Читать книгу Die guten Geister - Dietmar Grieser - Страница 7
Vorwort
ОглавлениеWäre Vicki Baum ohne den Vorfall mit dem angebrannten Milchreis keine Schriftstellerin geworden und schon gar nicht die Autorin solcher Weltbestseller wie »Menschen im Hotel« und »Vor Rehen wird gewarnt«? Ist tatsächlich Haushälterin Lisbeth an allem schuld?
Schauen wir uns die Sache aus der Nähe an. Kiel, Frühjahr 1917. Die neunundzwanzigjährige Hedwig Lert geborene Baum, genannt Vicki, hat sowohl ihre Geburtsstadt Wien wie ihren Erstberuf Harfenistin hinter sich gelassen und ist dem Dirigenten Richard Lert, den sie vor wenigen Monaten geheiratet hat, nach Norddeutschland gefolgt, wo sich der zwei Jahre Ältere auf den Posten des Kieler Operndirektors vorbereitet.
Im März 1917 kommt das erste Kind zur Welt. Nicht nur »Kriegsbaby« Wolfgang, sondern auch die junge Mutter leiden unter der allgemeinen Lebensmittelnot. Freunde tun sich zusammen, um Vicki wenigstens am Tag der Taufe mit deren Lieblingsgericht zu verwöhnen: Milchreis. Es grenzt an ein Wunder, daß es ihnen gelingt, sämtliche nötigen Zutaten aufzutreiben: Weder Reis noch Zimt sind zu dieser Zeit »normal« zu haben, auch Zucker und Butter sind knapp.
Lisbeth, die »Perle« des jungen Haushalts, wird mit der Zubereitung betraut. Doch Vickis Vorfreude schlägt in bittere Enttäuschung um, als sie den ersten Löffel zum Munde führt. Zwischen Tränen der Dankbarkeit und ununterdrückbarem Ekel schwankend, ruft sie aus: »Der Milchreis ist ja angebrannt!«
Darauf Haushälterin Lisbeth, leicht verwundert: »Ja, ist denn Milchreis nicht immer angebrannt?«
In diesem Augenblick – so wird sich Vicki Baum Jahrzehnte später in ihrer Autobiographie erinnern – gehen wundersame Gedanken durch ihren Kopf: Gedanken, die nichts Geringeres als die Initialzündung für ihren künftigen Beruf auslösen. Dienstmädchen Lisbeths »Ist denn Milchreis nicht immer angebrannt?« öffnet der Neunundzwanzigjährigen die Augen für die Realitäten des Lebens, für den ewigen Widerstreit von Anspruch und Erfüllung, für die Kluft zwischen Schein und Sein. Sie schreibt: »Die Reise, die verregnet ist, der berühmte Mann, der in Wahrheit enttäuschend langweilig ist, das Kleid, das einem nicht wirklich steht, die große Liebe, die so schäbig endet – diese Kette von komisch-tragischen Ereignissen, die unseren Erwartungen zuwiderlaufen« – ist es nicht genau das, was unser Dasein ausmacht? Und vor allem: Liegen nicht hier die Stoffe, die ein Schriftsteller für seine Werke braucht?
Als Vicki Baum im darauffolgenden Jahr ihre literarische Tätigkeit aufnimmt und 1919 mit dem Roman »Frühe Schatten« debütiert, ist es genau dieses »Rezept«, dem sie bei der Zeichnung ihrer Charaktere, beim Entwurf der Handlungsstränge und bei der Schürzung der Konflikte folgt. Und auch, als sie längst Europa mit Amerika vertauscht hat und sowohl mit ihren Büchern wie mit ihren Filmen zum Weltstar avanciert ist, der sich jeden Luxus, also auch jede Menge Personal leisten kann, wird sie wieder und wieder dankbar jenes Kieler Dienstmädchens gedenken, das ihr vor Zeiten mit seiner schlichten »Kuchl-Philosophie« den Weg zur Schriftstellerei gewiesen hat: Ist denn Milchreis nicht immer angebrannt?
Schon als ich 1981 mein Buch »Musen leben länger« herausbrachte, in dem es um die Rolle der Frau an der Seite des Dichters ging, keimte in mir der Wunsch, eines Tages das Thema auch auf die professionellen Hilfskräfte auszuweiten, die den Künstlern (und nicht nur ihnen) bei ihrer Arbeit zur Seite stehen: die Sekretärinnen und Assistentinnen, die Diener und Gesellschafter und all die anderen, ohne deren treues Wirken so manche künstlerische Höchstleistung nicht zustande käme.
Über etliche dieser dienstbaren Geister sind im Lauf der Zeit eigene Bücher geschrieben worden – etwa über den Mozart-Adlatus Franz Xaver Süßmayr, über Rosa Luxemburgs »Alter ego« Mathilde Jacob oder über den »Hofstaat« des Dichters Hans Fallada (»Wir saßen alle an einem Tisch«).
Andere haben diese Bücher selber verfasst. Ich denke an die berührenden Memoiren von Céleste Albaret, der Haushälterin Marcel Prousts, an die »oral history« der Sigmund-Freud-»Perle« Paula Fichtl, an Jonny Mosers Jugenderinnerungen »Wallenbergs Laufbursche« oder an die spektakuläre Öffnung des »versiegelten Tagebuches« des Thomas-Bernhard-Faktotums Karl Ignaz Hennetmair.
Wieder andere, in jungen Jahren berühmten Künstlern als Sekretär dienend, haben sich später ihren eigenen Platz in der Literaturszene erkämpft: der Reiseschriftsteller Erhart Kästner, der für Gerhart Hauptmann, der Fernsehautor Wolfgang Fleischer, der für Heimito von Doderer, oder der Dichter Peter Rosei, der für den Maler Ernst Fuchs gearbeitet hat.
Für Thomas Mann, Lion Feuchtwanger und Erich Kästner sind ihre Schreibkräfte Hilde Kahn, Hilde Waldo und Elfriede Mechnig ebenso unentbehrlich wie für Anton Bruckner seine Haushälterin Kathi, für Johann Strauß seine Herrschaftsköchin Anna oder für Oskar Werner sein Leibchauffeur Erich Stangl. Goethe muß sich von seinem langjährigen Diener Carl Wilhelm Stadelmann trennen, als dessen Trunksucht jedes weitere Zusammenwirken unmöglich macht. Beethovens Umgang mit seinem stetig wechselnden Personal ist ein einziges Fiasko, und Maurice Ravel klagt, daß ihm »die Prohaska«, seine tschechische Dienstmagd, auf seinem Landsitz bei Rambouillet die Bibliothek geplündert hat.
Ein eigenes Kapitel bilden die dienstbaren Geister jener Prominenten, bei denen sich Berufs- und Privatleben folgenschwer vermischen: Lenchen Demuth, die Karl Marx nicht nur den Haushalt führt, sondern von ihm auch ein Kind empfängt; Küchenmädel Gisela Royes, die Karl Valentins Ehefrau wird; Egon Friedells »Perle« Hermine Schimann, die Zug um Zug auch ihre gesamte Verwandtschaft »einschleust«; oder die Krankenschwester Ida Gebauer, die von Alma Mahlers Kinderfräulein zu deren Hausdame und engster Vertrauter aufsteigt. Der junge Alban Berg »vergreift« sich an der Küchenhilfe des elterlichen Sommersitzes am Ossiachersee: Cupido domesticus hat man jene Konstellation in den noblen Häusern von anno dazumal genannt, wo es zu den unausgesprochenen Dienstpflichten der Mägde gehört hat, den männlichen Familiennachwuchs in der Kunst der körperlichen Liebe zu unterweisen.
Bleiben wir noch einen Moment bei der Literatur: Homer hat mit der Figur der »Schaffnerin« Eurykleia, die den inkognito heimkehrenden Odysseus beim Fußwaschen wiedererkennt, dem Domestikenstand ein immerwährendes Denkmal gesetzt, und Wilhelm Busch verarbeitet die Erfahrungen mit seiner Frankfurter Kurzzeit-Köchin Marie Euler zu der Bildergeschichte von der »Frommen Helene«. Einen Sonderfall bildet der Schweizer Schriftsteller Robert Walser, dem es nie in den Sinn käme, sich von einem anderen Menschen bedienen zu lassen. Im Gegenteil: Er unterzieht sich in jungen Jahren einer eigenen Ausbildung zum Butler und übt diesen Beruf tatsächlich eine Zeit lang aus.
Schon diese erste flüchtige Bestandsaufnahme zeigt: Das Beziehungsgeflecht zwischen Dienstgebern und Dienstnehmern ist – um ein weiteres Mal den oft zitierten Fontane-Topos zu strapazieren – »ein weites Feld«. Und wenn es schon ein so weites Feld ist, wollen wir es nicht bei den Künstlern und deren Helfern belassen, sondern unseren Blick auch den Bereichen Politik, Aristokratie und Kirche zuwenden: Wer war die Frau, die die heimatlos gewordene letzte österreichische Kaiserin durch alle Höhen und Tiefen ihres Lebens begleitet hat? Wieso hat sich die deutsche Ordensschwester Pascalina Lehnert mit ihrem »Regime« im Papsthaushalt Pius XII. so viele Feinde gemacht? Welche Rolle spielen die »private secretaries« am Hof der Königin von England?
Es ist ein scheinbar unauflöslicher Widerspruch: Gilt in unseren emanzipierten Zeiten das Dienen – und gar dessen unterwürfigdevote Spielart – als »out«, als verpönt, ja als menschenunwürdig, so leben wir andererseits, wie uns die Soziologen lehren, in einer wie nie zuvor hochentwickelten Dienstleistungsgesellschaft, von der beide Seiten, Anbieter wie Konsument, gleichermaßen profitieren. Das vorliegende Buch geht diesem scheinbaren Widerspruch an dreißig Beispielen nach, die aus den verschiedensten Bereichen und aus den verschiedensten Zeiten ausgewählt sind. Auch das ist, denke ich, ein Stück Kulturgeschichte.