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Die Kalorienkönigin Emmerich Kálmán und Maria Pervich
ОглавлениеIn keiner Kunstsparte wird so viel getafelt und champagnisiert wie in der Operette, und auch, was den Operettenkomponisten betrifft, hält sich hartnäckig das Klischee vom Lebemann, der nicht nur von schönen Frauen umringt ist, sondern auch bei Speis und Trank aus dem Vollen schöpft.
Der Mann, auf den dies wie auf keinen zweiten zutrifft, ist Emmerich Kálmán, der 1882 in Ungarn geborene und in Wien, Paris und New York zum Weltbürger avancierte Schöpfer so unvergänglicher Meisterwerke wie »Die Csárdásfürstin«, »Die Faschingsfee« und »Gräfin Mariza«. Melodien wie »Machen wir’s den Schwalben nach«, »Komm mit nach Varasdin« und »Ganz ohne Weiber geht die Chose nicht« zählen auch achtzig Jahre nach ihrer Entstehung zum festen Bestand der Bühnen-, Rundfunk-, Fernseh- und Schallplattenszene. Doch im Gegensatz zu den Werken anderer Komponisten der leichten Muse, die erst deren Erben zu Reichtum verhelfen, fließen im Fall Kálmán schon zu dessen Lebzeiten die Tantiemen derart üppig, daß sich der »Operettenfürst vom Plattensee« jeden erdenklichen Luxus leisten kann – und nicht nur er, sondern auch seine Familie, allen voran die aus Rußland stammende Tänzerin Vera Makinskaja, die er 1929 zur Frau nimmt.
Geht es dem Meister, was dessen Lebensstil betrifft, in erster Linie darum, kulinarisch verwöhnt zu werden und stets seine Leibspeisen aufgetischt zu bekommen, zielen die Ansprüche der mondän-kapriziösen Vera vor allem auf gesellschaftlichen Glanz, auf Höchststandards in Sachen Mode, Schmuck und Wohnkultur. Und während es der Hausherr vorzieht, sich zum Komponieren an Klavier und Schreibtisch zurückzuziehen, entwickelt sich Gattin Vera zu einer Virtuosin der Geldanlage (und des Geldausgebens), deren halbes Leben darin besteht, mit den Großen und Schönen dieser Welt, die sie um sich schart, ein Fest nach dem anderen zu feiern. Ihre Gesellschaften, Partys und Gelage sind Legende, und damit sie dies sind (und bis zu ihrem Tod im Jahr 1999 bleiben), achtet sie darauf, daß ihr immer und über all das ausgesuchteste Personal zur Seite steht.
Im fünften Jahr ihrer Ehe beziehen die Kálmáns eine palaisartige Villa im Wiener Nobelbezirk Währing. Der Besitz in der Hasenauerstraße umfaßt dreißig Räume mit nicht weniger als sechs Konzertflügeln; zu den Bediensteten zählen zwölf Hausangestellte und zwei Chauffeure. Seitdem Gattin Vera das Regiment übernommen hat, kommt es unter dem Personal allerdings zu häufigem Wechsel: Nicht jeder mag sich von der zu Herrschsucht neigenden Frau des Hauses herumkommandieren lassen. Auch Köchin Toni, die unter anderem wegen ihres legendären Milchrahmstrudels Gourmet Emmerich Kálmán ans Herz gewachsen ist, ist unter denjenigen, die den Dienst quittieren. Alle Versuche, eine ebenbürtige Nachfolgerin für Toni zu finden, schlagen fehl: Jede »Neue« wird über kurz oder lang als unzulänglich aus dem Haus gejagt. Feinschmecker Kálmán droht seiner Angetrauten, die Mahlzeiten künftig im Restaurant einzunehmen.
Die Rettung kommt aus Budapest: Kálmáns in der ungarischen Hauptstadt lebende Schwester Ilonka, über die Vakanz im Wiener Haushalt unterrichtet, vermittelt ihrem Bruder eine Spitzenkraft, die sich als Chefköchin im Budapester Magnaten-Casino einen Namen gemacht und dort vor kurzem ihre Kündigung eingereicht hat. Maria Pervich – so ihr Name – schwankt zwischen dem Wunsch, ein eigenes Lokal zu eröffnen, und der Versuchung, das Angebot von Reichsverweser Nikolaus von Horthy anzunehmen, in dessen Dienste zu treten. Auch Verteidigungsminister Gömbös ist hinter ihr her.
Da nimmt Ilonka Kálmán die Sache in die Hand. Leicht wird es allerdings nicht werden, die begehrte Person nach Wien zu lokken: Maria Pervich, Ende vierzig, spricht kein Wort Deutsch. Außerdem ist sie sich ihres Wertes bewußt: Sie verlangt fünf Mal so viel Gehalt wie ihre Vorgängerin.
Immerhin gelingt es, die Kandidatin zu einem vierwöchigen Probekochen zu überreden – mit dem Resultat, daß die Gäste des eilends organisierten Test-Diners von dem kaviargekrönten Plattensee-Fogosch, der gebratenen Gans und dem SchokoladeRehrücken, die ihnen Maria Pervich auftischt, nicht genug bekommen können. Und was das Wichtigste ist: Kaloriengigant Emmerich Kálmán ist voll des Lobes über »die Neue«, und auch Hausfrau Vera, obwohl angesichts der exzessiven Einkäufe ihrer »Perle« außer sich geratend, stimmt notgedrungen zu: Maria Pervich wird engagiert.
Als Vera Kálmán Jahrzehnte später in ihren Memoiren über das vierzigjährige Wirken ihrer Köchin Bilanz ziehen wird, tut sie dies – ungeachtet der zahllosen Auseinandersetzungen mit der keinerlei Widerspruch Duldenden – in den höchsten Tönen. Sie schreibt: »Sie ging selber zum Fleischer und wußte genau, welches Stück sie aus einem Rind oder einem Schwein haben wollte. Sie buk unser Brot und unsere Semmeln. Sie fuhr in die entlegensten Gegenden Wiens, um das frischeste Gemüse zu bekommen, das aufzutreiben war. Sie wußte von allen erdenklichen Ingredienzien. Unser Haushalt kostete das Zehnfache von dem, was er bisher gekostet hatte. Aber ich war innerhalb weniger Wochen die beliebteste Gastgeberin von Wien.«
Auch über die Person der Maria Pervich gibt Vera Kálmán Auskunft: »Sie war klein, stämmig, blond und hatte blaue Augen. Sie wirkte eher wie eine Bäuerin. Sie war einmalig, und sie wußte es. Sie war bereit, alles zu tun. Es war ihr gleichgültig, ob sie für fünf oder für fünfzig Personen kochen sollte. Sie sprach ungarisch und hat nie eine andere Sprache richtig gelernt – gleichgültig, ob wir in Paris lebten, in Wien oder in Hollywood. Auch, als wir nach Amerika emigrierten, war Frau Pervich natürlich dabei, und dank ihrer einzigartigen Kochkunst machte sie mich zur berühmtesten Gastgeberin bei den großen Partys, die wir gaben. Allerdings war sie auch eine absolute Herrscherin: Sie ließ sich nichts sagen. Als ich ihr einmal andeutete, ihr Essen sei zu gut, mein Mann habe sechs Kilo zugenommen und ich zwei, war sie so gekränkt, daß sie auf der Stelle gehen wollte.«
Daß sie dennoch bleibt und auch allen noch so hochdotierten Abwerbeversuchen widersteht, führt Topsy Küppers in ihrer Romanbiographie »Alle Träume führen nach Wien« auf Maria Pervichs tiefe Verehrung für Emmerich Kálmán zurück, die auch nicht durch ihre ebenso vehemente Abneigung gegen dessen Gattin Vera zu erschüttern ist: »Veras Anordnungen führte sie aus oder auch nicht. Wenn ihr eine Speisenfolge nicht paßte, änderte sie sie eigenmächtig und ließ Veras Donnerwetter stumm über sich ergehen. Da jede Einladung zum Abendessen mit Ovationen für Vera endete, trug die Pervich immer den Sieg davon.«
Berühmt sind auch ihre Backhendln. Dem amerikanischen Jazzdirigenten Paul Whiteman, der auf seiner Europa-Tournee in Wien Halt macht und nach seinem dortigen Konzert bei den Kálmáns zum Nachtmahl eingeladen ist, munden sie so gut, daß ihm Köchin Pervich, als er zwei Tage später die Weiterreise antritt, einen ganzen Korb voller Backhendln zum Westbahnhof schickt. Wer sich gegenüber Geflügel mehr zurückhält, ist der Hausherr. Als ihm die Köchin eines Abends eine gebratene Gans vorsetzt, die noch am Tag zuvor quietschvergnügt durch den Kálmán’schen Garten spaziert ist, weist Kálmán den Hauptgang empört zurück: »Nein, danke – ich esse prinzipiell keine persönlich Bekannten!«
Was die Kálmán-Kinder – es sind deren drei: Charles, Lily und Yvonne – betrifft, so verbindet diese mit Maria Pervich mehr als nur das tägliche »Futter«: Da Mutter Vera ihrer vielen gesellschaftlichen Verpflichtungen wegen zeitweise ihren Nachwuchs vernachlässigt, ist die Köchin für die Heranwachsenden Mutter-und Großmutterersatz. Außerdem lernen sie bei ihr Ungarisch.
Wie sehr die Pervich zur Familie gehört, erweist sich besonders in den Tagen, als nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten auch im Hause Kálmán Überlegungen darüber angestellt werden, wie man der braunen Gefahr entrinnen kann. Wäre Paris der rechte Ort zur Emigration? Dreimal fährt das Ehepaar Kálmán in die französische Hauptstadt, um sich – unterstützt von den Freunden Oscar Straus und Erich Maria Remarque – die nötigen Aufenthaltspapiere zu beschaffen. Beim dritten Mal klappt es endlich. Damit auch Maria Pervich bei ihren Dienstgebern bleiben kann, folgt man dem Rat Eingeweihter, sie nicht als Köchin, sondern als enge Verwandte auszugeben: Ausländisches Personal zu engagieren oder gar einreisen zu lassen, unterliegt einem strengen Verbot. Die unscheinbare und normalerweise nachlässig gekleidete Pervich wird also als Grande Dame herausgeputzt, und die Sache geht anstandslos durch.
Auch an der nächsten Station – es ist New York, wohin man 1940 übersiedelt ist – nimmt Maria Pervich ihren angestammten Platz im Kálmán-Haushalt ein. Probleme gibt’s nur mit den Tauben, die die an das Arbeitszimmer des Meisters angrenzende Veranda belagern. Maria Pervich füttert die hungrigen Vögel mit ihrem selbstgebackenen Brot – mit der Folge, daß ihrer immer mehr werden und der dabei entstehende Lärm den ruhebedürftigen Komponisten bei der Arbeit stört. Was tun gegen die unerträgliche Belästigung? Als die Köchin zum Einkaufen außer Haus weilt, schreitet Vera Kálmán zur Tat: Sie lockt die Viecher mit einer Sonderration Futter an, das sie auf dem Boden eines großen Korbes ausgebreitet hat, und als sich die hungrigen Gäste über den Köder hermachen, klappt sie den Deckel zu, verstaut die geflügelte Fracht im Kofferraum ihres Autos, fährt damit nach Long Island und gibt ihnen dort ihre Freiheit wieder. Gleichzeitig wird eine Reinigungsanstalt damit betraut, die total verschmutzte Veranda zu säubern. Doch es hilft alles nichts: Die Tauben kehren wieder, und Maria Pervich muß mit aller Schärfe in ihre Schranken gewiesen werden. Daß sie mit ihrer Tierliebe den verehrten Meister um einen neuen Einfall, vielleicht gar um eine erfolgsträchtige neue Melodie bringen könnte – nein, das will auch sie nicht, und so gibt sie schweren Herzens klein bei.
Inzwischen hat Vera Kálmán auch in New York – man residiert an der noblen Adresse Park Avenue 417 – ihren Partybetrieb wiederaufgenommen, die Prominenz strömt zu ihren Festen. Einmal sind es an die zweihundert Gäste, die sie einlädt – da wird man nicht ohne die Assistenz einer Catering-Firma auskommen. Als Maria Pervich davon erfährt, wehrt sie sich mit Händen und Füßen gegen die »Eindringlinge« und besorgt alles selbst. Ob Gulasch oder Bohnensuppe, Tarhonya oder Somlauer Nockerln – sämtliche Köstlichkeiten der ungarischen Küche bereitet sie eigenhändig zu; sogar die Beschaffung der Getränke gibt sie nicht aus der Hand. Überflüssig zu erwähnen, daß die treue »Perle« auch standhaft bleibt, als am folgenden Tag einer der begeisterten Gäste sie mit dem Versprechen des doppelten Gehaltes und eines eigenen Hauses mit Swimmingpool abzuwerben versucht: Maria Pervich bleibt bei den Kálmáns. Es genügt ihr, wenn sie – wie etwa bei dem Hochzeitsdiner für die ältere Kálmán-Tochter Lily, an dem so illustre Leute wie der Schriftsteller André Maurois und die Kosmetikköniginnen Elizabeth Arden und Helena Rubinstein teilnehmen – nach absolviertem Mahl aus der Küche geholt und vor versammelter Gästeschaft wie ein Star gefeiert wird.
Weniger erfreulich verläuft ein Hochzeitsessen von Maria Pervichs Hand, das der Hollywood-Krösus Louis B. Mayer bei den Kálmáns »in Auftrag« gibt. Der allmächtige MGM-Chef hat soeben den 100 000-Dollar-Vertrag zur Verfilmung der Kálmán-Operette »Gräfin Mariza« unterzeichnet, da steht die Vermählung der Mayer-Tochter Irene mit dem Filmproduzenten David Selznik ins Haus, und Mutter Margret Mayer faßt den Entschluß, sich für das vorgesehene Festmahl, zu dem die komplette Hollywood-Prominenz von Clark Gable bis Greta Garbo erwartet wird, die renommierte Frau Pervich auszuborgen. Vera Kálmán gibt ihren Sanctus; jetzt geht es nur noch darum, auch die Köchin »weichzuklopfen«. Ihre Bedingung: Sie muß für die Vorbereitung des zehngängigen Menüs eine volle Woche vom normalen Dienst freigestellt werden, und die Hilfskräfte, um die in diesem Fall wohl nicht herumzukommen ist, müssen unter allen Umständen nach ihrer Pfeife tanzen.
Es wird ein rauschendes Fest; für die Entgegennahme des Beifalls hat sich Maria Pervich eigens ein elegantes schwarzes Kleid mit vorgebundener weißer Schürze schneidern lassen. Unter den über hundert Gästen, die sie nach getaner Arbeit stürmisch feiern, sind die Vanderbilts, die Woolworth-Erbin Barbara Hutton, der Dirigent Leopold Stokowsky, der Jazzmusiker Duke Ellington, die Hollywood-Klatschbasen Hedda Hopper, Louelle Pearson und Elsa Maxwell, der Regisseur Fritz Lang, der Schriftsteller Erich Maria Remarque, die Filmstars Norma Shearer und Conrad Veidt. Am glücklichsten von allen ist Brautmutter Margret Mayer; sie fragt ihre Freundin Vera Kálmán, ob die Köchin wohl beleidigt wäre, wenn sie sich ihr mit einem Geldbetrag für das Geleistete erkenntlich zeigen würde. Maria Pervichs knappe Anwort in ihrem urwüchsigen Ungarn-Deutsch: »Ich nur beleidigt, wenn kein Geld.«
Und wieviel rückt die Gattin des Vielfach-Millionärs Louis B. Mayer heraus? Hundert Dollar. Soll das ein Witz sein? Hundert Dollar für ein Galadiner für die Crème de la Crème von Hollywood, an dem Meisterköchin Maria Pervich eine volle Woche gewerkt, bei dem sie sich selber übertroffen, für das sie sich mindestens das Zehnfache verdient hat?
Vera Kálmán schämt sich für die krankhaft geizige Person in Grund und Boden, weiht ihren Mann in den Skandal ein. Emmerich Kálmán, nicht minder entrüstet, rettet die Situation auf seine Weise: Er bezahlt die schwer brüskierte Köchin aus seiner eigenen Tasche und nimmt im übrigen Gattin Vera das feierliche Versprechen ab: »Unsere Pervich wird nie wieder verborgt – niemals wieder!«
1951, Kuraufenthalt in Baden-Baden. Emmerich Kálmáns Herzleiden verschlimmert sich, der berühmte Dr. Niemeyer nimmt sich des gefährdeten Patienten an. Auch die anderen Familienmitglieder nehmen laufend ärztliche Hilfe in Anspruch – und sei es wegen der kleinsten Wehwehchen. Nur eine meidet jede Arztpraxis – wie der Teufel das Weihwasser. Dabei ist sie vor kurzem siebzig geworden: Maria Pervich. Außerdem arbeitet sie von frühmorgens bis spätabends – sollte sich da der gute Dr. Niemeyer nicht auch mal die alte Köchin vornehmen? »Ich ganz gesund!«, wehrt diese schroff alle diesbezüglichen Überlegungen ab. »Ich sowieso werde hundert, habe eigene Diät.«
Die Familie läßt nicht locker, redet ihr gut zu, die überfälligen Untersuchungen unbedingt über sich ergehen zu lassen, und so kommt es nach vielem Hin und Her tatsächlich zu einem Termin in Dr. Niemeyers Ordination. Die Patientin wird aufgefordert, sich über ihre Ernährungsgewohnheiten zu äußern.
Einen solchen Sündenkatalog hat Dr. Niemeyer wohl noch nie zu hören bekommen: Maria Pervich nimmt zum Frühstück einen starken, mit Eigelb, Zucker, Schlagobers und Cognac angereicherten Kaffee sowie Guglhupf mit Butter und Honig zu sich; zum Gabelfrühstück schnabuliert sie Salamibrot und Schnaps; beim dreigängigen Mittagessen dürfen unter keinen Umständen ein paar Gläschen Wein fehlen; die Nachmittagsjause besteht aus Kaffee, Kuchen und Schlagobers; zum Nachtmahl gibt es Gansleberpastete und Braten und zum Einschlafen Whisky oder den von ihr besonders geschätzten Kirschschnaps.
Der Doktor ist entsetzt: »Frau Pervich, Sie essen viel zu viel. Sie rauchen doch nicht etwa auch?« »Ach, nicht besonders«, gibt sie zur Antwort. »Eine Schachtel am Tag, manchmal auch mehr. Aber ich zähle nicht.«
Zwei Tage später liegen die Befunde vor. Dr. Niemeyer traut seinen Augen nicht: Sie sind alle völlig normal, der Schlemmerin Maria Pervich fehlt nichts, absolut nichts. Bleibt dem Herrn Doktor nichts weiter zu tun, als seiner Patientin zu ihrer schier unglaublichen Gesundheit zu gratulieren und der Beibehaltung ihres Lebensstils zuzustimmen. So viel zum Phänomen Maria Pervich.
Wen kann es da wundern, daß sich die resolute Person auch standhaft weigert, den Magen ihres Dienstgebers zu schonen? Obwohl Emmerich Kálmán – es ist Oktober 1953 in Paris – schon sterbenskrank ist, wartet ihm die Köchin alle seine Leibspeisen auf: Würstelsuppe, Stubenküken mit Gänseleber, Fruchtreis mit Schokoladesauce, Champagner.
Der Meister dankt es ihr auf seine Weise: Als er wenige Wochen später stirbt und kurz darauf sein Testament eröffnet wird, stellt sich heraus, daß auch die heißgeliebte Köchin unter den Erben ist. Er hat verfügt, daß Maria Pervich bis an ihr Lebensende zu versorgen ist.
Yvonne, ihr erklärter Liebling unter den drei Kálmán-Kindern, ist es, die dafür sorgt, daß Vaters letzter Wille erfüllt wird: Sie nimmt, als der Pariser Haushalt aufgelöst wird, Maria Pervich mit nach Amerika, wo sie sich für ihr weiteres Leben niederläßt, und erst, als die alte Köchin das 90. Lebensjahr erreicht, kommt bei dieser so etwas wie Heimweh auf: Sie äußert den Wunsch, zum Sterben in ihr Geburtsland Ungarn zurückzukehren.
Yvonne bietet sich ihr als Begleitung an und nimmt dafür sogar in Kauf, daß ihr unter Umständen die Rückreise in die USA verwehrt wird. Es ist zu der Zeit, da Amerikaner, die sich auf einen der kommunistischen Staaten einlassen, auf die »watch list« gesetzt werden. Dank bester Beziehungen mit den zuständigen Behörden gelingt es Yvonne Kálmán jedoch, eine Ausnahmegenehmigung zu erwirken, und so steht der geplanten Reise in Maria Pervichs Heimatgemeinde Vichny nichts im Wege.
Ein Jahr später wiederholt sich das Spiel: Maria Pervich teilt Yvonne Kálmán brieflich mit, sie halte es mit ihren ungarischen Verwandten nicht länger aus, sie komme um vor Sehnsucht, man möge sie so rasch wie möglich aus Vichny wieder herausholen.
Yvonne steigt also ein weiteres Mal ins Flugzeug, reist von Los Angeles nach Budapest und bringt die alte Frau nach Amerika zurück. Dort bleibt sie bis zu ihrem 100. Geburtstag, und erst, als sie zwei Jahre darauf die Gewißheit verspürt, daß es mit ihr zu Ende geht, bittet sie ihre geliebte »Yvonka« ein allerletztes Mal um ein Flugticket. Diesmal ist die Heimkehr in ihr Geburtsland Ungarn endgültig: Ohne in ihrem biblischen Alter jemals krank und ärztlichen Beistandes bedürftig geworden zu sein, stirbt sie in Vichny – betrauert von ihren Verwandten, vor allem aber von den Kálmáns, die in allen ihren Memoirenwerken der Unvergleichlichen ein Denkmal setzen werden.