Читать книгу Neuhausen - Eine Dorfverschwörung - Der Augenlauscher - Страница 8

Führerqualitäten

Оглавление

Sie waren spät zurückgekehrt, fast zu spät. Die Dunkelheit hatte sich bereits über den kurzen Wintertag gestülpt. Kurz nach dem Ortseingang hielten sie bei Adolf Meyer an, noch bevor sie in die Ferienwohnung zurückkehrten.

Von außen warfen sie erneut einen Blick ins Meyers Wohnzimmer. Eine lange Couch mit angenäherten Holztisch, ein wuchtiger Wohnzimmerschrank mit allerlei Dekoration, ein Fernseher, eine Anrichte und weiter hinten ein Esstisch samt vier Stühlen, sowie einige Pflanzen, die bis unter die Decke reichten. Nichts Ungewöhnliches, dazu sehr aufgeräumt für einen alten alleinstehenden Mann. Wie wohl der Geruch war?

«Licht brennt, also ist er zu Hause. Probieren wir es!», war Julia positiv.

«Gehe nie in ein Haus!»

«Was meinen Sie, Chef?»

«Gehe nie in ein Haus. Normalerweise sollten wir nie ein Haus gehen. Es beeinflusst dich zu sehr in deiner subjektiven Meinung.»

Sie liefen die schmale Einfahrt hinein, um dann an der Tür zu klingeln. Nur wenig später wurde sie geöffnet. Tief wunderte sich erneut über die große Nase und die riesigen Augen des kahlköpfigen Mannes.

«Hallo Herr Meyer! Kurz Zeit?»

«Nein, eigentlich nicht. Sie wollen dämliche Fragen stellen», kam es barsch zurück. «Wurde nicht alles gesagt heute Morgen?»

«Sie haben Bruno entdeckt und ich habe Sie dazu noch nicht befragt!»

«Nur Scherereien. Ich will zur Liesl. Gehen Sie mit?»

«Nein, dieses Mal nicht. Wir würden Sie gerne hier und jetzt befragen!»

«Fragen Sie!»

«Zwischen Tür und Angel?»

«Ich mag Menschen in meinem Haus nicht!» Meyer wurde aggressiver.

«Mensch Meyer, nun machen Sie mal halblang!»

Julia wunderte sich. Wollte Tief eben nicht ins Haus?

«Gut, lassen wir die unbedingte Staatsmacht in die Küche. Dann kann ich mir einen Kaffee machen!»

Meyer bot den Beamten erst gar nicht ein Heißgetränk an und schlurfte hinein in seinen Hausflur, um danach links abzubiegen. Tief folgte ihn. Julia aber bog heimlich rechts ab, hinein ins Wohnzimmer. Sie schluckte schwer.

«Hey, wo sind Sie?» Meyers Worte waren laut und im Befehlston! «Herr Oberkommissar, wo ist Ihre Begleitung? Sie hat in meiner Wohnung nichts zu schnüffeln! Ich melde es sonst Ihrem Vorgesetzten!»

«Keine Panik, Herr Meyer, ich hole sie!»

«Einen Dreck werden Sie! Bleiben Sie hier, ich …»

Doch Julia kam ihm schon entgegen und blaffte ihn frontal an: «Sie sind ein Nazi!»

«Was?» Tief trat zwischen die Beiden in den Flur.

«Ach, lassen Sie mich doch im Frieden! Oder wollen Sie jetzt ein neues 1939 aufmachen?» Meyer stapfte an Julia vorbei und schloss die Tür zum Wohnzimmer. «Gehen Sie! Sofort!»

«Zeigen Sie mal!» Tiefs feste Schritte gruben sich schier in die knarrenden Dielen des Flurs.

«Das geht Sie nichts an!»

«Wenn es den Ermittlungen dient, dann geht es mich was an!» Er schob Meyer leicht zur Seite und drückte die Türklinke. «Und wenn es gegen das Grundgesetz geht ...» Die Tür schwang nach innen auf und offenbarte die Bühne eines Wohnzimmers, das Podium eines gut bestückten Theaters, die Schmiere einer braunen Dekoration, die durch die Fenstersicht von draußen verweigert wurde und von dort aus wie jedes andere Nachkriegswohnzimmer der Deutschen ausgesehen hat. Doch vom Blickfeld der vorhanggeöffneten Wohnzimmertür aus wirkte es wie ein erstes Wohnreich vor dem Zweiten Weltkrieg.

Tief staunte. Sein Mund stand offen, als er ein paar Schritte hinein tat und sein Blick über die schrankfreien Wandstellen schweifte.

Schwarzweiß Porträts von Hitler aus unzähligen Perspektiven, eines sogar in Farbe und angeblich signiert, Bilder stolzer, kampfbereiter Soldaten, deutschrein wie erwartet, strahlende Hitlerjungen, strammstehend und erwartungsvoll. Bilder, weiß gerahmt, von in Zügen deportierten Juden, die hilflos und entkräftet aus den Zügen starrten und umsonst auf Befreiung warten. Dazu nationalsozialistische Orden in unzähligen Facetten, üppige Landkarten des ausgedehnten Dritten Reiches und eine Uniform, dekoriert mit Orden und roter Hakenkreuzbinde. Den Rang konnte Tief nicht identifizieren. Couch und Teppiche waren in braun gehalten.

«Sie haben gedient?»

«Was geht Sie das an? Sie haben doch nur Ihre Vorurteile! Wenn Deutsche wie ich nicht für die eine Sache gekämpft hätten, wären Sie und Ihre … Assistentin gar nicht gezeugt worden! Was wollen Sie jetzt tun? Mich einlochen?»

«Ihre Hobbys interessieren mich nicht. Und im Gegensatz zum Dritten Reich leben wir in einer Demokratie, die jede Sichtweise erst einmal akzeptiert. Wissen die Menschen im Dorf von Ihren Ansichten?»

«Ansichten? Was heißt Ansichten? Das … das da ist keine Ansicht! Das ist die Wahrheit! Sie wissen zumindest, dass ich kein Freund der Demokratie bin. Ich war dagegen, dass so einer wie Helmut Kohl an die Macht kommt! Den werden wir nie wieder los! Das habe ich dem Sanftfeldt auch gesagt, aber wir sind ja durchtränkt in diesem Staat, in diesem Landkreis, in dieser Stadt, in diesem Dorf von der CSU, christlich sozialer Quatsch, genauso wie die SPD und FDP und nun noch diese Ökoschwämme, die eine wunderschöne Wiesenfarbe in den Dreck ziehen ...»

«… dass sie schon fast braun wird?»

«Für die Deutschen funktioniert keine Demokratie! Deutsche müssen stramm geführt werden! Aber nein, Sanftfeldt musste Kohl an die Macht hieven.»

«Der Bundestagsabgeordnete, der weiter vorne wohnt, hat Kohl an die Macht gehievt? So ganz alleine?» Tief suchte erst Reaktionen in Winters Gesicht, die nur mit den Achseln zuckte, danach in Meyers.

Dessen Augen weiteten sich plötzlich, als hätte er Angst.

«Nein! Nein! Natürlich nicht. Wie soll das gehen?»

Er schob ein gequältes Lächeln hinterher.

«Stimmt, er ist nicht Hitler, der einfach die Macht an sich reißt.»

«Hören Sie doch auf! Sie haben überhaupt keine Ahnung! Verschwinden Sie nun! Ich verklage Sie vor Gericht!»

«Gericht? Womöglich bringen Sie uns vor den Volksgerichtshof? Jener Gerichtshof, dessen Urteile dessen Urteil von 1934 bis 1945 vom Deutschen Bundestag für nichtig erklärt worden sind?»

«Ein weiterer Beweis für dieses Regime, unter dem wir leiden. Es setzt nicht nur gegen damals gültiges Recht hinweg, sondern auch über die Hälfte Deutschlands!»

«Die DDR?»

«Die, das jetzige Polen, das Land, das in ein paar hundert Metern hier folgt, Österreich ...», erzürnte sich Adolf Meyer mit geballter Faust.

«Was war Ihr früherer Job?», fragte Winter.

«Das geht Sie nichts an! Kaffee ist aus! Verschwinden Sie!»

Er hatte leer getrunken.

«Als Sie zu Brunos Haus kamen … sind Ihnen andere Spuren aufgefallen? Oder gar ein Auto?»

«Nein. Bruno hatte Schnee geschippt. Sein Briefkasten war geleert, die Samstagszeitung lässt er sich trotz Geldmangel nicht nehmen. Die kommt immer auf Mittag. Reifenspuren … keine Ahnung, aber es müssen welche da sein … vom Postauto!»

«Sie bekommen die Zeitung per Post?»

«Hier gibt es keine freiwilligen Zeitungsausträger. Bruno hätte es machen können, aber … nein … zu viele sozialen Kontakte und zu viel Rücken!»

«War er auch ein Alt-Nazi?»

«Bruno war in Frankreich. Er kennt den Krieg nicht! Er hat wunderbare weichgespülte Jahre erlebt!» Er kniff seine Augen zusammen: «Ich aber war in Russland, ich weiß, was es bedeutet für sein Vaterland zu kämpfen! Bruno hat Urlaub gemacht! In Biarritz! In Bordeaux! In Paris! Während er mollige Weiber gevögelt hat, lag ich bei minus dreißig Grad im Schnee irgendwo zwischen Warschau und Moskau und war jahrelang in Gefangenschaft!»

«Wieso heißen Sie den Krieg dann gut? Müssten Sie nicht zornig darauf sein? Die Leiden? Das knappe Überleben? Wieso immer noch diese Treue zum Führer?»

Adolf Meyer schnaubte verächtlich. Hätten wir gewonnen, gäbe es solche dummen Menschen nicht mehr.

«Sehen Sie sich unser Land doch an! Wir hier haben die Chance … ich rede zu viel, es interessiert Sie doch eh nicht! Sie Sie verstehen das sowieso nicht. Gehen Sie bitte! Gehen Sie! Es war ein Fehler, Sie anzurufen! Wäre er nur vergammelt!»

«Bruno wurden die Ohren abgeschnitten. Was kann das zu bedeuten haben?», fragte Tief ruhig.

«Vielleicht hat er irgendetwas gehört, was er nicht hören sollte! So wie Ihr etwas gesehen haben, was Euch nichts angeht!» Meyer lachte laut auf. «Aber was soll das schon sein? Es war Bruno!»

«Wie haben Sie ihn gefunden?»

«Aber danach gehen Sie!» Er wartete ein Nicken ab. Dann: «Samstagnacht. Ich war in der Kneipe. Ich weiß nicht mehr, wie viel Uhr es war, als ich nach Hause wollte und wie es Teufel will, habe ich noch einmal zu Brunos Hof geschaut. Die Küche war dunkel. Also bin ich in das andere Haus hinüber und dort in den ersten Stock, wo, wie Sie wissen, sein Wohn- und Schlafzimmer ist. Sein Strom war wieder einmal abgestellt, nichts Ungewöhnliches, aber unheimlich. Ich hatte ihn schon angeboten, in der stromlosen Zeit bei mir zu wohnen, aber das wollte er nicht. Es brannten nur ein paar Kerzen. Unten, oben am Ende der Treppe, im Flur, im Wohnzimmer. Ich rief, ich suchte ihn und fand ihn schließlich auf seinem Scheißhaus. Ich dachte zuerst, er hat wieder seine deprimierte Phase, sein Schatten an der Wand, sein Körper auf dem Klo wirkten unheimlich. Er reagierte nicht, ich redete mit ihm, aber er reagierte nicht. Ich tappte in irgendwas Nasses. Es war Blut, wie sich später herausstellte. Ich holte eine Kerze aus dem Flur, um mehr zu sehen und leuchtete in die Toilette hinein. Hätte ich nicht in Russland grausameres erlebt, ich hätte mir vor Angst in die Hosen geschissen!»

Während Tief angestrengt zuhörte und sich sogar Notizen machte, schlich Julia durch das Wohnzimmer. Adolf beobachtete sie scharf. Ob die Leute im Dorf wussten, was Meyer an dieser Seite der Wand hatte, die nicht von außen einsehbar war? Sie drehte sich weiter zur Schrankwand. Geschirr, Porzellanfiguren von Rosenthal und Hutschenreuther, wie sie wohl jeder gute Haushalt hier in der Gegend hatte. Im obersten Fach stand eine weiße Büste von Johann Wolfgang von Goethe. Sie wirkte gruselig, weil die Augen fehlten, dennoch fühlte man sich, als ob er das gesamte Zimmer überwachte. Daneben stand ein Steinkauz, der aber glänzend und etwas farbig war. Es ähnelte dem auf dem Bild bei Heiner Metz. Geschmacklos war die SS-Mütze, die er auf hatte. Zum Glück war Goethe davon verschont geblieben.

«Im Schummerlicht sah es so aus, als ob er beim Scheißen eingeschlafen wäre. Doch dann entdeckte ich das Blut an seinen Schläfen, auf seinen mottenzerfressenen Klamotten … überall. Das Blut war schon geronnen, also ging davon aus, dass der Mörder schon verschwunden war. Und dann holte ich die Polizei mittels eines Anrufs über dieses Telefon da. Die Polizei, die erst nach Stunden mitten in der Nacht kam und die mir jetzt gehörig auf den Sack geht. Das hat man davon, wenn man seiner Bürgerpflicht nachgeht. Die Gestapo hätte den Mörder schon und Sie?» Seine Augen waren eisig. «Sie respektieren nicht meine Worte und nicht meine Wohnung!»

«Ich bin froh, diese Zeit nicht erlebt haben zu müssen. Die Auswirkungen sehen Sie ja jeden Tag. Der Eiserne Vorhang ist in Sichtweite. Ein Dank dem großen Führer!»

«Ihren Sarkasmus können Sie für sich behalten. Merken Sie denn nicht, wie wir von unserer Regierung und den sogenannten Siegermächten belogen und betrogen werden?»

«Nein. Das merke ich nicht. Winter, wir gehen. Danke, Herr Adolf Meyer!»

«Den Adolf hätten Sie sich sparen können. Das endet nur im Kleinkrieg!»

«Klein-Adolf hätte sich den kompletten Krieg sparen können!»

Sie fuhren Richtung Ferienwohnung. Sie passierten den verlassenen Gasthof Beck und den erleuchtenden Gasthof Scherzer. Heiner Metz hatte sein Domizil von außen hell illuminiert, während Brunos Hof nur zu erahnen war.

«Haben Sie gesehen, Chef? Er hatte eine Eule auf seinem Wohnzimmerschrank stehen. Neben Goethe.»

«Interessiert mich nicht. Viel hatte er nicht zu erzählen, dieser Veteran. Wenn er so toll ist, wundere ich mich, dass wir den Krieg überhaupt verloren haben.»

Sie hielten vor Markes Haus an. Wenig später hatten sie ihre Reisetaschen nach oben getragen, Julia musste ihre selbst tragen, und sie sich im Zimmer bequem gemacht. Winter auf dem Sofa, Tief auf dem Doppelbett, das unter Folter quietschte. Der Fernseher lief, doch er war nur Stimmungsbegleiter.

«Weit sind wir noch nicht gekommen, Chef!»

«Der Mörder muss von hier stammen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es irgendein dahergelaufener Einbrecher war. Allein sein Haus schreckt doch ab! Was soll man da klauen? Und wenn das nicht, dann der erste Schritt in seine Bude! Und die Uhrzeit, ein Samstag … nein. Dazu war sein Haus dunkel, nur Kerzen, er war im ersten Stock. Die dreckigen Fenster. Sein Haus muss von außen unbeleuchtet gewirkt haben, selbst wenn Kerzen brannten. Er hätte auch in seinem anderen Haus sein können, in der Küche! Adolf hatte das erwähnt. Der Mörder wusste, wo er war, er kannte das Haus, den Grundriss, die Anordnung, Brunos Eigenheiten und vielleicht, dass der Strom öfters abgestellt war. Unser Adolf … keine Ahnung, was er für ein Motiv haben könnte, aber er ist ebenso auf der Liste wie Heiner Metz.»

«Heiner Metz?»

«Er wollte den Hof, seinen Jugendhof, und er hat ihn nicht bekommen! Solche reichen Schnösel sind dann schnell beleidigt!»

«Das würde bedeuten, er würde den Hof nun kaufen, wenn Bruno tot ist?»

«Genau!»

«Aber wem gehört der Hof jetzt?»

«Interessiert mich nicht.»

«Wenn es einen Verwandten gibt, der auf den Hof geschielt hat?»

«Dann sollte er seine Augen richten lassen. Was sollte er damit wollen? Das ist eine Sandburg mit ein paar Bretterbuden dran! Das zu verkaufen wäre kein Kinderspiel! Außer der Hof sitzt auf Öl.»

«Vielleicht hat der geizige Bruno einen Schatz versteckt!»

«Dann hätte er seine Krankheiten behandeln lassen. Ah, die Tagesschau!»

«Alternativ gäbe es doch auch die «Aktuelle Kamera» auf Kanal vier!»

«Die kommt schon um halb acht! Der westlichen Welt immer eine dreiviertel Stunde voraus! Ah, die gute Dagmar Berghoff verkündet heute die schlechten Nachrichten der Welt, die wir Bundesbürger dank der Vorauswahl von ARD und ZDF erfahren dürfen!»

«Meinen Sie, die verheimlichen uns wirklich was wie Adolf sagte?»

«Was die Aktuelle Kamera des DDR-Fernsehens kann, kann das BRD-Fernsehen sicher auch! Genscher bei Gromyko in Moskau. Dafür ist Kohle da!»

«Wir sind Beamte. Uns geht es doch nicht schlecht?!»

«Denken Sie ! Kommen Sie erst einmal in mein Alter, Mädchen!»

«Hier, die Arbeitslosenquote! Sie ist gesunken!»

«Auf 10,5%. Welch eine scheiß Quote! Und dafür sülzen die nun minutenlang rum! Wie bei Genscher in der Sowjetunion! Da wackelst du mit den Ohren, Hans-Dietrich!»

«Ich fahre morgen auf die Stadt und nach Hof. Mal sehen, ob ich was herausfinden kann über unseren Toten!», lenkte Julia das Thema ab.

«Sehen Sie? Die palavern immer noch. Jemals DDR-Fernsehen geguckt? Der «Schwarze Kanal» muss absoluten Kultstatus haben! Eduard von ...»

«Machen Sie was Sie wollen, Chef. Ich schlafe jetzt. Der Tag war lang genug!»

«Tun Sie das, Winter, tun Sie das!»

Neuhausen - Eine Dorfverschwörung

Подняться наверх