Читать книгу Die Tote unter dem Schlehendorn - Dieter Landgraf - Страница 6
Herbst 1997
ОглавлениеWieder einmal so ein Zwölf-Stunden Tag - überlegt Dr. Andreas Falk - und dann noch die Bereitschaft als Notarzt, das geht langsam an die Substanz. Gerne wäre er auch auf der Karriereleiter weiter nach oben gestiegen. Zu seinem Leidwesen sind die Führungspositionen durch Ärzte besetzt, die im Vergleich zu ihm nur wenige Jahre älter sind. Eigentlich besitzt er die besten Voraussetzungen für eine Stelle als Oberarzt in der Klinik. Das Medizinstudium, die Doktorarbeit und fünf Jahre Facharztausbildung hat er erfolgreich bewältigt. Vor kurzem absolvierte er die Ausbildung zum Notarzt. Als Student war es immer sein Wunsch, an einem großen Klinikum zu arbeiten - und wenn möglich, natürlich in einer Großstadt. Auch diese Vorstellungen sind in Erfüllung gegangen. Den beruflichen Aufstieg hat er sich aber doch etwas leichter vorgestellt. In den letzten Wochen wurden seine Gefühle und Gedanken immer wieder von Widersprüchen und Selbstzweifeln getrübt. Wie schon öfters stellt er sich auch heute die Frage, ob es nicht ein erfülltes Leben außerhalb des Klinikums und der Großstadt geben könnte. Unwillkürlich fällt ihm bei diesen Überlegungen sein Freund und Kommilitone aus der Studienzeit ein. Mit ihm verbindet ihn noch heute eine feste Männerfreundschaft. Sein Name ist Frank Ringhof. Er hat auf einer Südamerikareise die große Liebe seines Lebens kennengelernt. Seine Frau stammt aus ländlichen Verhältnissen und wollte unter keinen Umständen eine Städterin werden. Diesen Wunsch erfüllte Frank Ringhof seiner Frau und übernahm eine frei gewordene Landarztpraxis inmitten des Naturparks Sandahlener Heide. Das Einfamilienhaus mit einem großen Garten hat er in Akazienaue gebaut. Seinen Erzählungen zufolge lebt er glücklich und zufrieden in der ländlichen Abgeschiedenheit seines Wohnortes. Auf dem Nachhauseweg gehen ihm die Gedanken über Frank Ringhof nicht aus dem Sinn. In seiner Wohnung wird er freudig von Yvonne und Tobias, seinen beiden Kindern, begrüßt. Wie so oft ist die Zeit mit den Kindern nur kurz bemessen. Sie nehmen ihre Schulmappen und verabschieden sich mit einem Küsschen von seiner Frau. Ein kurzes Hallo in Richtung ihres Vaters und beide sind verschwunden. Liebevoll kommt Anke auf ihn zu und schmiegt sich zärtlich an ihn. Als er den Arm um ihre Hüften legt, spürt er, dass er diese Frau noch genau so liebt, wie vor zehn Jahren, als sie sich das „Ja-Wort“ gegeben haben. Im gleichen Jahr wurde ihre Tochter Yvonne geboren. Nachdenklich schaut Andreas Falk in seine Kaffeetasse.
„Hast du irgendein Problem … du kommst mir ein wenig bedrückt vor!“, bemerkt Anke besorgt.
„Bedrückt ist vielleicht nicht der richtige Ausdruck … ich bin einfach unzufrieden.“
„Doch hoffentlich nicht mit mir?“
„Um Gottes Willen … nein, nein … dich liebe ich noch wie am ersten Tag, als wir uns kennenlernten.“
„Dann kann ich ja froh sein … und was macht dich dann so nachdenklich?“
„Die Situation in der Klinik macht mir zu schaffen.“
„Gibt es etwa Ärger?“
„Auch das nicht …es ist schon alles in bester Ordnung … ich sehe einfach keine Chancen, von der Assistenzstelle wegzukommen … die Ärzte über mir sind in der Regel nur drei bis vier Jahre älter als ich.“
„Aber die waren doch in der gleichen Situation, wie du jetzt bist … und haben auch eine leitende Position erhalten.“
„Da gehört verdammt viel Geduld dazu … wenn ich darauf warten soll, dass einer von denen in den Ruhstand geht … das kann aus heutiger Sicht noch ganz schön lange dauern … und Oberarzt wollte ich eigentlich nicht erst fünf Jahre vor dem Ruhestand werden“, bemerkt er mit einem ironischen Unterton.
„Ich versuch dich ja zu verstehen … du hast doch immer gesagt, dass es der schönste und dankbarste Beruf ist … gilt das jetzt nicht mehr.“
„Daran wird sich auch nichts ändern … ich denke dabei auch an mein Gehalt … und die Notarztausbildung habe ich auch nur gemacht, dass wir uns ganz einfach etwas mehr leisten können.“
„Meinetwegen brauchst du dir deshalb keine Gedanken zu machen … ich bin zufrieden mit dem was wir haben … und wenn du vor allem niemals aufhörst mich zu lieben.“
Die letzten Worte überhört er absichtlich, obwohl er sie genau registriert. Ohne darauf einzugehen gibt er seinen Überlegungen weiter freien Lauf.
„Es ist nicht nur das Berufliche … zurzeit habe ich das ganze Stadtleben hier satt … wenn ich mit Frank Ringhof telefoniere, dann könnte ich ihn fast beneiden … er hat eine ganz andere Freizeitgestaltung als wir hier … wenn ich ihn richtig verstehe, dann lebt er dort auf dem Land wirklich wie im Urlaub.“
„Nun übertreibe doch nicht … wann hast du denn das letzte Mal mit ihm telefoniert … geschweige denn, mit ihm persönlich gesprochen.“
„Siehst du, genau das ist der Punkt … nicht einmal dazu kommt man … ich meine damit … seine alte Freundschaft zu pflegen … und zu ihm zu fahren gleicht ja einer halben Weltreise.“
Anke überlegt, ob da nicht ein gewisses Verlangen nach einem Neubeginn aus seinen Worten herausgeklungen hat. Andreas hat eigentlich noch nie so geringschätzig über das Großstadtleben gesprochen. Tausend Gedanken jagen ihr durch den Kopf und sie sagt: „Um Himmelswillen, ja keine Umstellung oder Veränderung.“
„Davon habe ich doch gar nicht gesprochen … aber wenn ich es mir einmal richtig überlege … was haben wir denn die letzten Jahre von den Angeboten in der Stadt genutzt … ja, vor zehn Jahren war das noch anders … da war jede Woche Theater, Kino, Kabarett oder Party angesagt … doch schon seit einigen Jahren ist es stiller mit uns Beiden und um uns herum geworden.“
„Du hast ja recht … ich möchte natürlich, dass du glücklich bist … aber bedenke immer, dass auch das schönste Umfeld zur Gewohnheit wird, wenn man es vor Augen hat.“
Andreas ist froh, dass er sich einmal aussprechen konnte und es geht ihm auch gleich viel wohler. Trotzdem ist er sich sicher, dass damit das Thema noch längst nicht aus der Welt geschaffen ist. Am Abend, die Kinder sind schon schlafen gegangen, holt Andreas eine Flasche von dem französischen Rotwein aus dem Weinregal und schaut Anke herausfordernd an. Voller Unternehmungslust sagt er: „Mit einem Glas Wein lässt es sich besser quatschen … und wir haben noch eine ganze Menge zu bereden.“
Also doch, denkt sie, ihr Gefühl hat sie nicht getäuscht. Hinter der wortreichen Schilderung am Vormittag in der Küche verbirgt sich also doch ein ernsterer Hintergrund. Nach dem ersten Glas Wein kommt Andreas richtig ins Schwärmen.
„Stell dir vor, wir beide wohnen in einem schönen kleinen Häuschen mit einem tollen Garten … rundherum nur die saubere Landluft … das Gemüse kaufen wir dann nicht mehr im Supermarkt sondern holen es frisch aus den eigenen Beeten … ich würde die schwereren Arbeiten übernehmen und den ganzen Nutzgarten bewirtschaften. … und du könntest all deine Kreativität im Vorgarten und den Blumenrabatten einbringen.“
Begeistert von der bildhaften Schilderung einer möglichen Zukunftsvision lässt sich auch Anke anstecken und schmückt die Gedanken von ihrem Ehemann weiter aus.
„Am liebsten möchte ich einen japanischen Garten anlegen … die dazu gehörigen Pflanzen und Skulpturen bekommst du in jedem gängigen Baumarkt“, und scherzend fügt sie hinzu, „oder wir bringen diese von unsere nächste Asienreise als Originale selbst mit.“
„Was wir uns alles vornehmen könnten … zum Beispiel sind ausgedehnte Radtouren vorstellbar … ich habe gehört, dort soll es die am besten ausgebauten Radwege im ganzen Land geben … sicher kaufen wir uns auch ein kleines Kajütboot und ich werde ein richtiger Freizeitkapitän.“
„Ich möchte mit dir an den Wochenenden Nordic Walking über taufrisches Gras unternehmen und den Sonnenaufgang genießen.“
„Wir können uns die teuren Urlaubsreisen ersparen … die schöne Landschaft und Wasser haben wir jeden Tag direkt vor der Haustür“, steigert er sich immer mehr in seine Vorstellungen eines veränderten Wohnsitzes. Nach dem zweiten Glas Wein sieht sich Anke schon wie ein kleines Mädchen mit einem Wildblumenkränzchen im Haar über die Wiesen schweben und ihre Begeisterung wächst zunehmend. Voller Überschwang meint Andreas: „Du wirst dann meine Galionsfigur auf dem Boot sein … ich stelle mir schon die neidischen Blicke der anderen Bootsfahrer vor, wenn du im Bikini auf dem Bug unseres Schiffes ein Sonnenbad nimmst.“
Lachend sagt Anke:„Wärst du da nicht ein kleines bisschen eifersüchtig auf die braungebrannten und muskelbepackten Seemänner?“
„Ich und eifersüchtig … das ich nicht lache … ich würde einen jeden über Bord schmeißen, der dir zu nahe kommt … und am Abend hätte ich dich dann ganz allein … ohne das irgendeiner zuschauen kann.“
„Was würdest du dann mit mir machen … hoffentlich keine Dummheiten“, fragt Anke scherzhaft.
„Natürlich nur den Sonnenuntergang beobachten und die einzigartige Stille der freien Natur genießen“, gibt er ebenfalls spaßig zurück. In Gedanken spürt sie schon die feste Umarmung seiner kräftigen Arme und legt ihren Kopf sanft auf seine Brust. Dieser Abend endet wild romantisch - wie in den ersten Tagen ihres Kennenlernens. Beseelt vom süßen Rebensaft und den Zukunftsvisionen erleben beide eine leidenschaftliche Liebesnacht.