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Erinnerungen

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Aus der Ferne dringen hin und wieder leise Geräusche an das Ohr von Achim Wenzel. Sie stammen aus der kleinen Gemeinde Akazienaue, deren Häuser und Grundstücke sich sanft an das Ufer des gleichnamigen Sees anschmiegen. Dabei erinnert er sich unbewusst an die Entstehungsgeschichte des Ortes und an die Zeit, als er hier ansässig wurde. Der Name für die idyllische Ansiedlung war auf eine recht ungewöhnliche Weise zustande gekommen. Oberförster Balthasar Knittelbecher wurde vom Markgrafen Heinrich für seine treuen Dienste mit reichlich Land und dem dazugehörigen Wald belohnt. Zudem schenkte er ihm auch einen Gutshof. Wie zu jener Zeit üblich hätte der Oberförster gerne dem neuen Besitz seinen Namen gegeben. Doch weder sein eigener noch der seiner Frau Mechthild schienen ihm dafür geeignet. Bei einer ersten Inaugenscheinnahme des ihm gehörenden Grund und Boden fiel dem pensionierten Waldhüter und Jägersmann eine nicht alltägliche Baumgruppe nahe am See auf. In einem botanischen Nachschlagwerk entdeckte er, dass es sich wahrscheinlich um Akazien handelt. Die unpaarig zusammengesetzten gefiederten Blätter sowie die stechenden Dornen waren für ihn identisch mit der Abbildung in seinem Lexikon. Bei der Namensgebung für die Ansiedlung haben diese Bäume dann tatsächlich Pate gestanden. Er entschied sich, das Gut und das dazugehörige Land Akazienaue zu nennen. Erst viel später sollte sich herausstellen, dass es sich um keine Akazien sondern um Robinien handelt. Die Verwechslung der Baumarten des Ortgründers Balthasar Knittelbecher wurde von Generation zu Generation in ebensolcher fälschlichen Weise weitergegeben. Die Robinien als Akazien zu bezeichnen ist bis heute in den Köpfen aller Einwohner tief verwurzelt.

So stellt der ortsansässige Imker regelmäßig im Frühjahr seinen Wagen mit dem Bienenvolk unter die blühenden Robinien. Den aus der Bienenzucht gewonnenen gelben Honig verkaufte er auf den Wochenmärkten als Akazienhonig - immer mit dem Hinweis, dass der Honig aus eigener Herstellung stammt. Von vielen wird er angesprochen, dass hier doch keine Akazien wachsen und diese viel mehr in den subtropischen Gebieten in Südamerika, Asien, Afrika und Australien beheimatet sind. Darauf hat er immer die passende Antwort parat: Dann sind es eben Scheinakazien und darin ist ja wohl auch das Wort Akazie enthalten. Von ihm und allen Einwohnern der Gemeinde wird die Baumgruppe mit dem inzwischen zwanzig bis fünfundzwanzig Meter hohen Bäumen mit unbeirrbarer Hartnäckigkeit nur Akazienhain genannt.

Im Verlauf der Jahrzehnte entwickelt sich das ehemalige Herrengut zu einer Ansiedlung mit etwa zweihundert Einwohnern. Das äußere Erscheinungsbild des Ortes prägen Einfamilienhäuser mit unterschiedlichen Bausstilen. Neben den Fachwerk- und Landhäusern errichteten die jeweiligen Bauherren in den letzten Jahren auch Landvillen und Designerhäuser. Selbst die skandinavische Bauweise kann man schon mehrfach antreffen. Zur Vielfalt der Häusertypen beeindrucken vor allem die teilweise kunstvoll angelegten Vorgärten. Man kann sich des Eindruckes nicht erwehren, dass sich jeder Hobbygärtner im Wettbewerb zu den Nachbarn der angrenzenden Grundstücke befindet. Die Blumen und Stauden in ihrer vollen Blütenpracht laden förmlich zu einem Spaziergang durch Akazienaue ein. So mancher Einwohner zeigt seinen Verwandten und Bekannten mit besonderem Stolz den Scharm und die Gediegenheit der kleinen Gemeinde und flaniert gerne mit den Besuchern durch den Ort. Dem Unternehmungsgeist eines vor mehreren Jahren zugezogenen Botanikers ist es zu verdanken, dass auf dem Dorfanger ein prächtiger Kräutergarten entstand. Dieser wird in vielfältiger Weise genutzt. So zum Beispiel ergänzen die Lehrer des Gymnasiums aus der Kreisstadt Ballenhainischen anschaulich ihren Biologieunterricht mit dem Besuch des Gartens. Die begrünte Pergola, der Springbrunnen in der Mitte der Anlage sowie die gastronomische Betreuung an den Wochenenden haben diesen Platz zu einem beliebten Treffpunkt für alle Altersgruppen werden lassen. Längst wurde die ehemals mit Schlaglöchern übersäte Dorfstraße mit einer schwarzen Bitumenschicht überzogen und die Bürgersteige schmücken rotbraune Gehwegplatten. Auch die Nebenstraßen und die vormals sandigen Wege zum Seeufer sind befestigt und ausgebaut. Die neue Straßenbeleuchtung mit den nostalgischen Laternen ergänzt das äußerst ansehnliche Erscheinungsbild des Ortes. Über viele Jahrzehnte war die Landwirtschaft das charakteristische Merkmal der Gemeinde. Doch auch hier hat sich ein Wandel vollzogen. Die Mehrzahl der Bewohner üben ihre Berufe in vielen Kilometer weit entfernten Unternehmen und Einrichtungen aus. Sie nehmen dafür teilweise erhebliche Fahrzeiten und längere Wegstrecken in Kauf. Akazienaue gehört zu den dreizehn kleinen Ortschaften, die von der Kreisstadt Ballenhainischen verwaltet werden. Aus der ehemals verschlafen wirkenden Ansiedlung entwickelte sich eine gepflegte und attraktive Gemeinde, die den Einheimischen ein angenehmes Lebensgefühl und den Gästen Erholung und Entspannung bietet. Völlig in Gedanken versunken wandert sein Blick hinüber zu dem Robinienhain. Ein fast unmerkliches Lächeln huscht über sein Gesicht. Unwillkürlich denkt er an die Zeit zurück, als er hier sesshaft wurde. Aufgrund seiner damaligen Unerfahrenheit war es zu einer ernsthaften Auseinandersetzung mit dem einheimischen Imker gekommen. Es handelte sich dabei um die Namensgebung des Honigs. Doch recht schnell hatte er begriffen, dass in diesem kleinen Ort das Wort Akazie wie ein kostbares Kleinod behandelt wird - gleichgültig, ob diese Bezeichnung zutreffend ist. Die Alteingesessenen fassten bald Vertrauen zu dem zugezogenen Neubürger und wählten ihn später sogar zum Bürgermeister. Dieses Ehrenamt übt er nunmehr schon zwölf Jahre aus und ist noch kein bisschen amtsmüde. Mit Feuereifer arbeitete er akribisch daran, dass sich vor allem junge Menschen in Akazienaue ansiedeln. Der Werbeslogan „Wohnen, wo andere Urlaub machen“, mit dem die Gemeinde weit über ihre Ortsgrenzen hinaus bekannt wurde, ist seinem Einfallsreichtum zu verdanken. Nur zu gut kann er sich noch an die Anfangsjahre in Akazienaue erinnern. Das stark renovierungsbedürftige Fachwerkhaus musste von Grund auf saniert werden. Die vormalige Gaststätte und Pension ergänzte er durch den Anbau eines Bettenhauses, einem Festsaal und einer Terrasse. Damit wurde aus der vormals kleinen Pension ein modernes Hotel mit einer dazugehörigen gehobenen Gastronomie. Den althergebrachten Name „Haus am Akaziensee“ behielt er traditionsbewusst bei. Die Freiterrasse bietet einen malerischen Blick auf den Akaziensee und das bewaldete Ufer auf der gegenüberliegenden Seeseite. Nur an wenigen Stellen wird der Waldgürtel unterbrochen. Zum einen durch das öffentliche Strandbad mit seinem goldgelb leuchtenden Sand und zum anderen durch zwei Anlegestege für die Sportangler. Unterhalb der Terrasse befindet sich die Landungsbrücke für Schiffe der Seerundfahrten. Auch diese ist das Ergebnis der eifrigen Bemühungen von Armin Wenzel. Selbstverständlich profitiert er nicht unerheblich von den zusätzlichen Besuchern seiner Gaststätte. Die meisten Lobeshymnen hört er, wenn die Herbstsonne auf die bunten Blätter der Buchen und Eichen am gegenüberliegenden Ufer fallen. Nicht wenige der Fremden bezeichnen diesen Panoramablick als etwas Einzigartiges in der zauberhaften Landschaft der Sandahlener Heide. Die zwölf Ferienwohnungen in seinem Hotel sind in der Saison vollständig ausgebucht. Die Einnahmen aus den Übernachtungen und dem Gaststättenbetrieb haben ihm zu einem gewissen Wohlstand verholfen. Die Urlaubsgäste schätzen die intime Atmosphäre und danken es ihm - nicht unbedingt mit reichlichen Trinkgeldern - aber dafür kommen viele seiner Feriengäste Jahr für Jahr wieder. Das ist wichtig für ihn in Akazienaue. Nach der Urlaubssaison sind die Einkünfte nicht ganz so üppig. Es fehlen die Einnahmen aus dem Übernachtungsgewerbe. Die Angebote der Ausgestaltung von Feierlichkeiten und die kostenlose Nutzung seiner Räume für weitere kleinere Zusammenkünfte sind weithin bekannt. Sie werden gerne und zahlreich genutzt. Damit sichert er die Umsätze seines Gastronomiebetriebes auch außerhalb der Saison. Höhepunkte bilden der große Feuerwehrball und das Promenadenfest. Diese Veranstaltungen haben inzwischen einen festen Platz im Veranstaltungskalender der gesamten Region eingenommen. Viele bezeichnen Achim Wenzel auch als die Schlüsselfigur, die Akazienaue aus dem Dornröschenschlaf geweckt hat. Sein ausgeprägter Realitätssinn bewahrt ihn an einer Überbewertung seines persönlichen Anteils an solch einer Wertschätzung. Er weiß genau, dass es ohne das gesamte Umfeld von Akazienaue diesen Aufschwung in den letzten Jahren nicht gegeben hätte. Dazu gehören der „Akaziensee“, ein Paradies für Wassersportler und Angler und die „Marina“, eine Ausleihstation für Yachten und Motorboote am Rande der Gemeinde. Weiterhin sind es die mustergültig ausgebauten Radwege und die einzigartige Landschaft der Sandahlener Heide, die viele Besucher wie ein Magnet anziehen. Sein Blick schweift über die Schlehenbüsche vor dem Waldweg. Deutlich erinnert er sich noch an einen Spaziergang Ende April. Da gehörte die Schlehenhecke zu den ersten blühenden Gewächsen in der ganzen Gegend. Die Hecke war, ohne ein einziges Blatt zu tragen, mit zarten, weißen Blüten förmlich übersät. Jetzt im September tragen die Büsche die kleinen, runden, blauschwarzen Früchte, die mit weißem Reif überzogen sind. Irgendwie erinnern sie ihn an die Urform einer Pflaume. Gegenwärtig sind sie ungenießbar. Einige Dorfbewohner sammeln sie nach dem ersten Frost und machen daraus einen leckeren Likör. Dieser Mühe unterzieht sich Armin Wenzel nicht. Den Schlehenlikör bezieht der Gastwirt aus der nahegelegenen Brennerei La Distillerie in Ballenhainischen.

Die Tote unter dem Schlehendorn

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