Читать книгу Gewalt durch Gruppen - Detlef Averdiek-Gröner - Страница 18
1.2.2.3.1Expertenbefragung
ОглавлениеZunächst hat die AG Silvester mit folgenden Institutionen Kontakt aufgenommen, die aus Sicht der Arbeitsgruppe eine hohe Expertise entweder in dem infrage kommenden Kulturkreis oder in der grundsätzlichen Frage zur Entstehung von Gewalt im öffentlichen Raum haben:
•Institut für Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld (IKG)
•Lehrstuhl für Kriminologie der Ruhr-Universität Bochum
•Institut für Integrations- und Migrationsforschung der HU Berlin
•Institut für Islamische Theologie der Universität Osnabrück
•Verein „180 Grad Wende“
Die Experten wurden in strukturierten Interviews zumeist telefonisch befragt. Fragen und Zusammenfassungen der Antworten werden im Folgenden dargestellt:
•Ist Köln ein Ort mit besonderer Anziehungskraft für die genannten Gruppen?
Köln ist als multikulturelle Partystadt mit einer „open society“ weltweit bekannt. Köln wird als bedeutende Metropole in Westeuropa wahrgenommen und ist verkehrsgünstig gelegen. Die Zielgruppe verfügt über sehr geringe Geldmittel und hat nur geringen Zugang zu Kraftfahrzeugen. Daher erfolgt die Anreise in sehr vielen Fällen mit der Deutschen Bahn.
Bei den anreisenden Gruppen handelt es sich insbesondere um junge Männer, die Spaß und eine Partyatmosphäre suchen und Frauen kennenlernen wollen. Köln ist daher nicht nur zu Silvester, sondern auch im übrigen Jahr durchaus Anlaufpunkt für die häufig im ländlichen Raum in Flüchtlingsunterkünften untergebrachten jungen Männer. Sie wollen etwas erleben und sicherlich auch andere Menschen aus ihrer Peer Group treffen.
•Welche kulturellen Bedeutungen haben die gemeinschaftlichen Silvesterfeiern?
Silvester hat im arabischen oder nordafrikanischen Raum keine besondere Bedeutung. Allerdings ist es einer der wenigen Anlässe, welcher sowohl in der westlichen als auch in der östlichen Welt gefeiert wird. Während Karneval für die Peer Group unattraktiv ist, bietet Silvester den Vorteil, dass auch ohne finanzielle Mittel (Eintrittsgelder, Mindestverzehr in Clubs etc.) gefeiert werden kann. Hier wollen die Gruppen am „social life“ teilhaben.
•Finden im Vorfeld Absprachen statt oder wird sogar zur Teilnahme aufgerufen (z. B. über soziale Medien) oder sind es eher zufällige spontane Entscheidungen zu Anreise?
Hier gab es durchaus unterschiedliche Auffassungen zur Nutzung von sozialen Medien in Bezug auf die Vernetzung. Während einerseits von einer starken Vernetzung und Nutzung von Facebook ausgegangen wurde, sprachen sich andere eher für eine persönliche Vernetzung in den Unterkünften und durch persönliche Kontakte (auch Telefon und WhatsApp) aus.
Einig waren sich die Experten darüber, dass es keine zentrale Organisation oder Steuerung der Teilnehmer, sondern viele einzelne Verabredungen gab, welche spontan in kleinen Gruppen getroffen wurden.
•Warum zeigen sich die Teilnehmer zum Teil so aggressiv? Welche Rolle spielen Alkohol und Drogen?
Die Einsatzkräfte schilderten vor Ort eine deutlich aggressive Stimmung, die von den Gruppen ausgegangen sei. Dieser Eindruck mag sich zum Teil aus der expressiven nonverbalen Ausdrucksweise der Gruppen erklären. Die tatsächlich vorhandene Aggressivität der Teilnehmer lässt sich nach den Ausführungen der Experten auf zwei Faktoren zurückführen:
Zum einen ist dies der Konsum von Alkohol und (vermutlich) weiteren Drogen. Alkohol ist in vielen islamischen Ländern nur beschränkt verfügbar. Es ist unüblich, im öffentlichen Raum Alkohol zu trinken. Im Deutschland gibt es eine hohe und preisgünstige Verfügbarkeit, sodass in der Gruppe Alkohol leicht konsumiert werden kann. Es fehlt aber der sozial gelernte Umgang mit Alkohol, sodass hohe Mengen in kurzer Zeit konsumiert werden, an die die jungen Männer nicht gewöhnt sind. Hierdurch kommt es zu den typischen alkoholbedingten Ausfallerscheinungen und zur gruppendynamischen Verstärkung von negativem Verhalten, wie es auch anlässlich von Fußball- oder Karnevalseinsätzen bekannt ist.
Zum anderen sind es situative und gruppenpsychologische Aspekte, die auch ohne den verstärkenden Alkohol zu einer aggressiven Stimmung führen konnten. Die Gruppen wurden nach Bewertung der Experten bereits auf der Anreise durch die Bundespolizei einem hohen Kontrolldruck unterworfen. Dann wurden sie nach der Ankunft am Hauptbahnhof auf dem Bahnhofsvorplatz einer Kontrolle unterzogen. Hier kam es bei den Gruppen zu der Wahrnehmung, dass die meisten am Bahnhof ankommenden Besucher über die Domtreppe in Richtung Innenstadt gehen durften. Die Gruppen junger nahöstlich bzw. nordafrikanisch aussehender Männer wurden jedoch in einem abgesperrten Bereich des Bahnhofsvorplatzes festgehalten. Hierbei kam eine hohe Anzahl junger Männer in einem eng umgrenzten Raum zusammen. Die gewünschte freie Entfaltung der Betroffenen und die Gelegenheit, den Abend zum Feiern zu nutzen, wurden zunächst unterbunden. Insbesondere durch die Besonderheit der Örtlichkeit (der Bahnhofsvorplatz gleicht einer Arena, bei der die Domtreppe die Zuschauerränge darstellt) konnte sich für die Betroffenen der Eindruck einstellen, von den übrigen sich frei bewegenden Besuchern auf den „Zuschauerrängen“ der Domtreppe als „Verlierer“ wahrgenommen zu werden. Diese Wahrnehmung fördert Aggressivität. Hinzu kommt, dass für sie die Situation und der weitere Ablauf unklar waren, was die Problematik zusätzlich erhöhte.
Die Situation auf dem Bahnhofsvorplatz und im Bahnhof selbst führte zu „intergroup dynamics“. Dieser Begriff bezeichnet den Umstand, dass in Gruppen Haltungen herrschen können, die auf persönlicher Ebene von den einzelnen Mitgliedern der Gruppe nicht geteilt werden, die aber zu einer Anpassung führen und verhaltensleitend wirken. Sie können zu Handlungen führen, die von Mitgliedern der Gruppe in anderen Situationen nicht ausgehen würden oder von ihnen sogar abgelehnt würden. So ist es möglich, dass Menschen Taten begehen, die sie nicht vorher geplant haben und die sie unter anderen Bedingungen sogar moralisch ablehnen würden.
•Welchen Grund haben die Teilnehmer, geht es eher um das „Event“ oder will man Staat und Gesellschaft vorführen?
Eindeutig stehe das Event im Vordergrund. Der Alltag in Deutschland ist für diese Personen oft von Langeweile bestimmt. Sie kommen, um sich mit Freunden und Verwandten zu treffen. Dass politische Motive bestehen, etwa den Staat nach den Silvesterfeiern des Vorjahres vorführen zu wollen, sei eine völlig abwegige Annahme. Die meisten Besucher dürften von den Ereignissen des Vorjahres wenig gehört haben, da sie sich vermutlich vorrangig aus arabischsprachigen Medien informieren. Ein geringer Teil der Besucher möchte durchaus gezielt das Event zur Begehung von Straftaten nutzen wollen, insbesondere im Bereich der Eigentumsdelikte, aber der größte Teil komme zum Feiern.
•Entsteht das gemeinschaftliche Begehen von Straftaten, insbesondere die in diesem Zusammenhang festgestellten Eigentumsdelikte und sexuellen Übergriffe, situativ oder geplant?
Nur eine sehr kleine Gruppe würde gezielt, z. T. auch als Bande verabredet, die Feierlichkeiten zum Begehen von Straftaten nutzen wollen. Kriminalistische Erfahrungen insbesondere aus der Silvesternacht des Vorjahres legen den Verdacht nahe, dass in diesen Fällen junge Männer insbesondere aus Nordafrika gezielt die Anonymität der Masse suchen, um Diebstahls- oder Raubstraftaten zu begehen.
Delikte in größerer Zahl seien aber nur möglich, wenn die Nichtsichtbarkeit oder das Einschreitverhalten der Polizei diese zulassen. Es dürfe kein rechtsfreier Raum bestehen, denn durch massenpsychologische Effekte sei es immer möglich, dass das ahndungsfreie Begehen von Straftaten und insbesondere sexuelle Übergriffe einzelner in einer aus psychologischer Sicht überhitzten Masse zu einem Massenphänomen werden. Diese Dynamik könne sich innerhalb von Sekunden situativ entfalten.
•Wir hatten erwartet, dass Köln aufgrund der auch medial im Vorfeld bekannten polizeilichen Einsatzmaßnahmen gemieden worden wäre. Warum war das nicht so?
Es sei nicht davon auszugehen, dass die angetroffene Klientel deutsche Zeitungen/Medien nutzt und somit Kenntnis von den polizeilichen Vorbereitungen hatte.
Fraglich erscheine auch, wie ernst der Personenkreis die Vorgehensweise der deutschen Polizei nähme. Im Nahen Osten haben die Menschen (berechtigte) Angst vor der Polizei. Die rechtsstaatliche Vorgehensweise der deutschen Polizei könne dazu führen, dass der Personenkreis, anders als in den Heimatländern, das polizeiliche Vorgehen als schwach bewerte und es deshalb als möglich empfinde, sanktionsfrei Grenzen zu überschreiten. Zudem haben die meisten der Anreisenden im Vorfeld keine Straftaten begangen, sodass sie eigentlich nichts zu befürchten haben. Aber dies läuft möglicherweise bisherigen Erfahrungen entgegen.
•Ist auch zukünftig mit weiteren gemeinschaftlichen Anreisen zu rechnen? Welche Ereignisse ständen dann außer Silvester noch im Fokus (z. B. Karneval, Kölner Lichter)?
Die Attraktivität Kölns bleibe für die jungen Männer erhalten. Denn die Kulisse vor dem Dom und die Nähe zur Innenstadt sei weiterhin ein großer Magnet, zumal die Stadt es vielen Flüchtlingen ermögliche, sich mit Bekannten und Freunden zu treffen. Allerdings bleibe abzuwarten, welche Wirkung die stark repressiven polizeilichen – zum Teil aus Sicht der Besucher ausgrenzenden – Maßnahmen im Bereich des Bahnhofs- und Domumfelds bei der letzten Silvesternacht auf die Gruppe haben wird.
Möglicherweise würden diese Personen nicht mehr am Hauptbahnhof in einer hohen Anzahl aussteigen, um der von ihnen erwarteten „Kontrollfalle“ im Kölner Hauptbahnhof zu entgehen.
Zukünftige gemeinschaftliche Anreisen könnten sich jedoch auch auf andere gut zu erreichende Großstädte ausweiten.
Die Experten gingen überwiegend davon aus, dass dieses Phänomen nur an Silvester auftrete, da die anderen Ereignisse für die Gruppen eher unattraktiv seien. Karneval sei zu Deutsch und wirke auf den Personenkreis eher befremdlich.
Nach Prof. Dr. Yurdakul, Migrationsforscherin an der Humboldt-Universität zu Berlin, sei bei allen großen Ereignissen/Events (z. B. Fußball-WM) mit gemeinschaftlichen Anreisen zu rechnen. Es könne grundsätzlich immer problematisch werden, wenn größere Männergruppen gemeinschaftlich im öffentlichen Raum agieren.
•Was kann die Polizei dazu beitragen, um sowohl die Feiern aller Besucher zu ermöglichen als auch mögliche Übergriffe zu verhindern?
Die befragten Experten waren sich zunächst einig, dass die im letzten Silvestereinsatz gewählte niedrige Einschreitschwelle und das konsequente Vorgehen der Polizei sinnvoll waren, um von vornherein keine problematischen Situationen entstehen zu lassen.