Читать книгу Die Tote unter dem Schlehendorn - Dieter Landgraf - Страница 7
Besuch des Freundes
ОглавлениеAm nächsten Morgen in der Klinik gehen Andreas nochmals die gestrigen Gedankenspiele durch den Kopf. Noch zögert er mit einem Anruf bei Frank Ringhof. Er ist sich nicht ganz sicher, ob Anke ihre Worte auch ernst gemeint hat - schließlich waren da auch zwei Flaschen Wein mit im Spiel. Nur nichts übereilen! Das ist eine Entscheidung, die das ganze Leben grundlegend verändern kann. Doch lange hält seine Unentschlossenheit nicht an. Kurzerhand ruft er Anke an und sagt: „Wärst du einverstanden, wenn wir am Wochenende zu Frank Ringhof fahren?“
Mit einem Schlag wird ihr klar, dass die gestrige Unterhaltung kein Scherz gewesen ist. Nun ist sie sicher, dass Andreas all die Dinge nicht nur so dahergeredet hat. Mit seinem Grundanliegen hat er es ernst gemeint und antwortet: „Ja … schon … was willst du denn bei ihm?“
„Einfach so zum Gedankenaustausch … über das Leben auf dem Lande … ohne den ganzen Schnickschnack der Großstadt.“
„Gut, ich bin einverstanden … vergiss bitte nicht eine Flasche Sekt zu besorgen … als Willkommensgruß von uns … ich glaube, er wird ganz schön staunen … schließlich ist es das erste Mal, dass wir ihn besuchen … aus irgendwelchen Gründen haben wir die Fahrt zu ihm immer wieder verschoben. “
„Ist nicht so schlimm, wie du denkst … ich habe ihn doch erst vor kurzem zum Klassentreffen gesehen und auch sonst öfter miteinander telefoniert.“
„Wenn ich mich richtig erinnere habe ich deinen Freund zum letzten Mal vor drei Jahren gesehen … er war Teilnehmer an einem medizinischen Kongress und hat bei uns übernachtet … seine Frau kenne ich überhaupt nicht.“
„Darüber brauchst du dir wirklich keine Gedanken zu machen … dafür kennt er dich ganz gut … ich habe ihn selbstverständlich viel von dir erzählt … du bist dabei immer gut weggekommen … und seine Frau stammt aus Peru … die Südamerikaner sind sehr kontaktfreudig … mit ihr wirst du dich ganz wunderbar verstehen.“
Anke beendet das Gespräch und stellt das Telefon zurück in die Aufladestation. Einen kurzen Augenblick verweilt sie noch und schaut nachdenklich zum Fenster hinaus. In ihren Gedanken sieht sie eine riesige Lawine Arbeit und Probleme auf sich zurollen. Schnell beruhigt sie sich wieder. Er hat ja gesagt: Nur mal erkundigen - nichts Verbindliches - warum soll ich mir schon jetzt den Kopf zerbrechen - schließlich benötigt er ja auch eine Arbeitsstelle - und als einen Landarzt kann sie sich ihren Mann wahrlich nicht vorstellen - dazu ist er ein zu sehr begeisterter Herzspezialist.
Das Navigationsgerät führt sie sicher in die Richtung nach Akazienaue.
„Bisschen abgelegen“, murmelt Andreas fast lautlos vor sich hin - aber Anke hat es schon verstanden.
„Nur ein bisschen ist noch untertrieben“, bemerkt sie, „ich habe auf den Tacho geschaut … wir sind zwanzig Kilometer gefahren und haben kein Haus, geschweige denn einen Menschen zu Gesicht bekommen.“
„Mag ja stimmen … aber wenn du auf die Uhr schaust, dann sind es nicht mal fünfzehn Minuten gewesen.“
„Ob hier überhaupt ein Bus fährt?“, fragt sie sarkastisch.
„Halt doch auf mit deiner Schwarzmalerei … die sind hier weiter als wir in der Großstadt denken … Frank hat mir erzählt, dass es für die älteren Menschen sogar einen Bürgerbus gibt.“
„Habe ich noch nie gehört … was ist denn das für eine Einrichtung?“
„Ganz einfach … wenn du einen Weg erledigen musst, dann hängst du dich einfach an die Strippe … und schon steht der Bus vor deiner Haustür.“
„Weiß nicht … da kann ich mir doch auch ein Taxi rufen.“
„Ist viel zu teuer … da würdest du ja zusätzlich einen Hunderter im Monat benötigen.“
„Aber der Fahrer will doch auch Geld verdienen … oder lebt der nur von der frischen Landluft“, hält Anke entgegen.
„Das haben sie hier auf dem Land ganz einfach gelöst … die Fahrer sind ausschließlich Senioren … die machen das ehrenamtlich … ich finde … eine ganz tolle Sache … obwohl für unsere Altersgruppe noch nicht unbedingt interessant … aber auch wir werden einmal älter … ich finde es eine ganz tolle Idee.“
Ein Hinweisschild mit der Aufschrift „Akazienaue zwei Kilometer“ unterbricht ihre Unterhaltung. Bei der Fahrt bis zur Ortsgrenze werden sie von einem einzigartigen Panorama in Empfang genommen. Riesige Buchen flankieren die Straße. Wie zu einem gewaltigen Tunnel haben sich die Kronen der Bäume in ungefähr dreißig Meter Höhe vereint. Tiefrot glänzen die zum Herbstlaub gewordenen Blätter im Sonnenlicht. Einige von ihnen sind schon mit goldenen Streifen durchzogen. Mit halb geöffneten Mund flüstert Anke, so als wolle sie die herrliche Natur nicht stören: „Wahnsinn … so etwas faszinierendes habe ich noch nirgends gesehen.“
Nach einigen hundert Metern endet der Wald und gibt den Blick auf einen wunderschönen See frei. Die Länge des Gewässers kann man von der Straße aus höchstens erahnen. Dafür bietet das gegenüberliegende Ufer mit den buntgefärbten Blättern der Bäume einen atemberaubenden Anblick. Anke ist völlig verzückt und überwältigt von der Schönheit der Natur und äußert nur kurz: „Wie im Urlaub.“
„Hast du das Schild am Ortseingang gelesen?“, fragt Andreas.
„Meinst du das Gelbe … da steht wie überall der Ortsname darauf.“
„Nein … das meine ich nicht … das grüne Schild darunter.“
„Was steht denn auf ihm … das habe ich übersehen.“
Andreas sagt mit heiterer Miene: „Ach nur … „Wohnen, wo andere Urlaub machen“ … witziger Spruch … wie ich finde.“
„Das habe ich schon einmal annähernd wörtlich gehört … ich glaube, es war gestern Abend“, stellt Anke lachend fest.
Dann sind sie auch schon an ihrem Ziel angekommen. Der Empfang ist herzlich und Anke holt den Sekt von der Rückbank. Ein niedliches kleines Schleifchen ziert den Flaschenhals. Sie überreicht die Flasche mit einem bezaubernden Lächeln und bemerkt: „Das ist unser Begrüßungstrunk … lieber noch eine halbe Stunde in den Kühlschrank legen … am besten ins Eisfach, da wird sie schneller kalt.“
„Danke … das werde ich beherzigen … dann genehmigen wir uns den ersten Schluck eben aus meinem Vorrat … ich glaube, da müsste schon etwas kalt gestellt sein … irgendwie bin ich auf euren Besuch eingestellt“, bemerkt er scherzhaft.
Als sie um die Hausecke biegen wird eine große Terrasse mit Gartenblick sichtbar. Hellgraue Granitplatten und das Rattanmöbel strahlen eine gewisse Eleganz aus und wirken überhaupt nicht protzig. Einfach toll, seufzt Anke lautlos. Sie denkt dabei an den kleinen Balkon in ihrer Stadtwohnung. Bei Sonnenschein im Sommer ist es auf ihm stets zu heiß und bei einem sanften warmen Regen fehlt die Überdachung. Da meldet sich Frank Ringhof zu Wort: „Mein kleines Mädchen – so bezeichnet er liebevoll seine Frau, weil sie so ein kleines schlankes Persönchen ist – „kann euch leider nicht begrüßen …sie besucht zurzeit ihre Eltern und Verwandten in Peru.“
„Handelt es sich dabei um die Frau, die du als Rucksacktourist bei deiner Südamerikatour kennengelernt hast?“, fragt Anke neugierig..
„Genau so ist es … aus der anfänglichen Urlaubsbekanntschaft entwickelte sich eine tiefe Zuneigung und jetzt sind wir schon fünf Jahre ein glückliches Ehepaar … leider kann ich sie auf der Reise in ihr Heimatland nicht begleiten … die Pflicht gebietet es mir, meine Patienten nicht ihrem Schicksal zu überlassen … für solch einen langen Zeitraum finde ich hier keine Vertretung … manches Mal wird es schon schwierig, wenn ich einmal drei Wochen am Stück Urlaub machen möchte.“
„Na hör mal … ich könnte auch nicht eine so lange Zeit weg von der Klinik … mein Urlaub ist im Arbeitsvertrag festgeschrieben“, entgegnet ihm Andreas.
Das Gespräch kommt nur langsam in Gang. Der Grund dafür besteht darin, dass Andreas Falk nicht so richtig weiß, wo und wie er anfangen soll. Frank Ringhof ist es rätselhaft, warum sein bester Freund heute so ungewöhnlich wortkarg ist. Schließlich ergreift Anke das Wort und fragt in ihrer offenen und ehrlichen Art: „Wie lebt es sich denn hier, so weit ab vom Schuss?“ Darauf war keiner vorbereitet und es entsteht eine kleine Kunstpause. Andreas räuspert sich kurz und sagt: „Verstehe bitte, wir haben uns einmal Gedanken über eine mögliche Veränderung gemacht … also nicht gleich sofort … nicht Hals über Kopf … eine solche Entscheidung will reiflich überlegt sein … deshalb wollen wir uns gern bei dir ein paar Informationen einholen … es muss ja auch nicht gleich so weit entfernt von der Stadt sein … ich habe doch meinen Job im Krankenhaus.“
Frank Ringhof ist leicht irritiert. Er hat bisher geglaubt, dass die Beiden das große Los gezogen haben. Als Arzt einer Klinik in der Großstadt und die große Fünf-Raum-Wohnung im Zentrum - besser kann man es doch gar nicht treffen - waren bisher seine Überlegungen - und nun diese Offenbarung. Deshalb sagt er zögerlich: „Tja, wo soll ich anfangen … bei den Vorzügen oder den Nachteilen, was das Leben auf dem Land so in sich birgt?“ Er entscheidet sich fürs Positive. Ausführlich schildert er die wunderbaren Vorteile der Landbewohner gegenüber den Städtern. Das Loblied auf Akazienaue kommt dabei nicht zu kurz. Salbungsvoll beschließt er seine Ausführungen mit der Bemerkung: „Ich wohne hier, wo andere Urlaub machen.“
Hoppla - denkt Anke - da muss doch was dran sein - diese Formulierung hört sie nun innerhalb von zwei Tagen zum dritten Mal. Frank Ringhof führt weiter aus: „Aber auch das will ich euch nicht verschweigen: man darf um Gottes Willen nicht so empfindlich sein … die Geräusche der Kühe und Schweine kurz vor der Fütterung sind weithin hörbar … und der natürliche Dünger auf den Feldern hat auch nichts mit teuren Parfüm zu tun … das gehört ebenso wie die Rasenmäher oder das Kreischen einer Kreissäge zum Alltag des Landlebens.“
Andreas wirft ein: „Schlimmer als den ständigen Großstadtlärm aushalten wird es wohl nicht sein … und Gras muss nach meinen Kenntnissen nicht täglich gemäht werden.“
„Aber damit nicht genug“, und Frank Ringhof hebt dabei bedeutungsvoll seinen Zeigefinger, „letztendlich bleibst du immer der Zugezogene, wenn du dich dem Gemeinwesen in der Gemeinde verschließt.“
Er bemerkt die fragenden Blicke von Anke und Andreas und setzt nach einer kurzen Überlegung seine Ausführungen fort: „Aber das hat sich geändert … die Einheimischen, die in der dritten und vierten Generation hier leben, sind im Prinzip stolz darauf, wenn wieder mal ein Neuer Einzug hält … derjenige gibt ihnen im gewissen Sinne doch die Bestätigung, dass nicht nur sie den Reiz der gediegenen kleinen Ortschaft zu schätzen wissen.“
„Wie ist denn so ungefähr das zahlenmäßige Verhältnis zwischen Alteingesessenen und den Zugezogenen?“, will Andreas wissen.
„Es hat für mich bisher keine Bedeutung … das kann ich dir nicht genau sagen … zudem haben wir mit unserem Berufsstand sowieso nichts auszustehen … ein Arzt wird geschätzt und geachtet … vielleicht mehr als in der Stadt … in meiner Rolle als Landarzt bin ich für den einen der gute Nachbar von nebenan und für den anderen auch schon mal der Retter in höchster Not.“
Sichtlich beeindruckt von seinen Erzählungen schauen sich Andreas und Anke in die Augen und wägen gedanklich die Vorteile und Nachteile des Gesagten vorsichtig ab. So absolut überzeugt haben beide die Ausführungen von Frank Ringhof nicht. Doch nachdem Frank sie durch alle Räume geführt hat, ändert sich die Stimmungslage merklich. Das Haus hat großzügige Zimmer und die Küche gleicht einem Studio, wie Anke es nur aus dem Fernsehen kennt. Vor allem der Freizeit- und Partyraum im Dachgeschoß hat Andreas und Anke sichtlich beeindruckt. Besonders Andreas ist von dem Bereich unter dem Spitzdach begeistert und richtet das Wort an Anke: „Das ist ja ein regelrechtes Freizeitparadies … schau einmal … die kleine Bar … der Billardtisch, den man auch zur Tischtennisplatte umfunktionieren kann und das Dartsspiel … da kann man seine Freizeit intensiv nutzen … das macht sicher einen riesigen Spaß.“
Auch Anke ist sichtlich bewegt von dem soeben Gesehenen. Gedanklich wägt sie ab, welche Einrichtungsgegenstände ihrer Wohnung hier Platz finden könnten. Vollends begeistert ist sie von der Größe der Küche. Unabhängig von einander kommen Andreas und Anke zum gleichen Ergebnis ihrer Gedankenspiele: Das wäre auch etwas für uns! Nach den zahlreichen neuen Eindrücken erwacht in Anke der natürliche Mutterinstinkt. Was werden wohl ihre zwei kleinen Goldhäschen machen?
„Ich muss mal schnell anrufen … unsere Kinder sind allein zu Hause“, ruft sie den beiden Männern zu und begibt sich auf die Terrasse. Schnell verfliegen ihre sorgenvollen Gedanken, als sie von Yvonne gesagt bekommt, dass alles in bester Ordnung sei. Dabei erfährt sie, dass Tobias die ganze Zeit nur mit Computerspielen beschäftigt ist und Yvonne Mühe hat, ihn wenigstens zum Abendbrot an den Esstisch zu bewegen. Aber das ist auch schon das einzige Problem. „Alles super, ich liebe dich und viel Spaß noch heute Abend“, sind die letzten Worte, dann hat Yvonne aufgelegt. Nachdenklich begibt sich Anke zurück ins Wohnzimmer. Das wird für die Kinder sicherlich eine ganz schöne Herausforderung - wenn überhaupt etwas daraus werden sollte. Frank steht am Couchtisch und schwenkt übermütig eine Flasche mit hellroter Flüssigkeit - ohne Etikett - wie Anke beiläufig wahrnimmt.
„Ist das etwa ein Selbstgebrannter … zutrauen würde ich euch das nach deinen bisherigen Erzählungen“, macht sich Anke bemerkbar.
„Nein, nein … soweit sind wir auf dem Lande nicht, dass jeder eine Brennerei im Keller eingerichtet hat … das hier ist etwas ganz Besonderes … so etwas habt ihr so noch niemals bekommen … das gibt es nur in Akazienaue … es ist ein ganz spezieller Likör … den habe ich von Frau Nicolai erhalten … einer Patientin von mir … er ist noch nicht einmal auf dem Markt … sie nennt ihn „Schlehenzauber““ und soll der Partyknüller des Jahrzehntes werden.“
Vorsichtig nippt Anke an ihrem Glas - schmeckt wirklich lecker - die Männer dagegen leeren das Glas in einem Zuge. Nach dem dritten Mal Nachschenken verfallen die beiden Freunde in medizinische Fachsimpeleien und Erinnerungen an ihre gemeinsame Studienzeit. Solche Themen findet Anke nicht unbedingt spannend. Außerdem hat sie gesehen, dass in ihrem Übernachtungszimmer ein Fernsehapparat aufgestellt ist. Sie nimmt ihr leeres Glas und stellt es in die Küche.
„Schönen Abend noch, ich bin müde“, ohne auf die erstaunte Frage ihres Mannes: „Was denn, jetzt schon?“, einzugehen, begibt sie sich zur Nachtruhe.
„Wie geht es dir denn beruflich … ich meine … füllt dich die Stelle eines Hausarztes so richtig aus?“ will Andreas von seinem Freund wissen.
„Es ist im Grund genommen nicht so, wie wir es damals beim Studium fälschlicherweise angenommen haben …selbstverständlich hätte ich damals liebend gern eine Assistentenstelle in einem großen Klinikum angetreten … ich habe mich aber für die Landarztpraxis entschieden … nicht ganz freiwillig, muss ich eingestehen … meine Frau ist in ihrer Heimat auf dem Land aufgewachsen … sie mag die Großstadt überhaupt nicht … hier dagegen fühlt sie sich wohl.“
„Und die vielen Hausbesuche … und die Patienten, die wegen jedem kleinen Wehwehchen zu dir kommen … stört dich das nicht?“, fragt Andreas.
Frank Ringhof muss lachen und sagt: „Das sind doch alles Ammenmärchen … wo lebst du denn … die Leute hier auf dem Land sind viel gesünder, als die in der Stadt … und wenn sie mal ein Unwohlsein haben, dann greifen die eher zu Omas Hausmittel, als dass sie zum Arzt gehen.“
„Und die Hausbesuche?“, bohrt Andreas nach.
„Das muss schon sein, belastet mich aber nicht außergewöhnlich … die Menschen, die ich besuche, haben es wirklich nötig … und wenn du Schmerzen linderst … und denen überhaupt helfen kannst … dann weckt das in dir den Berufsstolz … auch deshalb haben wir uns doch gerade für den Arztberuf entschieden.“
„Wirst wohl recht haben … wenn ich an meine Notarzteinsätze denke … ist auch nicht gerade das reine Zuckerschlecken … und die vielen Nachtdienste … und am Wochenende noch Bereitschaft … und tolle Aufstiegsmöglichkeiten kann ich auch nicht in absehbarer Zeit erkennen.“
„Siehst du … wenn ich das so höre, dann bin ich froh, hier zu praktizieren.“
„Für dich mag das ja zutreffen … aber ich bin ausgebildeter Herzspezialist … und in diesem Bereich möchte ich auch weiter arbeiten.“
„Dann bewerbe dich doch in dem Klinikum in Ballenhainischen … ich glaube, die suchen einen neuen Stationsarzt für die Kardiologie.“
„Ich will mal ganz offen zu dir sein … ich habe auch momentan beruflich die Nase voll … ich sehe kein wirkliches Weiterkommen … und als Assistenzarzt möchte ich nicht ein Leben lang arbeiten“, bemerkt Andreas etwas zerknirscht.
„Ich werde mich gleich morgen genau erkundigen … schon aus alter Freundschaft zu dir … und solltest du dich dafür entscheiden … dann suche oder bau dir ein Haus in Akazienaue … so werden wir sogar noch Nachbarn“, bemerkt Frank Ringhof schmunzelnd.
„Und wie sieht es denn mit der Freizeit aus … ist es hier nicht etwas eintönig?“
“Besser, als es sich so mancher Städter vorstellt …die Entfernungen sind natürlich weiter als in der Stadt … dafür ist der Zeitfaktor fast der Gleiche … teilweise noch günstiger … ich nenne dir einmal ein Beispiel …wir besuchen sehr gerne die Veranstaltung des Musiksommers in der Klosterkirche von Malin … die Fahrt dorthin dauert nicht länger als dreißig Minuten.“
„Die brauche ich auch … ich meine … wenn ich in die Oper oder ins Konzert gehe … aber das macht man doch nicht alle Tage“, wirft Andreas sofort ein.
„Natürlich kannst du das Kulturangebot einer Großstadt nicht mit der Gegend von hier vergleichen … das wäre auch nicht ganz fair … dafür hast du eben den großen Vorteil, direkt in der Natur zu leben … auch die Auswahl an Gaststätten hält keinen Vergleichen stand … dafür haben wir hier im Ort ein ganz tolles Restaurant … es nennt sich „Haus am Akaziensee“ … erstklassige Küche und hervorragende Eisbecher … wie beim Italiener“, führt Frank Ringhof begeistert aus.
„Wenn du so weitermachst, empfehle ich dich als Reiseführer für den Ortsverein.“
„Keineswegs, ich übertreibe nicht … du wolltest doch wissen, wie es sich hier leben lässt … da brauche ich nichts zu beschönigen.“
„Ist nicht als Kritik gemeint … deine Schilderungen klingen ziemlich verlockend … ich sollte wirklich ernsthaft darüber nachdenken“, sagt Andreas mit ernster Miene.
„Und vergiss nicht den Akaziensee … wenn du Lust hast, kannst du Angler werden … aber Spaß beiseite … ich habe mir ein Segelboot zugelegt … was glaubst du, wie viel Freude und Entspannung wir beim Wassersport haben … das Beste daran ist, dass man alles gemeinsam machen kann.“
„Ich weiß auch nicht … Segeln … das will doch gelernt sein … ob ich mich dazu eigne?“, bemerkt Andreas nachdenklich.
„Das ist doch nur ein Beispiel gewesen … auf unserem See sind auch Motorboote erlaubt … wenn du die Schleusen nicht scheust, kannst du das ganze Land auf dem Wasser erkunden … ich kenne einige, die so ihren Urlaub verbringen.“
„Das kostet doch bestimmt eine Menge Geld … ich meine so ein Motorboot.“
„Es muss nicht unbedingt eine Yacht sein … da hast du recht … die sind teuer … aber ein kleines Kajütboot … auf dem du auch übernachten kannst, ist schon erschwinglich … und es muss ja nicht gleich das neueste Modell sein … ein Boot aus zweiter Hand tut es auch.“
„Hört sich alles sehr verlockend an … wollen mal sehen … ruf bitte an … ich meine wegen der Stelle im Klinikum“, sagt Andreas Falk schon mit etwas schwerer Zunge und hebt zum Gute Nacht Gruß sein Glas, „der Schlehenzauber hat es ganz schön in sich … vielleicht stoßen wir demnächst als Nachbarn an.“
„An mir soll es nicht liegen … jetzt bist du am Zug … ich hoffe, du triffst die richtige Entscheidung … jetzt sollten wir schlafen gehen …die Flasche ist sowieso leer … aber letztendlich muss auch deine Frau davon begeistert sein“, sagt Frank Ringhof und wünscht eine Gute Nacht.
Die Heimfahrt verläuft anfangs schweigend. Dann kann Anke ihre angeborene weibliche Neugier nicht mehr im Zaum halten und äußert sich: „Erzähl mal, was habt ihr euch denn gestern Abend noch unterhalten, nachdem ich zu Bett gegangen bin?“
„Ach … nichts Wesentliches … über meine Arbeit im Krankenhaus … über seine Tätigkeit als Landarzt … über das Leben auf dem Lande.“
„Das glaube ich dir nicht ganz … dich bedrückt doch etwas … da kenne ich dich zu lange und zu gut … also heraus mit der Sprache.“
„Ja, also“, und nach einer kleinen Kunstpause fährt er fort, „hm … Frank hat mir erzählt, dass die Stelle des Stationsarztes im Klinikum in Ballenhainischen vakant ist … sie soll in der nächsten Woche öffentlich ausgeschrieben werden.“
Mit besorgter, fast ängstlicher Stimme fragt sie: „Und … was hast du gesagt?“
„Er soll sich mal erkundigen … und mich dann anrufen.“
„Das kannst du doch nicht ernst gemeint haben.“
„Es heißt doch deshalb nicht, dass ich auch die Stelle bekommen werde … soweit ist das noch lange nicht … da gibt es sicher eine ganze Menge an Bewerbern.“
„Aber überlege doch einmal … gerade jetzt, wo ich die Teilzeitstelle in dem Rechtsanwaltbüros angeboten bekommen habe … schon in drei Monaten könnte ich dort anfangen … und an Yvonne und Tobias denkst du wohl überhaupt nicht?“
„Doch, doch … aber in ihrem Alter lebt man sich überall ein … und neue Freundschaften findet man ebenfalls … das ist auf der ganzen Welt so … und bleibe doch bitte ganz ruhig … noch ist es ja nicht soweit … vielleicht findest du gerade hier viel leichter eine Stelle als Rechtsanwältin, als bei uns in der Stadt.“
„Du hast ja recht … nein, ich rege mich nicht auf … du sollst dich lieber auf das Fahren konzentrieren … zu Hause können wir uns in aller Ruhe darüber austauschen“, bemerkt Anke. Sie ist sich bewusst, dass damit die Probleme nur aufgeschoben werden. In Wirklichkeit hat sie riesige Angst vor dem Neuen, vor dem Unbekannten, das auf sie zukommen könnte - und wenn sich ihr Ehemann etwas in den Kopf gesetzt hat, dann hat er es bisher immer verwirklicht.