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Sie und Du Tückische Vertraulichkeit
ОглавлениеVon Jens Jessen
ZEIT CAMPUS 1/2008
Solange sich alle am Arbeitsplatz siezen, ist die Welt in Ordnung. Das Sie ist elastisch genug, um alle Tonarten von distanziertem Respekt über neutrale Unverbindlichkeit bis hin zu herzlicher Verbundenheit auszudrücken; in Frankreich oder anderen romanischen Ländern werden mitunter sogar die Eltern gesiezt, in Portugal siezten sich bis vor kurzem selbst Eheleute. Es gibt auch Freunde, die sich ein Leben lang siezen, um vielleicht erst in der Stunde des Todes zum Du überzugehen - nämlich dann, wenn es keinen Schaden mehr anrichten kann.
Das Problematische am Du ist nämlich, dass es die Hoffnung auf eine Verbundenheit und Treue enthält, die bitter enttäuscht werden kann, und zwar nirgends schneller als am Arbeitsplatz. Der Kollege, dem man das Du anbot, weil er zum Freund wurde, kann sich auch zum Kollegen zurückverwandeln, vielleicht sogar zu einem besonders bösartigen. Aber selbst wenn er das nicht tut, und vielleicht gerade dann, kann das Du Schaden anrichten, weil es alle anderen ausgrenzt, die man noch siezt. Das Spiel mit Einschluss und Ausschluss, das die Anredeformen bieten, bleibt in der Firma besser ungespielt, denn im Gegensatz zu anderen Vertraulichkeiten, die sich auf einer gleitenden Skala entwickeln, funktioniert der Übergang vom Sie zum Du nur ruckartig - und in umgekehrter Richtung gar nicht, es sei denn um den Preis demonstrativer Kränkung.
Anders ist das an Arbeitsplätzen, wo sich ohnehin alle duzen; hier als einsamer Hagestolz auf dem Sie zu beharren wäre kindisch und sinnlos. Das Du ist hier zum Sie geworden und kann genauso förmlich oder abweisend klingen. Beispiele dafür bietet das notorische Du im österreichischen Adel oder in der Sozialdemokratie; man duzt sich, weil eh alles in der Familie bleibt, aber zu den familiären Verbundenheiten können auch Todfeindschaften oder, wie im Falle der SPD, schlimmste Formen von Verrat gehören.