Читать книгу Transplantierter Tod - Dieter Aurass - Страница 11
Kapitel 5
ОглавлениеSein Zimmer im Hotel Atlantic Kempinski in Hamburg hatte er für vier Nächte gebucht. Aufgrund seiner Akkreditierung als Journalist hatte er einen Rabatt für die Suite erhalten und nur 700 Euro zahlen müssen. Damit war lediglich die Hälfte des Betrages verbraucht, den er durch die irgendwann mal abgeschlossene Krankenhaustagegeldversicherung erhalten hatte. Noch war ihm absolut unklar, ob er drei Nächte zu viel oder zehn zu wenig gebucht hatte.
Die Suite war riesig, bestand aus einem Schlaf- und einem Wohnraum, die durch eine zweiflügelige Tür voneinander getrennt waren. Sie war modern und funktional eingerichtet, bot einen herrlichen Blick auf die Alster und lediglich der Kronleuchter in der Mitte der Wohnraumdecke erinnerte an die Anfänge des Hotels zu Beginn des 20. Jahrhunderts, als es das Hotel für Passagiere der Amerika Linie darstellte. Was Eduard allerdings einen Moment lang in Versuchung führte, den Concierge anzurufen, und ein anderes Zimmer zu verlangen, war die Farbe der Polster der Sitzmöbel in dem fast 25 Quadratmeter großen Wohn- und Aufenthaltsraum. Es handelte sich um ein Lila, das ihm sofort den Spruch ins Gedächtnis rief: Lila ist die Lieblingsfarbe der sexuell Unbefriedigten.
Normalerweise hätte ihn das eher zum Lachen gebracht, aber in Ermangelung einer Beziehung hatte er bereits zum Zeitpunkt seines Herzinfarktes seit fast zwei Monaten keinen Sex mehr gehabt. Das war immerhin schon fünfzehn Wochen her, was seine Zeit ohne Sex auf über fünf Monate summierte. Genau aus diesem Grund empfand er die aufdringliche Farbe als Verhöhnung seiner Situation. Schließlich fand er sich aber damit ab, schob es auf einen unglücklichen Zufall und kümmerte sich zunächst um seine Gesundheit. Die Zahl der Medikamente, die er regelmäßig nehmen musste, hatte ein Ausmaß, das er sich in gesunden Tagen niemals hätte vorstellen können. Medikamente zur Blutdrucksenkung, zur Unterdrückung des Immunsystems, das nichts lieber getan hätte als sein neues Herz zu bekämpfen, Aufbaupräparate und, und, und.
Die Ärzte hatten ihm höchste Sorgfalt bei der Einnahme ans Herz ... ha, ha, ans neue Herz ... gelegt. Sie hatten ihm alle Risiken dargelegt, wenn er sich nicht an ihre Anweisungen hielt, und das waren nicht wenige. Es gab Einnahmevorschriften für die Medikamente, Ernährungsregeln, welche Getränke und welche Speisen verboten, welche nicht empfehlenswert und welche richtig waren. Das absolute Rauchverbot traf ihn nicht, da er schon seit zehn Jahren nicht mehr geraucht hatte. Die Einschränkungen beim Sport bereiteten ihm viel mehr Kummer, würde es doch noch einige Zeit dauern, bis er sein Joggingtraining wieder aufnehmen konnte. Auf der anderen Seite musste er sich keine Gedanken darüber machen, nun in kürzester Zeit enorm zuzunehmen, denn der Ernährungsplan war auf fett- und kalorienarme, also fade schmeckende Lebensmittel ausgelegt.
Aber er hatte vor, sich an alle Vorschriften und Empfehlungen sklavisch zu halten, um seine zweite Chance auf ein erfülltes Leben nicht zu gefährden. Was war ein ganzes Leben gegen ein paar Monate ohne Sex?
Nachdem er das Zimmer bezogen und sein spärliches Gepäck ausgepackt hatte, baute er als Erstes sein mobiles Büro, also den Laptop, auf dem Schreibtisch im lila Wohnraum auf und verband sich mit dem WLAN des Hotels. Nun konnte er sowohl im Internet recherchieren als auch seine Mails abrufen oder welche versenden.
Als Erstes schrieb er eine Mail an Benjamin, in der er ihm mitteilte, dass er wohlbehalten in Hamburg angekommen sei und nun im Atlantic wohnte. Eduard schlug ein Treffen in der Bar des Hotels um 20:00 Uhr vor und schickte die Mail ab.
Gerade als er weitere Informationen über die Familie Ahlsbeek recherchieren wollte, klingelte das Tischtelefon seiner Suite.
Verwundert nahm er den Hörer ab. Gab es ein Problem oder aus welchem Grund rief ihn die Rezeption an?
»Ja bitte?«
»Ähem ... Herr von Gehlen ... hier ist eine ... ähem ... Dame, die Sie zu sprechen wünscht.«
Der Rezeptionist betonte die Dame so, dass Eduard keinen Zweifel hatte, was er damit zum Ausdruck bringen wollte. Sollte das ein übler Scherz von Ben sein, ihm eine Prostituierte ins Hotel zu schicken? Wer sonst wusste noch, dass er hier wohnte?
»Fragen Sie sie bitte, was sie von mir will.«
»Gerne ... einen Moment bitte.«
Vermutlich hielt er die Sprechmuschel seines Telefons zu, denn er konnte nicht hören, wie der Concierge die Dame ansprach. Nach wenigen Sekunden meldete er sich wieder.
»Sie sagt, es gehe um ihren Bruder ... ähem ... also den Bruder der Dame ... ich meine ...«
»Schon gut, ich hab’s kapiert. Schicken sie die Dame zu mir rauf, ich weiß, um wen es sich handelt.«
Selbstverständlich war ihm sofort klar gewesen, wer da an der Rezeption stand und ihn sprechen wollte.
Liams Schwester Gwendolyn!
Seltsamerweise war sein erster Gedanke, wie in aller Welt der Rezeptionist sie mit einer Dame des horizontalen Gewerbes verwechseln konnte. Unvorstellbar!
Eduard sprang auf und hetzte ins Badezimmer, um dort sein äußeres Erscheinungsbild zu kontrollieren. Das Gesicht, das ihm aus dem Spiegel entgegensah, befriedigte ihn nicht in dem Maße, wie er es sich gewünscht hätte. Seine hagere Gestalt war durch die Belastungen der Operation und der Rekonvaleszenzphase dürrer geworden, als es ihm lieb war. Die Bräune, die ihn aufgrund des regelmäßigen Joggings an der frischen Luft immer ausgezeichnet hatte, war einer eher bleichen oder wenigstens faden Gesichtsfarbe gewichen. Mit seinen 1,92, den blonden, etwas wirr vom Kopf abstehenden Haaren und den blauen Augen, sah er eher aus wie ein halbverhungerter Wikinger, als der Junge aus der niederbayrischen Provinz in der Nähe von Passau.
Einzig der von ihm sorgsam gepflegte Drei-Tage-Bart wirkte dem kränklichen Aussehen entgegen. Er bleckte die Zähne und stellte befriedigt fest, dass er keine Essensreste dazwischen hängen hatte und sein bestes Lächeln auch ansprechend rüberkam. Im nächsten Moment fragte er sich, was er da eigentlich machte. Will ich Informationen oder eine junge Frau beeindrucken? Allerdings musste er zugeben, dass jeder Gedanke an Gwendolyn Ahlsbeek seinen Puls erhöhte und vermutlich den Blutdruck in ungesunde Bereiche ansteigen ließ.
Lächerlich, rief er sich zur Ordnung. Was bildest du dir eigentlich ein? Machst du dir tatsächlich Hoffnung, diese Frau in irgendeiner Weise beeindrucken zu können?
Ein leises und zaghaft erscheinendes Klopfen an der Tür der Hotelsuite holte ihn aus seiner Traumwelt und ließ ihn zum Eingang eilen.
Hastiger als beabsichtigt riss er die Tür auf ... um sich unvermittelt einer jungen Frau gegenüberzusehen, die eine Hand erhoben hatte, um ein weiteres Mal an die Tür zu klopfen.
»Wer sind ...?«, setzte er verblüfft an, um im nächsten Moment innezuhalten. Trotz der blonden, halblangen Haare, dem roten Minilederkleid und dem Pelzjäckchen, verrieten ihm die grünen Augen auf den zweiten Blick, dass es sich tatsächlich um Gwendolyn Ahlsbeek handelte, die da vor seiner Hotelzimmertür stand. Sie wirkte ein wenig gehetzt und machte kein glückliches Gesicht.
»Wollen Sie mich nicht hineinlassen?«
»Ach so ... ja ... selbstverständlich. Kommen Sie bitte herein.«
Sie stürmte an ihm vorbei und er verschloss eilig die Tür. Als er ihr in den Wohnraum folgte, hatte sie bereits ihr rotes Handtäschchen auf die Sitzgarnitur geworfen und sich die blonde Perücke vom Kopf gerissen. Sie schüttelte ihre langen schwarzen Haare aus, während sie ausgiebig fluchte ... in einer Sprache, die er nicht verstand.
Eduard stand etwas hilflos noch im Eingangsbereich des Zimmers und schaute sie weiterhin mit offen stehendem Mund an. Er verstand die Sprache zwar nicht, aber sie klang trotzdem seltsam vertraut, und aus ihrem Blick und der Art, wie sie die Worte hervorstieß, war unschwer zu erkennen, dass sie fluchte.
Als gäbe es nichts Wichtigeres auf der Welt, ließ er sich dazu hinreißen, die erste Frage zu stellen, die ihm in den Sinn kam.
»Was ist das für eine Sprache, die Sie da sprechen? Sie klingt schön!«
Sie zog tief die Luft durch die Nase ein und stieß sie dann mit einem lauten »Puuuh« wieder durch den Mund aus. Dann sah sie ihn verwundert an.
»Ach so ... ja ... entschuldigen Sie, das war sehr unhöflich von mir. Aber immer wenn ich mich ärgere oder aufgeregt bin, verfalle ich schnell in Gymraek, die Sprache, die ich mit meiner Mutter und meinem Bruder spreche.«
Erst als sie es ausgesprochen hatte, bemerkte sie, was sie da gerade gesagt hatte. »... mit meinem Bruder gesprochen habe«, korrigierte sie traurig und etwas leiser.
Da er aus seinen Recherchen inzwischen wusste, dass ihre Mutter Waliserin war, konnte er eine Vermutung anstellen.
»Also ist dieses Gymraek eine Sprache, die in Wales gesprochen wird?«
»Ja, es ist neben Englisch die zweite Amtssprache. Eine keltische Sprache, die so ähnlich auch von den Bretonen gesprochen wird. Allerdings«, sie sah ihn mit fragendem Blick an, »wären Sie der erste Deutsche, dem der Klang dieser Sprache gefiele.« Sie schüttelte verwundert den Kopf und die schwarzen, glatten Haare wehten wie in einem leichten Wind von rechts nach links und wieder zurück.
Er hätte ihr sagen können, was er als Ursache vermutete, aber es erschien ihm noch nicht als der richtige Zeitpunkt.
»Darf ich fragen, warum Sie sich ... nun ja ... so seltsam verkleidet haben?«
»Ja, Sie dürfen. Ich hasse es, diese Verkleidung zu benutzen, wenn ich mich in der Öffentlichkeit bewege. Das ist auch der Grund, warum ich so geflucht habe. Bitte entschuldigen Sie diese Entgleisung.«
»Aber ich habe doch kein Wort verstanden.«
Sie lachte und entblößte dabei ihre fast makellosen Zähne, die von einer kleinen Lücke zwischen den oberen Schneidezähnen dominiert wurden. Es wirkte irgendwie süß.
»Was für ein Glück, sonst müsste ich mich in den Boden schämen.«
»Und warum müssen Sie sich nun verkleiden?«
Sie schnaubte ärgerlich, sah ihn dann aber sehr ernst an und sprach erst nach einem merklichen Zögern.
»Seit dem Mord an meinem Bruder belagert die Presse unser Anwesen und versucht uns auf Schritt und Tritt zu verfolgen. Wenn ich mich in der Öffentlichkeit bewege, muss ich mich verkleiden, damit ich sie überhaupt abschütteln kann.«
Eduard nickte verständnisvoll ... und auf einmal dämmerte ihm, was sie gerade gesagt hatte.
»Haben Sie gerade gesagt ›Mord‹?«
»Ja, Herr von Gehlen, ich sagte Mord, denn ich bin aus tiefstem Herzen davon überzeugt, dass mein Bruder genau das wurde: ermordet!«