachte kräftig auf. «Das wäre ein Witz! Alleine dieses Wort: Bundeskanzlerin! Eine Frau an der Spitze der Regierung! Der Untergang des Bundesabendlandes!» Tief beruhigte sich nur langsam wieder. «Vielleicht leitete sogar so eine Tante einmal die Bundeswehr. Dann wandere ich aber aus.»

«Dann hoffen wir das Beste! Sie haben nur ihren Brass auf Frauen, weil Ihnen Ihre abhandengekommen ist.»

«Winter, werden Sie nicht albern! Was weg ist, ist nicht mehr da und das ist gut so!»

«Es tut mir leid, Chef. Ich wollte Sie nicht angreifen.» Sie drückte den Lichtschalter, um den hinteren fensterlosen Teil der Küche zu erhellen. «Kein Strom! Klar, war drüben ja ebenso nicht. Deswegen auch überall die Kerzen. Wie drüben im anderen Haus.»

«Echte Zwillingsgebäude. Untrennbar verbunden! Vielleicht war er Romantiker. Entweder sind alle Lampen defekt oder sie haben ihm bestimmt den Strom gekappt. Überprüfen Sie das. Ebenso, wo und bei wem er noch Schulden hatte.»

«Der Gestank hier ist so unerträglich wie drüben. Aber anders.»

«Und sicherlich auch nicht gesund. Gehen wir wieder!»

Sie traten wieder in den Innenhof. Die Tür fiel krachend metallisch ins Schloss.

«Die beiden Scheunen sollen die Jungs durchsuchen. Wir beginnen mit der Befragung bei Adolf Meyer. Dann sehen wir weiter. Und wir brauchen noch Klamotten und eine Zahnbürste. Ich gehe davon aus, dass wir länger hierbleiben …»

«Ich möchte lieber eine eigene Zahnbürste!»

«Schnarchen Sie, Winter?»

«Nein. Nur Männer schnarchen soweit ich weiß.»

«Sie wissen nichts vom Leben, Winter. Und wahrscheinlich auch nicht vom Schlafen! Aber es spricht für Sie, dass sie scheinbar nicht mit Frauen in einem Zimmer schlafen. Scheiße, dass Sonntag ist. Alles zu.»

Sie stiegen in den Wagen und verließen den Hof. Kurze Zeit später, nachdem sie das scharfe Eck sicher passiert hatten, standen Sie vor der Hausnummer zwei, einem kleinen Häuschen, das direkt an der Scheune der Hausnummer eins angebaut war und zur Straße hin einen kleinen Vorhof hatte.

«Adolf Meyer?»

Ein Rentner um die Siebzig schloss eben seine Haustür ab.

«Ja. Und wer sind Sie?»

Er musterte die beiden Eindringlinge genau.

«Oberkommissar Tief und meine Kollegin Julia Winter. Dürfen wir reinkommen?»

«Nein, ich bin auf dem Weg in die …»

«… Kirche?»

«Kneipe!»

«Das wird warten müssen!»

«Gehen Sie doch mit! Alle sind dort ab neun Uhr!»

«Alle? Um neun Uhr? Ist die Kneipe Ihre Kirche?»

«Bruno ist tot! Wie können Sie da Witze reißen? Früher hätte es das nicht gegeben! Da hätte man Leute wie Sie standrechtlich erschossen. Als Staatsdiener umso öfter!», bellte Meyer. Er stapfte los und ließ die beiden stehen.

«Seltsamer Typ!» Tief schnaufte kurz aus.

«Was für eine Nase!»

«Ja, sein Erker ist unglaublich! Selbst sein riesiger Kopf passt nicht zum schmalen Körper. Viele Falten. Wettergegerbtes Gesicht. Hornhaut auf den Fingern, die fast Pratzen sind und zupacken können, vielleicht sogar jetzt noch. Kaum Haare auf dem Kopf. Entweder trug er oft Hut oder es ist erblich bedingt. Genauso schlohweiß wie die von Bruno.»

«Sollten wir ihn nicht aufhalten, Chef? Wir sind schließlich hier in einem Mordfall und er ist unser erster Zeuge!»

«Wir statten der Kneipe dann einen Besuch ab. Sehen wir uns lieber mal um. Die Fenster zur Straße hin laden einen richtig ein, einen Blick ins Innere seiner Wohnung zu werfen. Und sie sehen sauberer aus als bei Bruno!»

Tief begab sich sofort zum ersten Fenster und stierte mit schützender Hand hinein.

«Küche. Nicht so groß wie die von unserem Toten. Und einigermaßen aufgeräumt.»

«Hier ist das Wohnzimmer!» Es geht über die restlichen Fenster, sogar um das Eck herum. Er hat Vorhänge. Die hatte Bruno nicht.»

«Stimmt, Winter! Gut erkannt! Im Haus von diesem Baumgärtel waren keine Vorhänge. Er nutzte den Dreck als Sichtschutz.»

«Das Schlafzimmer scheint dann oben zu sein!», überging sie das Lob.

«Sieht normal aus. Abgesessenes Sofa, bestimmt ein Schwarzweiß-Fernseher. Man sieht die Antenne oben drauf. So ausgerichtet, als ob er auch DDR-Fernsehen schaut. Wohnzimmerschrank, Tischchen, abgetragener Teppichboden.» Tief entfernte sich vom Fenster und sah nach links. «Und daneben wohnt also der Ex-Bürgermeister!»

Sie liefen die Straße, die ortstypisch keinen Gehsteig offenbarte, entlang, bis sie auf der Höhe des Ortsschildes waren, wo sich die Einfahrt zur Nummer eins befand.

«Hier sind wir heute Nacht auch vorbeigefahren. Sieht aus wie ein gewöhnliches Mietshaus in der Stadt. Jedenfalls ist das kein Bauernhof wie die anderen. Obwohl es die Eins hat, sieht es neu aus.» Es war still in und um das Haus. Es war noch kein Schnee geräumt und auch keine Spuren zu sehen. Allerdings fegte der Wind geschmeidig über den Boden und verteilte stilsicher die lockeren und ungebundenen Schneeflocken.

«Gehen wir in die Kneipe. Ich habe Durst und Druck.»

«Das da vorne am Eck schien auch mal ein Gasthaus gewesen zu sein!»

«Gasthof Beck laut dem alten Schild. Sieht sehr verfallen aus. Und unbewohnt.»

«Gehen wir lieber dahin, wo angeblich was los ist! Zum scharfen Eck!»

Sie stiegen zurück in ihren Wagen und kehrten um. Sie zirkelten um die Kurve zwischen Meyers Haus und Gasthof Beck und den bekannten Schildern «Erkersreuth» und «Landesgrenze».

«Moment. Bevor wir abbiegen … da vorne war wohl mal der Grenzübergang.»

«Fahren wir hin!», schlug Julia vor.

Nach nur dreihundert Metern hatten sie den Schlagbaum erreicht. Warnschilder wie «Staatsgrenze» illuminierten eindeutig die Gefahren, die beim Überqueren der Staatsgrenze zu erwarten waren. Tief kurbelte die Seitenscheibe herunter. Es herrschte drückende Stille. Eine historische Schwere war auszumachen.

«Wahnsinn. Hier die NATO, nur ein paar Schritte weiter der Warschauer Pakt! West und Ost.»

Tief lief der Frost des Kalten Kriegs den Rücken hinunter. Er rollte mit dem Wagen noch ein bisschen weiter. Auf der anderen Seite war niemand zu sehen.

«Die Schranke scheint aber ab und zu geöffnet zu werden. Sie wurde erst geölt, sehen Sie?», deutete Julia in die Nähe des Gegengewichts. Die Schranke war in den Farben schwarz, rot, golden lackiert. Auf dem Querbalken lag nicht so viel Schnee wie auf anderen Gegenständen oder Bäumen.

«Aber keine Spuren. Der Schnee ist unberührt. Aber sieht nach einem netten Flecken Erde auf der anderen Seite aus. Die Straße führt durch eine Allee nach …?»

«Nanu, seit wann sind Sie naturverliebt, Oberkommissar?»

«Weil ich das Prunkstück der Natur bin, Winter.» er packte die Landkarte wieder aus. «Die Straße führt nach Asch, einem Ort ungefähr fünf Kilometer von hier.» Er steckte sie wieder weg. «Es ist dennoch unheimlich hier. Ich möchte nicht erschossen werden, nur weil wie hier herum gaffen, zudem aus einem vermeintlichen Privatwagen heraus.»

«Die Nähe und die Stille sind wahrlich unheimlich. Wie können die Menschen hier nur leben?»

«Wie können Menschen nur hinter diesem Eisernen Vorhang leben? Fahren wir!»

Sie fuhren die Straße zurück, am Alten Zollhaus vorbei. Tief hielt erneut an.

«Sehen Sie, Chef. Hier das Alte Zollhaus, schräg gegenüber an der Einmündung der Gasthof Beck. Hier hat früher bestimmt mal der Bär gesteppt. Nun ist alles verfallen und verlassen. Was hält die Leute in diesem Dorf?»

«Vielleicht die Kneipe, Winter. Also hin!»

Neuhausen - Eine Dorfverschwörung

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